Es war einmal in einem Raum aus Weiß. Es gab keine Fenster und die Tür öffnete sich selten. Zwei Freunde saßen hier und ließen die Stunden des Tages verstreichen.
Sie waren Kinder und somit sahen sie trotz der Triste ihrer Situation überall Wunder. Ja, die Welt war voller Wunder, nur darauf wartend gefunden zu werden. Derjenige, der im Bett hockte, las ein Buch mit bunten Bildern auf seinen Schoß.
»Irgendwann müssen wir uns trennen, oder?«, fragte er ohne aufzublicken.
»Wieso?«, meinte der anderer verwundert.
»Weil es halt so ist. Hey, sei aber nicht traurig ok? Weine nicht.«
»Wie soll ich nicht weinen? Wir waren bisher immer zusammen und du sagst...«
»Wer sagt denn, dass wir uns für immer trennen? Außerdem wirst du dich ja immer an mich erinnern. Du hast ja so ein gutes Gedächtnis. Du vergisst nie etwas. Du wirst immer wissen, wie mein Gesicht aussieht und wie meine Stimme sich anhört.«
»Aber wie soll ich dich finden, wenn wir uns getrennt haben? Die Welt ist groß und wir sind klein.«
Der Junge auf dem Bett lächelte und hob sein Buch. »Dann treffen wir uns in Nimmerland wieder. Ja, komm nach Nimmerland, wenn ich nicht mehr bei dir bin. Ich werde da auf dich warten.«
»Versprochen?«
»Versprochen. Und... hey. Bitte nimm die Erinnerungen von mir mit, okey?«
Diese Bilder dieser alten Zeit verschwammen etwas. Das Weiß wich und Dunkelheit kam. Ferne, drohende Geräusche drangen an das Ohr des Jungen. Das Bett mit seinem Freund wich immer und immer mehr zurück.
Schließlich öffnete er die Augen und setzte sich auf. Der Film der Erinnerungen war zu Ende und nun breitete sich um ihn herum die Gegenwart aus. Eine trostlose, endlose Gegenwart.
Der Ort in dem er erwachte, war eine weite Halle, wo die Wände im Schatten verborgen lagen. Hier und da fielen vereinzelte Lichtstrahlen von Löchern in der Decke herunter und beleuchteten die stillen Schrecken dieses Ortes.
Es war ein Friedhof. Ein Friedhof für Puppen. Sie stapelten sich um den Jungen herum auf wie Berge zerbrochener Kindheitsträume. Manche waren so klein, dass er sie mit einer Hand aufheben konnte, während andere so gewaltig wie Elefanten waren.
Kindliche Porzellangesichter mit Rissen und Furchen starrten mit gläsernen Augen ins Nirgendwo. Holzsoldaten mit abgerissenen Gliedmaßen waren Kunden lang vergangener Schlachten. Babys aus Stoff lagen in ihren eigenen, weißlichen Innereien. Verformte und gebrochene Hände streckten sich zu den wenigen Lichtern des nahen Himmels.
Vorsichtig stand der Junge auf, klopfte sich den Staub von dem gestreiften Hemd und blickte sich um. Es war unmöglich zu sagen wie gewaltig dieser Raum eigentlich war und ob sich diese Wüste trauriger, kalter Gesichter nicht endlos erstreckte. Ein Ende war vermutlich nur zu finden, wenn er begann zu gehen. Immer weiter, bis er eine Mauer erreichte.
Doch wie genau kam er eigentlich hierher? Was war mit dem weißen Raum passiert? Wo war sein Freund?
»Ich habe es vergessen«, wisperte er zu sich selbst und schüttelte den Kopf etwas. Er setzte den linken Fuß nach vorne und begann seine Wanderung. Für wie lang er gehen würde, wusste er nicht. Es könnten Wochen oder Monate werden. Es war ihm gleichgültig.
Es gab den einen Ort, zu dem er unbedingt gelangen musste.
»Nimmerland. Ich muss nach Nimmerland. Dort wird er auf mich warten.«
Eine neue Reise fand so ihren Anfang. Eine Reise durch die Welt, mit all ihren Wundern.
