Als Diotima endlich aus ihrem Gefängnis befreit wurde, war ihre Laune auf dem Tiefpunkt angekommen. Sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt von einem Tag, den sie mit fruchtlosen Grübeleien zugebracht hatte. Ein Gutteil ihres Ärgers richtete sich dabei gegen sich selbst. Vor der verhängnisvollen Jagd hatte sie stets danach getrachtet, sich mit den wechselnden Allianzen der Städte und Contrade im Einflussbereich ihres Vaters auszukennen. Nach dem Unfall war ihr dieses Wissen unwichtig erschienen. Sie hatte kaum hingehört, wenn Graf Leon ihr Neuigkeiten berichtet hatte, in der Hoffnung, ihre Lebensgeister zu wecken. Gleichwohl erinnerte sie sich an die Bewunderung ihres Vaters für die Disziplin und Schlagkraft der Skorpione. Den Anführer dagegen umgab ein Enigma. Die einen nannten ihn einen Mönchsritter, die anderen hielten ihn für einen Abkömmling des Teufels. Diotima war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass er eher wie ein Jüngling wirkte, der weit von der Mündigkeit entfernt schien. Was hatte ihren Gemahl bewogen, ausgerechnet ihm das Valle del Tasso zu verkaufen?
Der Skorpion namens Belladonna führte sie in die Wohnhalle, komplimentierte sie auf einen der Stühle vor dem Kamin und brachte ihr Wein. Fulco war da und Leone Savelli, Baumeister und Kriegsingenieur der Compagnia. Vom Anführer der Truppe war nichts zu sehen.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Belladonna und Leone zu, die sich angeregt unterhielten. Die Männer bemühten sich höflich, sie in die Unterhaltung einzubeziehen, doch ihre Antworten fielen so knapp aus, dass sie es schnell wieder aufgaben.
Dann kam der Mann mit der Augenklappe herein. Das veränderte die Halle. Jetzt gehörte sie plötzlich jemandem – dem Anführer der Skorpione. Bisher war der leicht angestaubte Raum mit den nachlässig polierten Silberleuchtern nicht mehr gewesen, als ein zweckdienlicher Versammlungsort. Mit dem Eintritt des Einäugigen wandelte sich die Wohnhalle zum glanzvollen Rahmen seiner Erscheinung. Elegant und weltmännisch, im dunkelroten, mit Goldstickerei verzierten Surcot, trat er näher, ohne Diotima auf dem großen, hochlehnigen Stuhl eines Blickes zu würdigen. Verblüfft und ein wenig hilflos starrte sie ihn an.
Sein nachlässig zusammengebundene, schwarze Mähne schimmerte im Kerzenlicht wie der Flügel eines Raben. Sein rechtes Auge wurde von einer Augenklappe verdeckt, das linke, goldbraune lag tief unter einer gewölbten Braue, gesäumt von ebenmäßigen Wimpern. Die Strenge seiner Oberlippe wurde durch die Sinnlichkeit der vollen Unterlippe gemildert. Um seinen Mund spielte ein feines Lächeln, belustigt und spöttisch zugleich. Ein Gesicht, das alles in sich vereinte: Kraft und Gefühl, Grausamkeit und Zärtlichkeit. Als er sich abwandte, um den Pokal in Empfang zu nehmen, den Belladonna ihm reichte, konnte sie seine ausgeprägten Wangenknochen, sein klassisches Profil bewundern.
Als spürte er ihre Neugier, wandte er sich ihr zu und musterte sie. Sie wich seinem Blick aus, schlug die Augen nieder.
»Auf unsere dornige Rose«, sagte er und hob den Kelch. Die Hände waren sehnig und männlich, und doch war jede seiner Gesten die Eleganz selbst.
»Ich ziehe Diana, Göttin der Jagd vor«, erwiderte Ima leichthin und hob ebenfalls den Pokal.
Fulco sprang auf. »Ich protestiere gegen diese Behandlung! Ihr habt kein Recht, Monna Adelardi in ihrem eigenen Haus wie eine Gefangene zu halten. Wer seid Ihr überhaupt?«
»Stell mich vor, Leone«, bat der Anführer der Skorpione in gelassenem Ton. Sie hatte vermutet, dass er spanischer Herkunft war und sein Name, Santiago Diaz, bestätigte ihr diese Annahme.
»Als mein Konsulent vor sieben Tagen mit Francesco Adelardi sprach, war er nicht verheiratet«, sagte Santiago. »Wie kommt es, dass er plötzlich eine Ehefrau hat?«
»Die Trauung fand vor vier Tagen statt«, warf Fulco ein. »Eine Ferntrauung. Die Urkunde ist bezeugt und gesiegelt.«
»Meinen Glückwunsch«, spöttelte Santiago. »Leider macht es die Signora nicht zur Herrin dieses Anwesens. Ich habe es Francesco Adelardi vor einer Woche abgekauft. Die Urkunde ist bezeugt und gesiegelt. Dieses Land, mit allem, was darauf ist, gehört mir.«
Fulco schüttelte den Kopf. Er war blass geworden. »Das ist nicht möglich. Messèr Francesco wollte hier mit seiner neuen Gemahlin zusammentreffen. Er hatte keinesfalls den Wunsch, zu verkaufen.«
»Ich fürchte, Adelardi hat sich mit Leuten eingelassen, mit denen man besser keine Geschäfte macht«, erwiderte Belladonna. »Er benötigte dringend eine größere Summe in Gold. Messèr Diaz war der Einzige, der Willens und in der Lage war, ihm auszuhelfen. Selbstredend nicht unentgeltlich. Adelardi ist für einen gewissen Hang zur Verschwendung bekannt.«
Fulco bestritt dies in aufgebrachtem Ton und darüber entspann sich ein hitziges Streitgespräch zwischen den beiden Männern.
