Kapitel 2
Am Montag stand ein unberührter, noch dampfender Cappuccino auf dem letzten Holztisch, von den vielen, an denen sich Schüler versammelt hatten, um zu lernen, lesen oder einfach das kostenfreie Wlan auszunutzen. Verwundert blickte ich mich um, konnte aber niemanden entdecken, der ihn trinken wollte, und als ich den Becher in die Hand nahm, war er noch ganz heiß vom frischen Zubereiten. Vielleicht hatte ihn jemand hier vergessen? Ich zuckte die Achseln; setzte mich an den Tisch und packte meine Schulsachen aus. Selbstverständlich wollte ich den Cappuccino nicht, also stellte ich ihn ein wenig weiter weg, denn falls der Besitzer doch wiederkam, sollte er nicht denken, ich hätte vorgehabt, ihn zu trinken. Meine beste Freundin Celeste hingegen hätte diese Gelegenheit schamlos ausgenutzt. Sie geierte nämlich immer alles, was sich bei drei nicht auf dem Baum befand, womit ich sie ziemlich oft aufzog. Ich musste ihr übrigens noch unbedingt von dem Fremden von Freitag erzählen; das hatte ich heute in der Schule nämlich total verdrängt. Plötzlich spürte ich den Druck einer Hand auf meiner Schulter. Ich zuckte zusammen und drehte mich abrupt um. Wenn man vom Teufel sprach; hinter mir stand, wie nicht anders zu erwarten, der Mann von Freitag. Bei seinem Anblick schoss mir wieder das Blut ins Gesicht; als ob ich auf seine Anwesenheit allergisch reagierte. Als er sich mir gegenüber hinsetzte, stellte er seinen eigenen Kaffeebecher neben dem Cappuccino, den ich an die andere Seite des Tisches geschoben hatte. Mit hochgezogenen Augenbrauen fragte er:
»Willst du den nicht trinken? Den habe ich extra als Entschädigung für Freitag gekauft.« Ich musterte ihn prüfend, so als wollte ich in seinem Gesicht nach irgendeinem Anzeichen darüber suchen, ob er sich über mich lustig machte. Doch er spiegelte nicht auch nur einen Hauch von Belustigung wider.
»Woher weißt du, dass ich Cappuccino mag?«
»Der Fleck auf meinem Hemd hat ziemlich nach Cappuccino gerochen«
»Wie heißt du?« Die Frage brannte mir seit gestern Abend beziehungsweise Nacht auf der Zunge. Zaghaft langte ich über den Tisch und nahm mir meinen Becher. Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund.
»Evan.« Ich schlürfte aus meinem Becher, da der Kaffee schon ein wenig abgekühlt war.
»Und dein Nachname...?«
»Gamble.« Ich nickte. Jetzt guckte er mich auffordernd an. Plötzlich verstand ich.
»Wallace.« Diesmal nickte er. Ich betrachtete das Gespräch als beendet und wunderte mich, wieso er nicht schon längst gegangen war. Verwirrt widmete ich mich meinen Englischblättern und versuchte, ihn weitestgehend zu ignorieren. Für Außenstehende wirkte ich damit wahrscheinlich ziemlich gemein, aber lieber täuschte ich Desinteresse vor, anstatt dass Evan mir, wenn er meine Narben sieht, einen Korb gibt. Auf einmal wurde mir das Englischzeug vor meinen Augen entrissen.
»Hey!« Empört versuchte ich, ihm meine Sachen zu entreißen, doch er hielt sie schon außer meiner Reichweite.
»Was zur Hölle soll das?« Er legte sich meine Sachen auf den Schoß und trank nebenbei in aller Welts Ruhe seinen Kaffee.
»Du bekommst dein Zeug Blatt für Blatt wieder, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.« Ich atmete hörbar aus; was bildete der sich nur ein?! Ich musste
mir ernsthaft verkneifen, ihm mit meinem Englischbuch eine zu scheuern, doch ich hielt mich zurück. Ich brauchte diese Blätter unbedingt so schnell wie möglich, denn sie waren morgen fällig.