Der Weg war zuerst still. Keine der kaputten Puppen sagte ein Wort, als er über sie hinweg kletterte. Er musste oft aufpassen um keine Lawine aus Gliedmaßen, Köpfen, zersprungen Torsos und zerrissenen Kleidchen auszulösen.
Manchmal hörte er ein fernes Krachen, so als würden neue Scherben in diesem Abgrund hinabfallen.
Nach einigen Stunden ertönte dann ein weiteres Geräusch. Es war so schwach, dass es sich beinahe in der kühlen Luft verlor. Dennoch hörte der Junge es. Ein blechernes Schreien, das wie aus einem tiefen Brunnen zu kommen schien. Es erklang aus der Leere hinter ihm. Er machte sich allerdings nicht die Mühe den Kopf zu drehen. Stattdessen blickte er weiter aufwärts. Das Ende hatte sich endlich aus der Dunkelheit geschält. Vor ihm erhob sich einer der steilsten Hügel aus verrottenden Puppen, die er bisher gesehen hatte. Sie bildeten eine Rampe zu einem Riss in der grauen, stählernen Wand.
Hatte jemand vor ihm all diese Leichen aus Porzellan, Holz und Stoff aufgeschichtet um zu entkommen oder hatten die traurigen Insassen dieses gewaltigen Grabes sich mit verbliebener Kraft gemeinsam zu dieser Brücke geformt, in der verzweifelten Hoffnung zumindest einigen von ihnen die Flucht zu ermöglichen?
Wie dem auch, der Junge war dankbar dafür, da sie ihm so die Arbeit abgenommen hatte. Er spuckte sich in beide Hände und begann den Aufstieg. Auf halben Weg zu dem ersehnten Ausgang hörte er dann zum erstem Mal eine andere Stimme als seine eigene.
»Wohin des Weges, Bube?«, wurde müde gefragt. Der große, runde Puppenkopf neben dem Jungen knackte etwas, als er sich ruckelnd drehte. Die großen, lidlosen Augen begannen dabei orange zu glühen. Der monströse Schädel wurde von einem übergroßen Zylinder geziert unter dem graue Haare aus Plastik hervorlugten
»Ich will diesen Friedhof verlassen, werter Herr«, antwortete der Junge und blieb stehen, da er gelernt hatte Älteren zuzuhören.
»Höflich bist du. Aber bist du auch dumm? Glaubst du, dass es ist eine gute Idee ist diesen Ort zu verlassen?« Erneut war ein hohler Schrei zu hören, der fast schon zähflüssig durch die weite Halle glitt. Es war näher als vorher. »Weißt du was? Vergiss was ich gesagt habe. Ich kann dir nicht verübeln von hier zu verschwinden. Du hast ja noch Beine, mit denen du dich bewegen kannst. Dennoch ist es schade.«
»Soll ich etwa hier bei Ihnen bleiben, werter Herr?«
»Ja. Und ich wünsche mir am liebsten, dass die ganze Welt auch bald hierherkommt. Der ganze Schrott, der inzwischen Erde, Himmel und Hölle ausfüllt soll am besten hierher gebracht und vergessen werden.«
»Wieso?«
»Du weißt wohl nicht, was dort draußen passiert ist, oder?« Die alte Puppe lachte auf und der Unterkiefer bewegte sich dabei mechanisch auf und ab. »Du hast es vergessen?«
»Ich habe es vergessen, ja.«
»Interessant. Interessant und witzig. Glaubst du jemand wollte, dass du vergisst?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Junge, während ein erneuter Schrei erklang.