Santiago beachtete sie nicht. Er lehnte in nachlässiger Haltung an der Tischkante und sein Gesicht unter der schwarzen Augenklappe zeigte keine Regung.
Diotima streckte ihm ihren Pokal entgegen. Er folgte ihrer stummen Aufforderung und schenkte ihr nach. Bedächtig trank sie einen Schluck und musterte ihn dabei über den Rand ihres Trinkgefäßes. »Ich möchte den Kaufvertrag sehen«, sagte sie.
»Selbstverständlich.« Er schnippte mit dem Finger, um Belladonnas Aufmerksamkeit zu erregen, und verlangte die Urkunde. Ima entrollte das Blatt und studierte den Text und die Siegel.
»Leone kann Euch den Inhalt erläutern«, sagte Santiago. Anscheinend hielt er ihre gerunzelte Stirn für Unverständnis.
»Nicht nötig«, beschied sie ihm knapp. »Die Formeln eines Kaufvertrages sind mir durchaus geläufig.«
Und zu ihrem Ärger fand sie am Wortlaut des Vertrages nichts auszusetzen. Blieb die Frage, warum ihr Gemahl seine Gläubiger nicht vertröstet hatte, bis sie mit ihrer Mitgift eingetroffen war. Diotima rollte die Urkunde zusammen und gab sie Santiago zurück.
»Zufrieden?«, fragte er.
»Nun, an dem Vertrag gibt es nichts auszusetzen. Dennoch - die ganze Angelegenheit erscheint mir merkwürdig. Warum diese unziemliche Eile?«
»Das weiß ich nicht«, gab er zurück. »Euer Gemahl sprach von einer unerwarteten Notlage und da ich gerade flüssig war, kamen wir zu einem Abschluss.«
»Flüssig. Ihr. Ein Söldner.«
»Und Kaufmann, Monna Adelardi.«
»Von welcher Summe sprechen wir hier eigentlich?«
Ein kleines, maliziöses Lächeln lief über Santiagos Züge. Er nannte einen Betrag, der Diotima die Sprache verschlug.
Mit zitternden Fingern stellte sie ihren Weinkelch auf dem Boden ab. »Ich kaufe das Gut zurück«, sagte sie mit einer Stimme, die selbst in ihre Ohren unnatürlich hoch klang.
Schweigen. »Warum?«, fragte Santiago.
»Ich brauche ein Dach über dem Kopf.«
»Da, wo Ihr herkommt, hattet ihr eins.«
»Ich will meinen eigenen Haushalt.«
»Sucht ihn Euch anderswo.«
Sie schoss von ihrem Stuhl hoch. »Ich will aber dieses Haus -« Ima fand, es klang ein wenig würdelos und wählte eine andere Formulierung. »Verweigert mir den Rückkauf und ich komme zurück.« Das Blut stieg ihr in den Kopf. »Mit einer Armee.«
Santiago lachte sie einfach aus.
Ima starrte ihn einen Moment lang empört an, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Das war keine sonderlich geistreiche Bemerkung, nehme ich an. Aber Ihr müsst zugeben, meine Lage ist nicht gerade alltäglich.«
»In der Tat. Was soll ich jetzt mit Euch anfangen?«
»Ihr könntet Messèr Adelardi benachrichtigen, damit er uns neue Anweisungen für die Weiterreise zukommen lässt«, sagte Ima.
»Ich fürchte, das geht nicht«, entgegnete Santiago und verschränkte die Arme.
Ima spürte ihr Herz rasen. Sie war einer Panik nahe. Was, wenn er ihr nicht helfen wollte, ihren Mann zu finden? Sie konnte unmöglich wie ein geprügelter Hund nach Morra zurückkehren und ihrem Vater um Hilfe bitten. Diese Peinlichkeit würde ihr Stolz nicht überleben. Sag es nicht, sag es nicht, sag es nicht, dachte sie flehentlich, süßer Jesus, mach, dass er mir hilft, meinen Gemahl zu finden ...