»Also gut. Dann leg mal los.« Er riss seine Augen auf.
»Hm. Ich hätte mehr Widerstand erwartet.«
»Erwartet oder erhofft?«
»Touché«
fünf Blätter, das wären dann fünf Fragen. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und schaute ihn herausfordernd an. Dieses verschmitzte Grinsen klebte ihm wieder ihm Gesicht und seine rehbraunen Augen strahlten eine gewisse Vorfreude aus. Während ich meinen Blick über sein Gesicht schweifen ließ, fielen mir die Bartstoppeln an seinem Kinn und seinen Wangen auf. Ich schätzte sein Alter auf etwa 20 Jahre. Was wollte jemand so reifes von so einem Frischfleisch wie mir? Außerdem konnte ich von mir auch nicht gerade behaupten, die beste Ausstrahlung zu haben; also was habe ich, das ihn nicht von mir loslässt?
»Frage Nummer eins. Was ist dein Lieblingsbuch?« Mit zusammen gekniffenen Augen blickte ich ihn an. Er hatte doch irgendwas vor, oder?
»Mein Lieblingsbuch?«
»In welchem Bereich? Fantasy, Krimis, New Adult...?«
»Alles«
»Der kleine Prinz von Saint-Exupery« Ohne ein Wort stand er auf und ging die Treppe runter in den ersten Stock, wo sich die Romane befanden. Während er unten war, erlaubte ich mir, kurz durchzuatmen. Ich glättete mit den Händen meine Haare, nur für den Fall, dass sie durcheinander waren. Was hatte Evan nur vor? Also klar, höchstwahrscheinlich suchte er jetzt der kleine Prinz aus, aber was dann? Evan war mir ein einziges großes Rätsel, und vor allem war es mir noch ein größeres Rätsel, wieso er seine Zeit mit mir verschwendete. Und wieso es mir gefiel, Zeit mit ihm zu verbringen, wusste ich auch nicht. Das einzige was ich wusste, war, dass ich keine Gefühle für ihn entwickeln durfte, denn er würde mich sowieso abschreiben.
Triumphierend kam Evan mit dem Buch in der Hand die Treppe hoch, und setzte sich wieder zu mir.
»Und was hast du jetzt damit vor?«
»Ich werde es lesen - Es ist ja nicht besonders lang, also werde ich dafür auch nicht viel Zeit brauchen. Hier«
»Sag wenn du fertig bist mit dem Blatt.«
»Nein« sagte ich schlicht und einfach. Verwundert schaute er auf, und wollte schon zu einer Frage ansetzen, jedoch wiederholte ich mit etwas mehr Nachdruck:
»Nein.« Blitzschnell nahm ich ihm das Buch weg, bevor er weiterlesen konnte.
»Wenn du meine Fragen beantwortest, gebe ich dir das Buch wieder«
Und so ging das die nächsten zwei Stunden. Wir stellten uns abwechselnd Fragen, und vergaßen dabei völlig den Teil mit den Arbeitsblättern und dem Buch. Als er mir sein Lieblingsbuch sagte, holte ich es mir auch, und versprach, es zu lesen. Ich ging sogar so weit, ihn überbieten zu wollen, und zu wetten, dass ich schneller mit dem Buch fertig war als er. Auf einmal bekam ich Lust auf noch einen Kaffee, da ich meinen letzten ja nicht voll und ganz genießen konnte.
»Ich hol mir noch einen Kaffee, soll ich dir auch einen mitbringen?« Ich stand von meinem Stuhl auf und suchte in meinem Rucksack das nötige Geld zusammen. Evan schüttelte den Kopf.
