Dramatis personae
Diotima von Morra
Léon Carl, Graf von Morra, ihr Vater
Bianca, Diotimas Zofe
Roana, Diotimas ältere Schwester
Rafael von Rodéna, Roanas Gemahl
Francesco Adelardi
Dante Adelardi, sein Vater
Raül, Dantes Gefolgsmann.
Santiago Diaz
Domingas, seine Schwester
Maria, Domingas´ Pflegerin
Darius Katsaros, genannt Belladonna, ehemaliger Gaukler
Leone Savelli, Baumeister und Kriegsingenieur
Ballarin, Bogenschütze
Gianni, Fälscher, ehemaliger Gaukler, Kurier
Ridolfo Peruzzi, Santiagos Rechtskonsulent
Bruder Serlo, Benediktiner
Antonello, Söldnerführer
* Ezzelino da Romano
* Buoso da Duera
* Ghino Ugolino Frescobaldi
* Mastino della Scala
Lombardei, August 1257
»Komm schon, Santi, lass uns eine Rast einlegen«, sagte Gianni. »Belladonna und ich kippen gleich aus dem Sattel vor Müdigkeit. Wie zur Hölle kommst du mit so wenig Schlaf aus?«
»Gewohnheit«, erwiderte der Angesprochene grinsend. »Aber der Beschreibung nach müssten wir bald ein Dorf erreichen.«
»Hühnchen am Spieß, Schinken, Eintopf mit Speck ...«, deklamierte Gianni mit verklärtem Gesicht.
»Denk nicht einmal daran«, schnitt Belladonna ihm das Wort ab. »Wenn der Inhalt deiner Börse ähnlich mager ist wie meiner, können wir uns glücklich schätzen, wenn es für einen Teller dicke Lauchsuppe mit ein paar Bröckchen Speck darin reicht.«
Santiago grinste noch mehr. »Nose e pan, pasto da vilan.«
»Ich bin aber kein Bauer«, gab Belladonna hitzig zurück. »Und ich habe auch nicht vor, wie einer zu essen.«
»Silentium«, befahl Santiago. »Mir fällt schon rechtzeitig ein, wie ich euch gefräßigen Gesellen den Bauch füllen kann.«
»Etwa indem du dich einmal mehr mit Brot und Wein zufriedengibst und uns den Braten überlässt? Ganz ehrlich, Freund, so habe ich mir unsere Partnerschaft nicht vorgestellt.«
Santiago winkte ab. »Ich bin es gewohnt zu fasten«, sagte er. »Wobei die hübsche kleine Ballade, die ich gestern Nacht fertig geschrieben habe, uns eine Mahlzeit sichern sollte.«
»Nun, da hat er recht«, bemerkte Gianni. »Die holde Weiblichkeit liebt seinen spanischen Akzent und die Augenklappe.«
»Hoffentlich gibt es nicht allzu viele eifersüchtige Ehemänner«, murmelte Belladonna.
»Wir werden sehen«, erwiderte Santiago und trieb sein Pferd an.
Sein Wissen über diesen Teil der Lombardei war gering und stammte von einem Wanderprediger, den sie bei ihrer letzten Rast getroffen hatten. Der Mann hatte einige Zeit in Milano verbracht, einer Stadt, deren enorme Größe Santiago sich nur schwer auszumalen vermochte. Fasziniert hatte er den Berichten des Predigers gelauscht, der ihm ein riesiges Gewirr von Straßen und Gassen, von Palästen, Tavernen, Kirchen und Hurenhäusern, von Märkten und Werkstätten beschrieb. Santiago konnte sich nicht vorstellen, mit so vielen Menschen auf engem Raum zu leben. Er war Stille gewohnt und reine Luft zum Atmen und nicht die Kloake einer Stadt. Nun ja, einen kurzen Abstecher würde er wohl aushalten. In diesen kriegerischen Zeiten lechzten die Menschen nach Gesang und Unterhaltung und in der Stadt brachte eine gekonnte Darbietung guten Lohn ein. Die politischen Neuigkeiten, die er unterwegs aufgeschnappt hatte, würde er dort ebenfalls verkaufen können. Und sobald sich Giannis Talent als Fälscher erst einmal an den richtigen Stellen herumgesprochen hatte, würde er sich vor Aufträgen kaum retten können. Ja, Milano war einen Abstecher wert, befand Santiago.
Der staubige Pfad, dem sie bisher gefolgt waren, verbreiterte sich merklich. Tief ausgefahrene Rinnen verrieten die häufige Anwesenheit von Fuhrwerken. Und endlich, nach einer Biegung des Weges lag das erwartete Dorf vor ihnen. Der halbhohe Lehmwall, der es umgab, schien in der Hitze zu beben. Über allem hing ein ockergelber Dunst.