Aber offenbar waren die himmlischen Heerscharen anderweitig beschäftigt. »Ihr werdet mit meiner Gastfreundschaft vorliebnehmen müssen«, bestimmte Santiago. »Ich kann Euch leider nicht abreisen lassen.«
»Du meine Güte ... Ihr könnt uns doch nicht einfach gefangensetzen«, mischte sich Fulco ein. »Das widerspricht jedem Gebot von Ehre und Anstand.«
»Die Leute bezeichnen mich als wahren Sohn des Teufels«, erwiderte Santiago. »Und da fordert Ihr ausgerechnet von mir Ehre und Anstand? Macht Euch nicht lächerlich.«
»Ist das Euer letztes Wort, Messèr Diaz?«, fragte Ima leise. »Es gibt nichts, womit ich Euch umstimmen könnte?«
»Euer Gemahl steht in dem Verdacht, dieses Haus in Brand gesteckt zu haben, damit ich es nicht bekomme«, sagte er. »Ihr seid meine beste Rückversicherung, dass er es nicht noch einmal probiert.«
Ima erstarrte. Da war es. Samt über Stahl. Der Mann war weitaus gefährlicher, als sein joviales Verhalten vermuten ließ. Ihre Finger schlossen sich fester um den Griff ihres Stockes.
Santiago bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze. Ohne Rücksicht auf den schockierten Protest Fulcos, trotz Leones Ruf und Belladonnas hämischem Gelächter schlang er einen Arm um ihren Körper, entriss ihr blitzschnell den Stock, warf ihn Leone zu und war schon wieder zurückgetreten, bevor ihr erhobener Fuß sein Ziel erreichte.
Ein schmales Lächeln erschien auf Santiagos Gesicht. »Habe ich es nicht gesagt?«, bemerkte er launig. »Unsere Rose ist dornig.«
Diotima starrte ihn an. Etwas – irgendetwas an Santiago war merkwürdig, aber sie konnte nicht den Finger darauflegen. Es musste das Licht des Feuers im Kamin gewesen sein, das sich für einen Augenblick in seinem Auge gespiegelt hatte. Selbst hier im dämmrigen Schatten der Wohnhalle hatte sein Auge ganz kurz golden aufgeleuchtet wie das eines Falken. Sie schauderte.
Ima hatte sich alle möglichen Szenarien ausgemalt, wie das Zusammentreffen mit ihrem Gemahl sein würde, doch hier erfuhr sie Dinge, die sie lieber nicht hören wollte. Von einem Mann, den sie absolut nicht einschätzen konnte. Santiago wirkte tödlich gefährlich und bekümmert zugleich. So als sei ihm das, was er tat, von Herzen zuwider.
»Erwartet Ihr, dass ich Euch glaube?«, fragte sie spöttisch. »Dem Anführer einer verlotterten Truppe von Räubern?«
»Ein loses Mundwerk ist ein gefährliches Laster für eine Frau«, bemerkte er liebenswürdig.
Ihm gegenüber erhob sich Fulco von seinem Sitz, »Das geht jetzt entschieden zu weit, Ihr Flegel«, schnauzte er. »Habt die Güte und besinnt Euch darauf, mit wem Ihr sprecht.«
Belladonna warf ihm einen seltsamen Blick zu, schaute dann kurz zu Santiago und sagte: »Ich frage mich, wie viel Lösegeld wir für sie wohl bekommen würden. Die Ehre seiner frisch angetrauten Ehefrau sollte Adelardi ein paar Münzen wert sein.«
»Hm«, machte Santiago und wiegte bedenklich das Haupt. »Ich weiß nicht, Belladonna. Würdest du für eine solche Kratzbürste bezahlen? Ich glaube, ich wäre froh, sie los zu sein.«
Diotima spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich, und sie brachte kein Wort heraus. Sie hegte den unbezähmbaren Drang, ihn ihre Faust spüren zu lassen und seine selbstherrliche Eitelkeit gehörig zu erschüttern. Stattdessen zwang sie sich zu der gelassenen Haltung, die sie unter der strengen Aufsicht ihres Schwagers so mühsam erlernt hatte.
»Ich durchschaue Euch«, teilte sie ihm mit. »Ihr seid ein Mann, der einen Ruf zu wahren hat, und da macht es sich nicht gut, sich vor den eigenen Männern eins mit dem Stock überbraten zu lassen, habe ich recht? Also denkt Ihr Euch irgendwelchen Unsinn aus, um mich zu demütigen. Konventionell und gütig zu sein wäre ja auch zu langweilig, nicht wahr?«
Santiago sah sie an. »Eure Vorwürfe könnt Ihr Euch sparen«, erwiderte er kühl. »Sie nützen nichts, und ich will sie nicht hören. Ihr bleibt hier, bis ich Euch erlaube zu gehen.«
Diotima spürte ihr Herz bis in die Kehle, und ihre Hände wurden feucht. Mit einem Mal war sie wütend und sie brauchte ihre ganze Beherrschung, um ihre Stimme zu einem ruhigen Tonfall zu senken. »Ich wünsche, zu meinem Gemahl gebracht zu werden.«
»Eure Wünsche gehen mich nichts an«, beschied ihr Santiago brüsk. »Leone wird Euch jetzt Euer Gemach zeigen. Ihr solltet Euch seinen Anweisungen besser nicht widersetzen.«
Damit drehte er sich um und ließ sie einfach stehen.