Ima betrachtete es als glücklichen Umstand, dass Santiago nicht gleich Zeit gefunden hatte, sich um ihre Verlegung in die neuen Gemächer zu kümmern. So hatte niemand etwas von ihrem Anfall mitbekommen. Zu ihrer Erleichterung war der Schmerz schnell wieder vergangen und sie war in der Lage gewesen, den Weg zu ihrem neuen Quartier auf eigenen Beinen zu bewältigen.
Ima schloss das Buch, welches ihr Santiago wie versprochen hatte bringen lassen und legte es auf ihre Truhe. Es war ein hübsch ausgemaltes Stundenbuch und sie war dankbar, dass sie es hatte, weil es ihr half, wenigstens gelegentlich der Langeweile zu entfliehen. Auch an ihrem neuen Gemach gab es nichts auszusetzen. Ein Vier-Pfosten-Bett mit einem hölzernen Baldachin und burgunderrot gefärbten Bettvorhängen dominierte den Raum. Ima hatte ihren Augen kaum trauen wollen, angesichts der dick gefüllten Daunenkissen, die sie darin vorgefunden hatte. Für Bianca gab es ein hölzernes Podest und eine mit Damenstroh gefüllte Matratze. Aber der Gipfel der Dekadenz, fand Ima, war das sündhaft teure Glasfenster. Gewiss stammte es aus einer venezianischen Werkstatt und war dick in Stroh gepackt ins Valle del Tasso transportiert worden.
Ima schüttelte den Kopf. Der verschwenderische Luxus des Gemachs hatte ihr die unliebsame Erkenntnis beschert, warum Francesco Adelardi keinen Widerwillen gegen ihre Gebrechen bekundet hatte. Er brauchte Geld.
Sie warf einen Blick auf ihre Reisetruhe, in der sie den Wechselbrief ihres Vaters aufbewahrte. Sie würde es sich sehr genau überlegen müssen, ob sie ihn ihrem Gemahl jemals aushändigte oder ihn besser gleich im Kamin verbrannte.
Vor ihrem Gemach entstand Unruhe. Einer der Wachsoldaten sagte etwas. Eine Frauenstimme antwortete in strengem Tonfall und ein kräftiges Klopfen an ihrer Tür schreckte Ima endgültig aus ihren brütenden Gedanken auf.
»Das kann doch unmöglich schon wieder eine Mahlzeit sein«, murmelte sie. »Sei so gut und sieh nach, Bianca.«
Das Mädchen eilte zur Tür. Ima vernahm einen leise geführten Wortwechsel und dann führte Bianca die mit einer Laute bewaffnete Sängerin und deren Dienerin, die einen Henkelkorb am Arm trug, in den Raum.
»Ich hoffe, wir stören nicht?«, erkundigte sich die junge Frau. Sie hob die Hand mit der Laute. »Santiago meinte, Ihr hättet gewiss nichts gegen ein wenig Unterhaltung einzuwenden, Monna Adelardi.«
Ima erhob sich überrascht. Der Capitano schickte ihr die Sängerin? Was zur Hölle dachte er sich dabei? »Durchaus nicht«,erwiderte sie reserviert. Sie führte die Frauen zum Tisch am Fenster und forderte sie mit einer Geste auf, Platz zu nehmen.
»Bevor wir uns ein wenig unterhalten, möchte ich mich für unser unhöfliches Verhalten entschuldigen. Sicher haltet ihr uns für ungehobelte Barbaren, nach der rüden Abfuhr, die wir Euch zuteilwerden ließen.«
»Ihr müsst Euch nicht rechtfertigen«, wehrte Ima ab. »Das war einfach der Situation geschuldet. Ich hoffe, es geht Euch inzwischen besser.«
»Ja, danke.« Die Sängerin legte die Laute vorsichtig auf dem Tisch ab. »Meine Genesung macht gute Fortschritte, auch wenn es für meinen Geschmack viel zu langsam geht.«
Ima kam nicht umhin sich zu fragen, wie krank die junge Frau tatsächlich gewesen war. Sie wirkte zerbrechlich wie Glas und unter der straff gespannten Haut waren die Knochen deutlich zu erkennen. Ihre Augen dagegen schienen pausenlos zu lächeln.