Santiago und seine Gefährten ritten durch die Öffnung im Wall und folgten der mit Unrat übersäten Hauptstraße. Die Häuser wirkten wie ausgestorben, aber es war keineswegs still. Grölende Männerstimmen lärmten durcheinander, dazwischen ertönten zornige Rufe.
»Da stimmt was nicht«, sagte Belladonna.
Santiago glitt aus dem Sattel. »Gianni, versteck dich mit den Pferden hinter dieser Scheune. Wir sehen uns die Sache einmal an.«
Die beiden Freunde eilten eine enge Gasse entlang. Der Lärm steigerte sich, je näher sie der Kapelle in der Mitte des Ortes kamen. Santiago hörte, dass dort jemand verprügelt wurde. Ein lustvolles Grunzen aus der Kehle des Prügelnden begleitete die klatschenden Hiebe. Santiago ging den Geräuschen nach und drückte sich in eine Mauernische, um nicht von dem Dutzend grimmig dreinblickender Söldner bemerkt zu werden, die mit langen Speeren die aufgebrachten Dorfbewohner in Schach hielten. Ein muskulöser Kerl, nackt bis zur Taille, war ordentlich ins Schwitzen gekommen, während er mit dem Metallende eines Zaumzeugs auf einen jungen Burschen einprügelte. Santiago sah zerfetzte Kleider, einen blutigen Körper, der sich stumm und zusammengekrümmt auf den Steinstufen der Kapelle wand.
»Da ist Antonello«, murmelte Belladonna und wies auf einen vierschrötigen, mit übertriebener Eleganz gekleideten Mann, der mit genüsslichem Grinsen die Szene verfolgte. »Er führt einen Haufen beutegieriger Halsabschneider. Der Kerl ist eine Geißel Gottes, das sage ich dir.«
»Dann lernt er heute den Teufel kennen«, erwiderte Santiago grimmig. »Ich brauche meinen Habit.« Er eilte zu den Pferden zurück und erklärte Gianni die Sachlage, während er in die schwarze Tunika eines Benediktiners schlüpfte und sich das Skapulier mit Kapuze über den Kopf zog. Ein Zingulum und eine Gürteltasche vervollständigten den Aufzug. Gianni reichte ihm sein Schwert und wenig später stand er wieder an Belladonnas Seite.
»Halte mir den Rücken frei«, sagte er, drückte dem Freund seine Waffe in die Hand und trat aus dem Schatten der Häuser.
Er bekreuzigte sich hastig, ohne den Blick von der bedrohlichen Gestalt des Söldnerführers zu wenden. Langsam zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht und verbarg die Hände in den weiten Ärmeln seines Habits. Sein Magen krampfte sich zu einem heißen Klumpen zusammen. Beißende Säure stieg ihm in die Kehle. Allmächtiger Gott steh mir bei. Bitte mach, dass mir jetzt kein Fehler unterläuft. Bitte.
»Du musst das nicht tun, Santi«, murmelte Belladonna. »Es geht uns nichts an. Vielleicht wird der Mann zu Recht bestraft.«
»Glaubst du das?«, gab Santiago zurück. »Ich nicht.«
Er kannte die Willkür der Stärkeren. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie es war, sich machtloser zu fühlen als ein Kettenhund. Niemand sollte so etwas aushalten müssen.
Santiago setzte sich in Bewegung. Seine Füße waren schwer wie Mühlsteine, jeder Schritt erforderte eine bewusste Willensanstrengung. Aber er ließ sich nichts anmerken. Schließlich blieb er vor Antonello stehen und grüßte demütig.
»Packt Euch, Bruder«, herrschte der Söldner ihn an. »Ihr habt hier nicht zu suchen!«
»Erlaubt mir, für die Seele Eures Gefangenen zu beten, Domine«, bat Santiago.
Antonello machte eine wedelnde Handbewegung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Von mir aus. Tut, was Euch beliebt.«
»Ich danke Euch, Domine«, murmelte Santiago. Er packte das Zaumzeug bei der Trense, als Antonellos Prügelknecht gerade weit ausholte. Dann schlang er dem Burschen den Lederriemen um den Hals und zog fest zu. Während der Mann beinahe an seiner eigenen Faust erstickte, trat ihm Santiago gegen die Achillesferse, drehte ihm den freien Arm auf den Rücken und rammte ihm ein Knie in die Wirbelsäule. Dann brachte er ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Fall, bis der Kerl mit dem Gesicht auf die Steinstufen prallte. Mit einem schnellen Seitenblick vergewisserte er sich, dass Belladonna den Söldnerführer unter Kontrolle hatte, setzte seinem gefallenen Gegner einen Fuß in den Nacken und drückte Mund und Nase des Knechtes in den Staub. Der Mann wand sich, bis ihn die Kraft verließ. Santiago ließ das Zaumzeug los. »Jetzt!«, rief er.