»Nein danke, mir reicht einer am Tag, du Junkie« , zog er mich auf. Seine Bemerkung brachte mich zum Lachen. Als ich zum Kaffeeautomaten lief, dachte ich hektisch über das Geschehen nach. Ich drückte die passenden Knöpfe auf der Maschine und warf das nötige Geld ein. Ungeduldig wippte ich mit dem rechten Fuß auf und ab. Worauf lief das Ganze hinaus? Würden wir mehr als Freunde? Waren wir überhaupt schon Freunde? All die Fragen stellte ich mir, doch mir reichte nicht die Zeit um sie zu beantworten; und ihn danach zu fragen, traute ich mich erst recht nicht. Also entschied ich mich dazu, die Dinge so zu nehmen wie sie kamen. Ich war wohl etwas in meinen Gedanken vertieft, denn eine Frau mittleren Alters tippte mir auf die Schulter und sagte:
»Lady, ihr Kaffee ist fertig« Perplex schaute ich sie an; schüttelte kaum vernehmbar meinen Kopf um wieder in die Realität zurückzukehren und nahm dann meinen dampfenden Espresso aus der Halterung.
Bevor ich zu ihm zurückkehrte blieb ich noch kurz etwas abseits stehen. Evan saß mit dem Rücken zu mir und las in Der kleine Prinz, deswegen konnte er mich nicht sehen. Ich sammelte mich ein wenig, dann kehrte ich zum Platz zurück.
»Bin wieder da«, verkündete ich, und entriss ihm das Buch. Ertappt lächelte er mich an, woraufhin mir seltsam warm im Bauch wurde. Ich lächelte zurück. Sein Handy, das auf dem Tisch lag, blinkte, und er warf einen Blick darauf. Dann stand er auf und packte er seine Sachen zusammen. »Was ist los?«
»Es tut mir leid, aber ich muss wirklich gehen, ich schreibe morgen meine letzte Prüfung auf der Uni und ich habe noch echt viel zu tun.« Evan machte den Reißverschluss seines Rucksacks zu und schulterte ihn. Ich nickte nur verständnisvoll, obwohl ich ihn am liebsten auf Knien angebettelt hätte, zu bleiben.
»Oh, okay.« Er bemerkte meine Stimmung, und ich fühlte mich furchtbar kindisch. Natürlich stellte er sein Studium über ein fast fremdes Mädchen.
»Morgen, gleicher Ort, gleiche Uhrzeit?« Hoffnungsvoll blickte er mich an. Ich neigte den Kopf und ertappte mein Herz dabei, wie es für einen Schlag aussetzte.
Evan wollte mich tatsächlich weiterhin sehen!
»Ja! Ich meine, ja, das passt. Alles klar, dann viel Erfolg bei deinem Aufsatz«
Verlegen verschränkte ich meine Hände, während ich ihm zusah, wie er die Bibliothekstreppe herunterging. Er besaß einen zielsicheren präzisen Gang; alles an ihm strahlte Selbstbewusstsein, Autorität und doch zugleich Gelassenheit aus
Die Bibliothek schloss in wenigen Minuten, deshalb packte ich meinen Rucksack und trank den Kaffee in einem Zug aus.
Als ich raus trat, umgab mich sofort die kühle Nachtluft. Ich musste mich echt beeilen, denn meinen Eltern hatten es nicht gerne, wenn ich draußen im Dunkeln alleine war. Eigentlich waren meine Eltern nicht wirklich streng, zumindest nicht, was Noten anging, aber wenn es um meine Sicherheit ging, taten sie alles, um mich zu beschützen. Das rührte aber nicht zuletzt von meiner dramatischen Kindheit her.
Schnellen Schrittes lief ich durch die Fußgängerzone; der leichte Duft von Kiefernnadeln, Zimt und Lebkuchen schwebte in der Luft, als ich an dem alljährlichen Weihnachtsmarkt vorbeilief. Als ich heute morgen auf dem Weg zur Schule mit dem Fahrrad hier vorbeigefahren war, waren die Arbeiter gerade dabei gewesen, den riesigen Weihnachtsbaum mit bunten Lichterketten, zahllosen Kugeln und schimmerndem Lametta zu verzieren. Der Tannenbaum sah, wie jedes Jahr, prächtig aus, und allein schon beim Anblick kam ich in Weihnachtsstimmung. Celeste hatte mich am Samstag per WhatsApp gefragt, ob wir nächstes Wochenende gemeinsam den Weihnachtsmarkt besuchen wollten, was mich sehr gefreut hatte, weil wir schon seit geraumer Zeit nichts mehr unternommen hatten. Die Schule hielt uns einfach zu sehr auf Trab.
