Seit sie aufgebrochen waren, hatten weder Santiago noch Belladonna ein Wort gesprochen.
Leone war es recht. Seine Arbeit konnte er ohnehin nicht in Angriff nehmen, bevor er das Haus gesehen hatte, und für müßiges Geplauder war er zu dieser frühen Stunde nicht zu haben.
In einer geordneten Marschkolonne bewegten sie sich durch die sommergrüne Landschaft. Die Luft war angenehm frisch und die Hitze der vergangenen Woche schien nur eine ferne Erinnerung.
Belladonna wirkte tief in Gedanken. Er benutzte seine Finger, um irgendetwas abzuzählen, und bewegte dabei lautlos die Lippen. Leone beobachtete ihn aufmerksam. Seit Wochen versuchte er, herauszufinden, wie es dem Venezianer gelang, ganze Zahlenkolonnen im Kopf zu addieren. Er wandte eine Methode an, die mit neun Zahlen und einem als null bezeichneten Kreis auskam. Angeblich hatte er diese neuartige Rechenmethode in Venedig gelernt, doch Leone bezweifelte, dass dieses Wissen so leicht zugänglich war, wie Belladonna vorgab. Nun ja, er würde es schon noch herausfinden.
Leones Blick glitt zu seinem Capitano. Santiago hatte die Finger über dem Sattelknauf verschränkt, wie zum stillen Gebet. Er wirkte nach innen gekehrt und der Hauch eines Lächelns umspielte seinen Mund. Leone hatte Andeutungen aufgeschnappt, die besagten, Santiago habe einen Teil seines Knabenalters in einem Kloster verbracht. Leone nahm an, dass es stimmte, denn sobald der Capitano in den schwarzen Habit schlüpfte, verwandelte er sich so vollständig in Bruder Santino, dass es sich unmöglich um eine einstudierte Rolle handeln konnte.
Leone unterdrückte ein Seufzen. Santiago betrachtete den Habit als eine Art Talisman. In Leones Augen war es nicht mehr als ein Stück Stoff und er sprach jedes Mal ein inbrünstiges Dankgebet, wenn Santiago von einer seiner tollkühnen Unternehmungen unbeschadet zurückkehrte. Zu seiner ungeheuren Erleichterung war es inzwischen leichter, gute Männer zu rekrutieren. Die Compagnia der Skorpione hatte sich einen gewissen Ruf erworben, der ihnen so viel Zulauf bescherte, dass sie es sich erlauben konnten, wählerisch zu sein. Aber noch war ihre Zahl überschaubar. Was Santiago im Kopf hatte, war ein schlagkräftiges Söldnerheer, das seinen Preis selbst bestimmen konnte, mit einer eigenen Verwaltung, einem Rat, einem Schatzmeister und einen Rechtsberater, gerade so, wie ein Stadtstaat. Diese Kompanien waren so schlagkräftig, weil die Männer zusammenblieben und einander kannten. Sie waren weniger anfällig für Bestechung und blieben nicht einfach weg, wenn die gegnerische Seite ihnen Geld dafür bot. Ja, Santiago hatte fest umrissene Pläne und er verfolgte sie mit einer Zielstrebigkeit, die Leone uneingeschränkte Bewunderung abnötigte. Und er duldete keinerlei Nachlässigkeiten.
Leone seufzte erneut und machte sich in Gedanken daran, die Aufgaben zu ordnen, die ihn im neuen Quartier erwarten würden.
Santiago wandte ihm das Gesicht zu. »Ich sehe, du bist unzufrieden mit mir, weil ich das Haus erworben habe, ohne dich zu konsultieren«, bemerkte er. »Ich habe es für meine Schwester gekauft. Du wirst einfach das Beste daraus machen müssen.«
Leone hob den Kopf. »Ich verstehe. Danke ... für deine Offenheit. Du wirst keinen Anlass zur Klage haben.«
Plötzlich erstrahlte Santiagos Gesicht in einem Lächeln. Leone kam es vor, als sei unerwartet die Sonne hinter düsteren Wolken hervorgekommen. Alle Müdigkeit war aus Santis Zügen gewichen. Und aus irgendeinem Grund schien er erleichtert.
»Ich musste das Wohlergehen meiner Schwester über die Belange der Skorpione stellen. Domingas braucht Schönheit und einen Ort, an dem sie sich beschützt fühlen kann. Oh, sicher, eine einzelne Frau unter Söldnern mag nicht gerade die ideale Konstellation sein. Aber ich wollte, dass sie unter Freunden ist, die sich im Bedarfsfall gegen alle Widrigkeiten auf ihre Seite stellen. Du, Leone, wirst den Männern ein Beispiel sein, dem sie gerne nacheifern.«
»Aber ... aber ich habe nichts getan, um dein Vertrauen in dieser Sache zu verdienen. Ich hatte noch nie Umgang mit hochgeborenen Damen. Du solltest vielleicht lieber ...«
Santiago grinste. »Ich bin beinahe geneigt, zu glauben, dass der unerschrockene Abenteurer Leone sich vor einer jungen Frau ängstigt.«
Leone senkte den Blick. Wenn er Santiago weiterhin gestattete, ihm in die Augen zu sehen, würde der Capitano wissen, dass er in der Tat Unbehagen empfand. Nicht, weil er sich vor der Verantwortung fürchtete, sondern angesichts des enormen Vertrauens, das sein Anführer in ihn setzte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelt er.
Santiago lächelte. »Das sollte dir in Domingas‘ Gegenwart besser nicht allzu oft passieren.« Damit gab er seinem Pferd die Sporen und preschte im Galopp davon.
Die Skorpione folgten ihm johlend. Bald mussten sie ihre Rösser jedoch wieder zu einem langsameren Tempo zurückkehren lassen. Die Straße führte jetzt sanft abwärts und lief in einem Bogen auf den Eingang des Valle del Tasso zu.
Leone hing seinen Gedanken nach und machte einen Satz im Sattel, als sich von der Seite her Santiagos Hand um die seine schloss und ihn zum Anhalten veranlasste.
»Verdammt, Leute, riecht ihr das?«, fragte Belladonna. »Rauch!« Er trieb sein Pferd vorwärts. Kaum war er um die Biegung des Weges verschwunden, hörten sie seinen Schrei. »Santi! Schnell! Das Haus brennt!«
»Darius! Nimm dir zwanzig Männer und sichere die Straße!«, befahl Santiago. »Der Rest kommt mit mir!«