Belladonna warf ihm sein Schwert zu und geschmeidig wie elegante Tänzer wechselten sie ihre Positionen. Santiagos Schwertklinge sirrte durch die Luft, schlitzte Antonellos kostbare Tunika auf und trennte ihm den Geldbeutel vom Gürtel, der mit einem satten klimpern auf dem Boden landete. Antonello war viel zu langsam. Sein Geldbeutel befand sich in Belladonnas Händen und Santiagos Klinge saß ihm an der Kehle, bevor seine Hand den Griff seines Schwertes erreicht hatte.
»Packt ihn, ihr verblödeten Affen«, schrie Antonello. »Nun macht schon!«
Die Söldner schienen nicht zu wissen, welcher Bedrohung sie zuerst entgegentreten sollten – dem aufgebrachten Mob der Dorfbewohner, deren vereinzelte Unmutsäußerungen sich zu zischendem Getuschel gesteigert hatten, oder dem seltsamen Mönch, der ihren Anführer bedrohte. Sie entschieden sich für den Mob. Mochte ihr Hauptmann doch sehen, wie er aus seiner Klemme wieder herauskam.
Die ersten Steine flogen. Die Söldner rissen ihre Schilde hoch, um den Hagel aus Kohlköpfen, Steinen und Eiern abzufangen, der nun auf sie niederging.
»Zeit für dich, nach Hause zu gehen«, sagte Santiago zu Antonello. »Gib den Befehl zum Rückzug.«
»Pack dich, Mönch!«, kreischte der Hauptmann.
»Mit einem Schwert an der Kehle ist das allen Ernstes dein Vorschlag?«
»Fahr zur Hölle!«
Santiago übte mit der Schwertspitze genügend Druck aus, um einen Tropfen Blut hervorzulocken. »Nach dir«, sagte er. Energisch drückte er fester zu und drängte seinen Gegner rückwärts auf die anderen Söldner zu. Mit der freien Hand zog er sich dabei Kapuze und Augenklappe vom Kopf.
Antonello tummelte entsetzt zurück und riss die Augen auf.
Santiago langte in seine Gürteltasche und schleuderte dem Söldner eine Mischung aus Dreck, Asche und einem hellen Pulver entgegen.
Antonello schrie wie ein Schwein beim Anblick des Metzgers und schlug sich die Hände vor die Augen. Erschrocken fuhren die Söldner herum und sahen sich unvermutet einem Wesen aus der Unterwelt gegenüber. Santiago stand mit ausgebreiteten Armen da, von Ascheflocken der Höllenfeuer umweht, seine weiten Ärmel flatterten wie Schwingen, ein dämonisches Grinsen verzerrte seinen Mund und sein Auge ...
Das war zu viel. Die Söldner ließen ihre Speere fallen und nahmen die Beine in die Hand. Sie drängten sich rücksichtslos durch die Dorfbewohner, stießen beiseite, wer nicht schnell genug auswich, und trampelten über diejenigen hinweg, die das Pech hatten, zu Boden gerissen zu werden.
Belladonna rannte zu dem kreischenden Antonello, trennte ihm mit seinem Messer Schwertgurt und Leibriemen durch, schnappte sich die Waffe und sah mitleidslos grinsend zu, wie der Söldner über seine auf die Knöchel gerutschte Unterhose stolperte und der Länge nach hinschlug.
»Schnell jetzt«, zischte Santiago. »Nichts wie weg.«
Sie griffen dem verprügelten Mann unter die Arme und zerrten ihn zwischen die Häuser zu den Pferden. Gianni war inzwischen nicht untätig gewesen. Grinsend verkündete er, dass er die Pferde der Söldner ausfindig gemacht, die Sattelgurte zerschnitten, einige Satteltaschen geplündert und eines der Rösser entführt habe. Mit Belladonnas Hilfe hievte er den stöhnenden Burschen in den Sattel. Wenige Augenblicke später preschten die Männer durch die Öffnung im Wall.
Santiago schlug den Weg in die Berge ein. Dort gab es dichten Wald, der ihnen gute Versteckmöglichkeiten bot, falls Antonello sich entschloss, sie zu verfolgen.