»Maria wärst du so gut, den Korb auszupacken?«, sagte sie. »Wir haben Wein und ein wenig süßes Gebäck mitgebracht. Reden macht mich immer hungrig. «
»Mädchen, wo bleiben deine Manieren?«, murmelte Maria.
Domingas seufzte. »Du meine Güte, ich habe mich ja noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Domingas Velasquita Diaz. Santiago ist mein Bruder.«
Ima war sprachlos. Dieses engelhafte Wesen war nicht Santiagos Geliebte, sondern seine Schwester? Sie schlug die Hand vor den Mund – aber sie konnte nicht anders. Sie kicherte los. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht einmal geahnt, wie sehr sie der Gedanke erleichterte, nicht mit einer unbekannter Geliebten um Santiagos Gunst konkurrieren zu müssen.
Domingas wirkte nicht im Geringsten verärgert über ihren Heiterkeitsausbruch. »Kaum zu glauben, ich weiß. Aber wir sind tatsächlich leibliche Geschwister.«
Ima schwieg eine geraume Weile. »Ich verstehe«, sagte sie dann.»Da Ihr meinen Namen kennt, habt Ihr Euren Bruder vermutlich nach mir ausgefragt.«
Domingas hob mit einem reumütigen Lächeln die Hände. »Ich gebe zu, dass ich es versucht habe. Allerdings war Santiago nicht gerade gesprächig. Und Messèr Darius hat regelrecht Schaum vor dem Mund, sobald man Euren Namen erwähnt. Dabei hört er sich für gewöhnlich gerne beim Reden zu.«
Ima lächelte nur still vor sich hin.
Maria, die dabei war, einen Silberteller mit kleinen Köstlichkeiten aus dem Korb zu bestücken, hielt inne.
»Ihr scheint die Vorstellung eines schäumenden Darius ja sehr erheiternd zu finden, Monna Adelardi«, bemerkte Domingas leicht pikiert.
»Ja«, bekannte Ima. »Ihn sich mit Schaum vor dem Mund vorzustellen, macht den zukünftigen Umgang mit diesem Flegel deutlich erträglicher.«
Domingas seufzte tief. »Ich weiß, was Ihr meint. Für gewöhnlich ist Darius der umgänglichste Mensch, den Ihr Euch vorstellen könnt. Doch im Augenblick steht er wirklich neben sich. Ich glaube, er ist unglücklich verliebt.«
»Er ... was?«
»Ja. In eine Venezianerin. Das Mädchen scheint jedoch nicht bereit, ihn zu erhören.«
»Dann sollte er sich besser nach einer anderen Frau umsehen, denkt Ihr nicht?«
»Liebe ist nichts, was man abstreifen kann wie einen alten Mantel.« Domingas trank einen Schluck von dem Wein, den Maria eingeschenkt hatte, hielt den Becher dann zwischen den Händen und blickte hinein. »Seid Ihr nicht in Euren Gemahl verliebt, Monna Adelardi?«
Ima zuckte die Schultern. »Ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihn persönlich kennenzulernen.«
»Oh. Dann ist Messèr Adelardi die Wahl Eures Vaters?«
»Nein, ist er nicht«, sagte Ima. »Es war ganz allein meine Entscheidung, die Ehe einzugehen. Weil es die einzige Chance auf Freiheit war, die ich hatte.«
Domingas schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kann Eurer Argumentation nicht folgen.«
»Tja, wie solltet Ihr auch?«, murmelte Ima. »Mit Eurem Aussehen und Eurer wunderbaren Stimme lauft Ihr niemals Gefahr, mit Schwierigkeiten wie den meinen konfrontiert zu werden.«
Domingas betrachtete sie kühl. »Was meint Ihr damit?«
Ima hob ihren Gehstock. »Das hier zum Beispiel.« Mit knappen Bewegungen streckte sie Domingas ihre vernarbte Faust entgegen. »Und die hier. Nicht gerade die besten Argumente, um auf dem Heiratsmarkt einen guten Handel abzuschließen.« Ima sah der Sängerin unverwandt ins Gesicht, konnte ihrem Blick jedoch nicht entnehmen, was Domingas dachte.
