Ein neues Jahr hat begonnen. Dabei ist das alte noch gar nicht richtig vorbei.
Der Kalender sagt, dass jetzt alles neu beginnt. Dabei ist mein erstes Jahr ohne Kristian im Februar schon zuende.
Dafür, dass ich dachte, ohne ihn nicht leben zu können, geht es mir erstaunlich gut. Ich habe zwar immer noch keinen Job, aber in meinem Wohnzimmer steht das Klavier von Leos Großmutter. Ich bringe Leo das Klavierspielen bei, sie bringt mir das Malen bei, wir trinken Kaffee und machen Spaziergänge. Onkel Hannes kommt zu Besuch und ich besuche Frau Doktor Schneider.
Dafür, dass ich dachte, ohne Kristian wäre alles zuende, fängt es jetzt gerade erst an. Oft habe ich den Gedanken, dass ich mich bei vielen Dingen sehr schnell in die Irre führen lasse. Denn manches ist gar nicht so leicht erträglich und so sehr in Ordnung, wie es zunächst scheint. Dafür sind andere Sachen wahnsinnig schön und erstaunlich in Ordnung, auch wenn sie im ersten Moment unmöglich scheinen.
Wie oft hat Kristian gesagt, ich sei ohne ihn ein Niemand. Wie oft habe ich selbst gesagt, es gibt kein Danach.
Ich fühle mich nicht als wäre ich ein Niemand. Zumindest nicht weniger und nicht mehr als zuvor, aber darauf kommt es nicht an. Vielleicht sind wir alle Jemand und doch Niemand im willkürlichen Lauf der Dinge und der unberechenbaren Laune der Welt. Ich fühle mich frei und freundlich, zeitlos und zufrieden. Fast schon ein bisschen stolz, dass ich es geschafft habe.
Aller Anfang ist schwer, sagen sie. Aber womöglich ist ja doch etwas dran, dass es mit der Zeit ein bisschen einfacher wird. Alles ist anders als vorher. Und wenn man es bedenkt, ist es sogar erstaunlich in Ordnung.
Das erste Jahr danach.
Und es werden hoffentlich noch sehr viele folgen. Dann ist es nicht mehr nur das Jahr danach, sondern in Wirklichkeit das erste Jahr. Das erste Jahr in meinem neuen Leben. Fast als hätte ich schon wieder ein bisschen Geburtstag. In ein paar Tagen jährt sich auch meine Wohngemeinschaft mit Johanna. Ich werde Leonie fragen, ob wir gemeinsam versuchen, einen Kuchen zu backen. Vielleicht können wir auch Onkel Hannes und Frau Doktor Schneider einladen. Dann feiern wir Johannas Jahrestag und im Stillen werde ich ganz bewusst nicht an Kristian denken, sondern an die liebevollen Personen, die in meinem neuen Leben sind.
Und an mich. Denn ich bin genau so wie ich bin erstaunlich in Ordnung.
***
Ein neues Jahr hat begonnen. Mein neues Leben fängt jetzt so richtig an, ich kann es spüren. Auch wenn es draußen stürmt und schneit, so ist mir doch nicht mehr kalt. Johannas Fell ist warm und weich. Leonies Lachen ist hell und sonnig. Onkel Hannes‘ Augen sind liebevoll und sanft. Frau Doktor Schneiders Worte sind gütig und geduldig. Und ich?
Ich spreche. Ich atme. Ich handle. Ich bewege mich. Ich lebe.
Ich bin längst nicht mehr grau, ich werde immer bunter, denn jede kleine Begegnung hinterlässt nicht nur in meiner Erinnerung ihre Spuren sondern malt auch meine Seele in den schönsten Farben an. Rot wie Leonies Haar. Rot wie meine Wangen, wenn wir im Schnee spazieren gehen und sie mich lachend nochmal in eine Schneeballschlacht verwickelt.
Blau wie Onkel Hannes‘ Auto. Blau wie meine beste Krawatte, als er mich zu meinem ersten Konzert seit Jahren fährt und mir herzlichst viel Erfolg wünscht.
Gelb wie Frau Doktor Schneiders Bluse. Gelb wie die Fingerfarbe auf meiner Hand, während ich ein neues Bild auf der großen Leinwand für sie male.
Grün wie Johannas neuer Futternapf. Grün wie das Gras unter meinen Füßen, das ich nur nicht sehen kann, weil gerade Schnee darauf liegt.
Der Schnee wird schmelzen und dann wird es wieder sichtbar sein. Und auch wenn wieder Schnee fällt, weiß ich doch, dass es da ist. Das Gras. Und auch das Gute im Leben, wenn die schlechten Erinnerungen wieder einen Schatten werfen. Wenn die Sonne scheint, braucht man einen Schatten, um sich darin auszuruhen.
Und wenn das Leben nur aus guten Sachen bestehen würde, würde man es vielleicht gar nicht mehr zu schätzen wissen und ohne die Schattenseiten einen Sonnenbrand bekommen.
Mein geheimer Geburtstagswunsch ist in Erfüllung gegangen. Und noch viele andere, für die ich gar keinen Kuchen mit Kerzen gebraucht habe. Den wichtigsten meiner Vorsätze für das neue Jahr habe ich mir auch gemerkt und ich denke, dass es nicht schlimm ist, den zu verraten.
Ich habe mir vorgenommen, dass ich weniger weine und mehr lache. Ich habe mir auch vorgenommen, dass ich weniger nachdenke und mehr erlebe. Aber vor allem habe ich mir vorgenommen, dass ich niemals aufgebe und keine Angst davor habe, nach dem richtigen Weg zurück zum guten Weg zu fragen, wenn ich einmal nicht mehr weiter weiß.
Ich wünsche mir, dass ich auch ohne andere Menschen bunt sein kann. Ich wünsche mir aber trotzdem, dass all die lieben Menschen für immer bei mir bleiben. Aber vor allem wünsche ich mir, dass nach diesem aufregenden ersten Jahr danach noch ganz viele andere folgen, in denen es vielleicht ein bisschen einfacher wird.
Aber auch wenn es nicht immer so leicht war, wert war es die Mühen trotzdem. Ich möchte keine der Erfahrungen missen und keines der Erlebnisse vergessen. Denn alles gehört dazu und macht mich so wie ich bin.
Mit all meinen Macken und schlimmen Erlebnissen bin ich in Ordnung und habe wie jeder Mensch verdient, respektvoll behandelt zu werden und glücklich zu sein.
Und du verdienst das auch.
***
ENDE.
Ende? Nein, nicht wirklich.
Denn es fängt gerade erst an!