Nachdem ich zu Hause angekommen war, meine Jeans und mein Pullover gegen eine Jogginghose und einen Hoodie getauscht hatte, und mir einen Kakao zubereitet hatte, ging ich zu meinen Eltern ins Schlafzimmer, um ihnen Bescheid zu geben, dass ich wieder daheim war. Doch ich hatte völlig vergessen, dass sie schon unterwegs auf ihrer Fortbildungsreise waren. Danach ging ich auf mein Zimmer, und rief Celeste an, da ich ihr unbedingt noch von Evan erzählen wollte. Sie ging nach drei mal tuten dran.
»Hey, Celeste. Was machst du gerade so?«
»Ach, ich rege mich gerade über Tony auf. Wieso liket er Jessicas Bilder? Ich verstehe es einfach nicht. Heute in der Pause hat er mir noch gesagt, dass ich die Einzige für ihn bin, und jetzt sehe ich das!« Sie seufzte. Ich konnte mir sowieso nicht vorstellen, was sie von so einem wie Tony wollen könnte. Er war ein totaler Schwachkopf, der sich jedes Mädchen nahm, das nicht bei drei auf dem Baum war. Leider war meine beste Freundin Celeste sein neuestes Opfer, und wer würde die Tränen aufwischen müssen, wenn er mit ihr, wie mit jeder anderen auch nach spätestens einem Monat, Schluss machte? Genau, meiner Wenigkeit würde dieser Job zu fallen. Aber da ich nun mal nicht so sein wollte, munterte ich sie auf (zumindest versuchte ich es).
»Celeste, mach dir keine Sorgen. Ein Like auf Instagram bedeutet doch noch lange nichts. So lange er dich nicht betrügt ist doch alles gut.« Ich konnte ihr Augenrollen praktisch schon durchs Handy hören.
»Ja natürlich bedeutet es nichts, bis sie ihn anschreibt, sich an ihn ran macht und er sich in sie verliebt und mich dann daraufhin betrügt.« Das war typisch für Celeste, sich die schlimmsten Horrorszenarien vorzustellen, die man aus ihrer derzeitigen Situation machen konnte.
»Wieso sollte sie ihn anschreiben?« Ich schlürfte interessiert an meinem Kakao.
»Ach, ich weiß doch auch nicht. Ich weiß, dass ich überreagiere und ohne Grund neidisch bin. Dagegen kann ich einfach nichts machen. Na ja, was auch immer.«
Okay, ich konnte ihr jetzt nicht von Evan erzählen. Im Moment war sie nicht gut drauf, und dann wollte ich sie nicht mit meinen Schwärmereien noch niedergeschlagener machen.
»Wenn du darüber reden willst, kannst du mit mir reden. Du weißt, dass ich immer für dich da bin.«
Wir telefonierten noch eine Weile weiter, in der sie von Tony und seiner Fähigkeit, sie immer zum Lachen zu bringen, schwärmte. Dabei schweiften meine Gedanken immer mal wieder zu Evan ab, was Celeste wohl bemerkte, denn sie fragte mich, wieso ich denn so abwesend antwortete. Ich schob es auf meine Müdigkeit, wobei ich fast sofort ein schlechtes Gewissen bekam, da ich ihr die Wahrheit verheimlichte.
Nach einer Zeit legten wir auf. Gerade in dem Moment kratzte und winselte Tommy vor meiner Tür, also ließ ich ihn rein. Er sprang auf mein Bett und machte es sich dort gemütlich. Dann setzte ich mich noch an die Englischblätter, die ich aufgrund Evan nicht beenden konnte. Irgendwann war ich zu müde, um mich auch nur ansatzweise konzentrieren zu können. Ich schleppte mich in mein Bett und schlief sofort ein.