»Die Heirat mit Francesco Adelardi war meine Chance und ich habe sie ergriffen. Ende der Geschichte.« Ima hob den Weinbecher an die Lippen, aber dann konnte sie nicht trinken, denn ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
Domingas betrachtete sie schweigend. Mehrmals öffnete sie den Mund, als wolle sie etwas sagen, doch dann schien sie es sich jedes Mal anders zu überlegen.
Ima senkte den Blick. »Ich bin keine sonderlich angenehme Gesellschaft heute Abend«, sagte sie. »Ich bin Euch nicht böse, falls Ihr lieber gehen wollt.«
»Das möchte ich nicht.«
»Ich langweile Euch nur.«
Domingas seufzte. »Nein, nein. Eure Geschichte interessiert mich. Ich glaube, dass wir mehr gemeinsam haben, als Ihr Euch vorstellen könnt. Seht mich an. Ich bin dünn wie eine Weidenrute, verbringe mehr Tage im Krankenbett, als ich zählen kann und habe einem Ehemann nichts zu bieten außer meiner Musik und einer passablen Stimme. Glaubt Ihr, das sind Eigenschaften, die auf dem Heiratsmarkt zählen?«
Ima stieß ärgerlich die Luft aus. »Eure Musik ist wunderbar.«
»Mein Onkel Dante würde Euch da widersprechen. Er hält Musik und Gesang für Zeitverschwendung.« Domingas lächelte wehmütig. »Da es ihm nicht gelang, mich an einen Ehemann zu verkaufen, setzte er mich kurzerhand vor die Tür.«
»Euer Onkel hat Euch aus dem Haus geworfen?«, vergewisserte Diotima sich, nicht sicher, ob sie sich vielleicht verhört hatte.
Domingas nickte. »Ohne meine treue Maria hätte ich es niemals geschafft, mich zu meinem Bruder durchzuschlagen. Sie war es, die Santiago schließlich ausfindig gemacht hat. Denn als wir in Venetien ankamen, war ich zu schwach, um selbst handeln zu können.«
»Wie lange habt Ihr gebraucht, um Euren Bruder zu finden?«, fragte Ima neugierig.
Domingas schnitt eine kleine Grimasse. »Ich weiß es nicht genau. Maria sagt, dass wir beinahe sechs Monate unterwegs waren.«
»Grundgütiger. Euer Onkel muss ein wahrer Finsterling sein. Wie konnte er Euch so etwas antun?«
»Was Onkel Dante unternimmt, dient ausschließlich seinem eigenen Vorteil. Ich wünschte, jemand würde ihm berichten, dass es meine Musik war, die unseren Lebensunterhalt gesichert hat. Er würde sich vor Zorn die Haare raufen. Die Chance auf einen Profit ungenutzt verstreichen zu lassen, ist für ihn die einzige unverzeihliche Sünde.«
»Ein feiner Herr, Euer Onkel«, sagte Ima.
Domingas lächelte. »Wenn er zudem von diesem Haus wüsste, das Santiago gekauft hat, damit es mir nie mehr an einem Dach über dem Kopf mangelt, bestünde die Gefahr, dass ihn vor Zorn der Schlag träfe.«
»Das geschähe ihm nur recht.«
Domingas zog die Schultern hoch, als wäre ihr plötzlich kalt. »Seine Verwandten kann man sich leider nicht aussuchen.«
Ima nickte und schwieg. Ihr war es ganz recht, das Gespräch versiegen zu lassen, denn sie war an einem Punkt angelangt, an dem sie einfach nicht wusste, worüber sie mit Santiagos Schwester reden konnte.
Domingas nahm sich ein Stück Gebäck und kaute nachdenklich. »Seltsam«, bemerkte sie schließlich. »Ich dachte, dass Ihr mich bitten würdet, bei meinem Bruder ein gutes Wort für Euch einzulegen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Nun, um Eure Abreise zu erreichen, zum Beispiel. Mein Bruder und ich stehen uns sehr nahe. Er pflegt meine Wünsche zu berücksichtigen.«
»Ich wüsste nicht, wohin ich gehen sollte«, bekannte Ima.
