»Du arbeitest zu viel, Santi«, sagte Domingas. Sie saß in einen Sessel vor dem Kamin und betrachtete sein Profil. Er hatte einen Teller mit Fleischspeisen auf dem Schreibtisch stehen und während er aß, hakte er mit der Schreibfeder in der anderen Hand eine lange Reihe von Zahlen ab.
»Darf ich dich etwas fragen, Santi?«
Er sah kurz zu ihr hinüber und nickte. »Nur zu.«
»Woher kommt dein neuer Waffenmeister?«
»Darius hat ihn in Verona getroffen. Er kennt Rafael aus Venedig und dachte, er könne uns nützlich sein.«
»Und? Ist er nützlich?«
»Ja, in der Tat. Ein fähiger Mann. Er versteht sein Handwerk.«
»Er beobachtet Ima, Santi.«
Santiago legte die Feder weg und wandte ihr das Gesicht zu. »Tritt er ihr zu nahe?«
»Nein, nein. Es ist eher, als ob er ... auf sie aufpasst.«
»Nun, das wäre ja nicht das Schlechteste, oder?«
»Ich weiß nicht. Es stört mich. Dich nicht?«
»Nein.«
»Solltest du Ima nicht ein wenig mehr Fürsorge entgegenbringen?«
»Auch wenn du es nicht gerne hörst, Domingas: Ima kann Bemutterung nicht ausstehen.«
»Leone sagt, im Moment sei es möglich, sie nach Hause zu schicken.«
»Erzähl ihr von dieser Idee, und du wirst feststellen, dass sie es erst recht nicht gerne hört.«
»Ich weiß«, gab Domingas zurück. »Und dennoch scheint es mir die einzig sinnvolle Lösung.«
Santiago seufzte verstohlen. »Du redest jetzt schon eine Weile um den heißen Brei, pedazo de mi alma. Was quält dich?«
»Ima ist traurig, Santi.«
»Hat sie sich bei dir beklagt?«
»Ima? Natürlich nicht. Aber man merkt es ihr an. Warum hast du ihren Bogen zerstört? Hat es mit dieser barbarischen Gürtelschnalle zu tun, die du nur dann trägst, wenn du glaubst, dass ich es nicht bemerke?«
Santiago schwieg eine ganze Weile und Domingas konnte deutlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. »Einmal mehr beweist du mir dein geradezu unheimliches Talent, mich zu durchschauen«, sagte er schließlich. Seine Stimme war ausdruckslos, aber der Blick, mit dem er Domingas maß, fühlte sich an wie ein Dorn, der sich in ihre Brust bohrte. Es wäre einfacher gewesen, das Thema fallen zu lassen, dennoch sagte sie: »Demnach stimmt es.«
Wieder verging eine kleine Ewigkeit, bevor Santiago erwiderte:»Ich werde dir darauf nicht antworten.«
»Das dachte ich mir.« Sie erhob sich zögernd, ging zu ihm hinüber und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Du glaubst, das Onkel Dante hinter dem Anschlag auf mich steckt, und ich gebe zu, der Gedanke ist nicht einmal so abwegig. Er ist weitaus skrupelloser als Francesco. Deine schiere Existenz ist ihm ein Gräuel und es gibt wenig, was er nicht tun würde, um dich zu treffen. Ich denke, das solltest du wissen.«
»Sein unbesorgt. Dantes Hass ist mir nicht neu. Und er beruht auf Gegenseitigkeit. Glaub mir, inzwischen bin ich ihm gewachsen.«
»Nein«, widersprach Domingas energisch. »Was ich beim letzten Zusammentreffen in seinen Augen gesehen habe, ist etwas, dessen du überhaupt nicht fähig bist. Sein Hass auf dich hat etwas Beängstigendes. Es kommt mir wie eine Besessenheit vor. Du musst dich vor Dante hüten, Santi. Wenn es um dich geht, kennt er keinerlei Mäßigung mehr.«
Santiago lachte in sich hinein, aber Domingas hörte, wie bitter es klang.
»Mäßigung?«, wiederholte Santiago. »Wann hätte er jemals welche besessen? Er hat Mutters Notlage gnadenlos ausgenutzt, um sich in facto die Kontrolle über den Besitz der Cabrera zu sichern.«
»Mutter hatte die Wahl, in den Schoß ihrer Familie zurückzukehren oder sich wieder zu verheiraten. Nach ihren Erfahrungen mit Vater entschied sie sich für die Option, die ihr weniger bedrohlich erschien.«
»Mag sein. Aber sie hätte wissen müssen, wie die Sache endet. Dante war schon immer ein prinzipienloser Mistkerl.«
»Ist das der Grund, warum du Ima behandelst, als sei sie Luft, Santi? Weil du Angst hast, durch sie erpressbar zu werden?«
Santiago stand abrupt auf, um sein Journal ins Regal zurückzustellen. Dabei kehrte er ihr den Rücken zu, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte.
Domingas hütete sich, einen Kommentar abzugeben. Ihr Bruder interessierte sich mehr für Ima, als ihm bewusst war und daran wollte sie nicht rühren. Ihrer Ansicht nach war Ima die richtige Herrin für das Valle del Tasso. Besser geeignet, das Haus eines Soldaten zu führen, als sie selbst es jemals sein würde. Solange Francesco seine Gemahlin nicht in die Finger bekam, um die Ehe zu vollziehen, bestand eine gute Chance, die Verbindung für ungültig erklären zu lassen. Sie musste nur dafür sorgen, dass Ima in Santiagos Obhut blieb und die beiden möglichst viel Zeit miteinander verbrachten. Und dabei musste Leone ihr helfen.