Sie ritten die Nacht durch und rasteten in den frühen Morgenstunden an einem kleinen Bachlauf. Belladonna wusch die Wunden des jungen Mannes mit Wein, während Gianni aus den Vorräten der Söldner eine Mahlzeit zusammenstellte.
Santiago trug wieder seine Augenklappe und war damit beschäftigt, Asche und Staub aus seinem Habit zu schütteln. Schließlich verstaute er ihn sorgfältig in einer Lederhülle und wandte sich seinen Begleitern zu.
»Wie heißt du?«, fragte er den jungen Mann.
»Leone. Leone Savelli, Bruder.«
»Mein Name ist Santiago Diaz. Ich bin kein Bruder.« Nicht mehr.
»Aber Euer Habit ...«
»Nur eine Verkleidung.« Tja, Bruder Franziskus, du hattest recht. Mein Habit war nie mehr als eine dünne Tünche. Die Sache gestern hat mir viel zu viel Spaß bereitet.
»Was hat dich in dieses Dorf geführt, Leone?«
Leone zuckte vorsichtig die Schultern. »Ich war auf der Durchreise nach Milano. Messèr Dante Adelardi sucht einen fähigen Baumeister. Ich dachte, die Arbeit könnte etwas für mich sein.«
Santiago zögerte kaum merklich. »Dante Adelardi? Wer ist das?«, fragte er in betont beiläufigem Ton.
»Ihr seid nicht von hier, Messèr Diaz, das merkt man. Dante Adelardi ist ein reicher Kaufmann und Geldhändler mit Häusern in Milano und Verona. Der Name Adelardi hat hier in der Gegend einen guten Klang. Messèr Adelardi hat einen Sohn, der die Niederlassung in Verona führt.«
Santiago rieb sich das Kinn. »Erzähl weiter. Wie bist du mit Antonello aneinandergeraten?«
»Ich hatte gerade einen Imbiss erstanden und setzte mich auf das Mäuerchen bei der Kapelle, um ihn zu verzehren. Einer der Söldner erschien und begann sogleich die Frauen am Brunnen zu schikanieren. So etwas kann ich nicht mitansehen, ohne mich einzumischen.«
»Oha«, murmelte Belladonna. »Kommt dir das nicht sattsam bekannt vor, Gianni?«
Gianni nickte kauend.
»Nun ja, den Rest könnt Ihr Euch sicher denken«, fuhr Leone fort. »Der Söldner rief seine Kumpane herbei und sie fielen über mich her. Ohne Euer Eingreifen wäre ich wohl nicht mehr am Leben.«
Santiago winkte ab. »Willst du immer noch nach Milano?«
»Wenn ich essen will, brauche ich Arbeit. Die finde ich am besten in der Stadt.«
Santiago musterte ihn nachdenklich. »Du könntest bei uns bleiben. Jede Compagnia, die etwas auf sich hält, braucht einen Kriegsingenieur und Baumeister.«
»Äh, Santi ... wir haben keine Compagnia«, sagte Belladonna.
»Wir werden eine gründen«, gab Santiago zurück. »Eine Compagnia, deren Kampfkraft und Disziplin legendär sein wird und die kein ehrbares Weib, kein rechtschaffener Mann jemals fürchten muss. Bist du dabei, Leone Savelli?«
Leone schüttelte den Kopf. »Seid mir nicht gram, aber ich fürchte, Ihr seid ein Träumer, Messèr Diaz.«
»Oh nein«, sagte Belladonna. »Santi mag ein bisschen verrückt sein, aber er ist kein Träumer. Was er verspricht, das hält er. Was er sagt, tritt ein. Wir gründen eine Compagnia. Ich bin dabei.« Er streckte die Hand aus und Santiago ergriff ihn beim Handgelenk.
»Ich auch.« Gianni legte seine Hand auf die seiner Kameraden.
»Also gut«, sagte Leone. »Ihr gefallt mir, Santiago. Ich schließe mich an.«
»Jetzt brauchen wir ein Motto«, stellte Belladonna fest. »Und einen Namen.«
»Das Motto habe ich schon«, erwiderte Santiago. »Nunquam retrorsum. Niemals zurück.«
Belladonna verzog spöttisch den Mund.
»Was denn, gefällt es dir nicht?«, fragte Santiago.
»Doch, doch. Ich frage mich nur, wem du damit gerade den Kampf angesagt hast.«
Santiago lächelte grimmig. Wie so oft wusste Darius Bescheid, dass sich hinter seinen Worten mehr verbarg, als es den Anschein hatte.
Jawohl, dachte er. Dante Adelardi schuldet mir etwas, und bei Gott, er wird für diesen Diebstahl bezahlen.