»Was ist mit der Burg Eures Vaters?«, wollte Domingas wissen. »Warum kehrt Ihr nicht dorthin zurück?«
»Diese Peinlichkeit will ich meinen Eltern und mir lieber ersparen. Außerdem sagte man mir, der Weg sei zur Zeit nicht passierbar.«
Domingas drehte den Becher zwischen den Händen. »Was ist mit Eurem Gemahl? Gewiss verfügt er doch über weiteren Besitz, aus dem Ihr Euch eine Wohnstatt wählen könnt.«
»Nun ja – da wäre ein Stadthaus in Verona. Darüber hinaus ... ich muss gestehen, dass ich Eure Frage nicht beantworten kann. In den Verhandlungen war immer nur von diesem Gut hier die Rede.«
»Ich finde es ein wenig befremdlich, dass Euer Gemahl keine Anstalten macht, Euch an seine Seite zu rufen. Er muss doch wissen, dass Eure Situation hier untragbar ist.«
Ima nickte mit gesenktem Blick. »Ich ... ich verstehe es auch nicht.«
Domingas warf ihr einen schnellen Blick zu, enthielt sich aber jeder Bemerkung. Dafür war Ima ihr dankbar. Seit ihrer Trauung waren beinahe vier Wochen vergangen und sie hatte die Hoffnung, nichts mehr von Francesco zu hören. Wenn es nach ihr ging, konnte der Kerl sich zum Teufel scheren! Sie hatte inzwischen andere Ziele, die ihren abtrünnigen Ehemann nicht einschlossen.
Domingas, die auf ihre Hände geblickt hatte, sah auf. »Monna Adelardi?«
»Hm?«
»Gefällt es Euch hier? Ich meine – das Tal ist doch recht abgelegen. Hättet Ihr nicht lieber ein Haus in der Stadt gehabt?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Ima. »Das Valle del Tasso ist wunderbar. Allerdings würde es mir noch besser gefallen, wenn ich nicht in diesem Gemach festsäße.«
»Das lässt sich arrangieren. Santiago wird gewiss zustimmen, wenn ich ihn darum bitte.«
»Und dann?«, fragte Ima ungehalten.
»Bleibt hier, Ima. Vergesst Euren Ehemann, der ganz offensichtlich nichts von Euch wissen will. Er hat Euch in diese unmögliche Lage gebracht. Niemand kann Euch vorwerfen, dass Ihr versucht, das Beste daraus zu machen.«
Ima antwortete nicht.
»Ich wüsste Eure Gesellschaft wirklich zu schätzen«, fuhr Domingas fort. »Das Haus hier ist wunderbar, aber es ist ein Haus voller Männer. Es gibt außer Maria keine Frau, mit der ich mich unterhalten könnte.« Sie seufzte tief. »Und da ist noch etwas, was ich meinem Bruder unmöglich gestehen kann. Ich ... ich fürchte mich ganz entsetzlich davor, nach draußen zu gehen.«
»Wegen der Soldaten?«, fragte Ima. »Von den Skorpionen würde keiner wagen, Euch zu nahe zu treten. Sie folgen einer strengen Disziplin, auf deren Einhaltung die Offiziere ein achtsames Auge haben. Fragt Messèr Belladonna.«
»Ich weiß. Dennoch ... Es wäre so viel angenehmer, Euch an meiner Seite zu haben. Bleibt Ihr?«
»Ich fürchte, ich ... ich kann Euch darauf nicht antworten.«
Domingas hob den Kopf, ihre Blicke trafen sich, und sie biss sich auf die Unterlippe. »Meine Frage kommt zu früh.«
»Nun ja, ich ...«
»Schlaft eine Nacht darüber, Ima, seid so gut. Vielleicht denkt Ihr morgen anders über die Sache.«
»Ich glaube kaum.«
»Tut mir den Gefallen. Denkt darüber nach.«
»Also gut«, sagte Ima. »Ich lasse Euch meine Entscheidung wissen. Gute Nacht, Signorina.«