»Natürlich nicht. Ich stelle hier wirklich die dummen Fragen oder? Ich ahne schon wie du die Welt gerade siehst. Deine Sinne sind vergiftet wie bei allen anderen. Wie soll ich weiter mit dir reden, wenn unsere beiden Augen doch anderes erblicken? Du brauchst hier nicht weiter bei mir zu bleiben, Bube. Gehe ruhig nach draußen und guck dir an, was passiert ist. Ich bezweifle allerdings, dass du die Wahrheit ganz erkennen wirst. Vieles ist für immer kaputt und verschwommen. Komm heulend wieder, wenn du es nicht mehr erträgst. Ich werde dich umarmen, sodass wir zusammen in der Ewigkeit zergehen.«
Zuerst wusste der Junge nicht genau, was er daraufhin sagen sollte. War es klug der alten Puppe für das Angebot zu danken? Oder sollte er am besten einfach weiterklettern? Keiner dieser beiden Optionen gefiel ihm wirklich, also beschloss er einfach sich weiter zu unterhalten.
»Kennen Sie den den Weg nach Nimmerland, Mister?«, fragte er.
»Nimmerland, Bube? Was willst du dort?«
»Mein Freund wartete dort.«
»Wirklich? Bist du dir sicher? Seit langer Zeit wurde niemand mehr dorthin eingeladen. Die Welt ist bedeckt mit den Toten derjenigen, die versucht haben gewaltsam einzudringen.«
Der Junge nickte. »Er wird dort sein! Wissen Sie nun, wie man dahin kommt?«
»Nun, die meisten haben es vergessen.«
»Wieso?«
»Weil sie alle verrückt sind. Verrücktheit ist nicht gut für das Gedächtnis.«
»Dies mag so sein oder dies mag nicht so sein. Ich habe allerdings Sie gefragt, werter Herr. Wissen Sie den Weg nach Nimmerland?«
Nun war der Schrei sehr nahe und entlarvte sich so als eine Vielzahl an kreischenden, jammernden Lauten aus hunderten Kehlen, die aus der Ferne wie ein einziger Laut gewirkt hatten. Es war wie das Klagen aus einem Höllenschlund, der sein Leid und seinen Zorn auf die Erde spuckte.
Die Augen der älteren Pumpe flimmerten etwas, während er den Jungen lange anstarrte. Sein Kiefer klappte auf und ab, ohne dass ein Laut hervorkam. Vermutlich sah er das Ungetüm was sich aus den Tiefen der Halle nährte.
Der Junge wartete geduldig und ohne große Nervosität, bis sein Gegenüber begann gackernd zu lachen.
»Gehe zur großen Stadt am Nabel der Welt, Bube. Dort erhebt sich das große Schloss, von dem einst alle Königreiche regiert wurden. Du musst dort hinauf, denn an der Spitze des Schlosses gibt es ein goldenes Ticket. Mit diesem Ticket wirst du in der Lage sein mit dem Zug nach Nimmerland zu fahren.«
»Danke sehr, werter Herr«, bedankte sich der Junge und begann weiter zu klettern.
»Du wirst unterwegs sterben, Bube«, kicherte der Alte unter ihm weiter. »Du wirst sterben, bevor du das Schloss erreichst! Man wird die die Augen ausstechen. Mit deinen Gedärmen wird man seilspringen! Oh ja, man wird lachen, wenn man dich zerfleischt, dich kreuzigt, pfählt, zerteilt und dir die Haut abzieht. Oh ja, man wird Spaß mit dir haben! Jede Sekunde deines endlosen Todes wird erfüllt sein mit Lachen und Festtätigkeiten. Du bist...«
Die Worte gingen in dem endlosen Schreien unter, was nun die Halle ausfüllte. Der Junge rannte nun über die Brücke und nährte sich dem Spalt in der Wand. Einige Puppen versuchten mit den Armen nach ihm zu greifen, doch er schüttelte sich jedes Mal erfolgreich frei.
Kurz vor dem Ausgang drehte er sich dann ein letztes Mal um und sah, dass alle Lichtstrahlen inzwischen erloschen waren. Stattdessen baute sich eine gewaltige Dunkelheit vor ihm auf. Auf dieser Schwärze schimmerten unzählige rote Fratzen mit weit aufgerissenen Augen und langen Zähnen, die wirkten als hätte ein Kind sie mit einem Stift über die Finsternis gemalt.
Der Junge verließ den Friedhof.