Kapitel 3
Kapitel 3
»Ich finde nicht, dass ich mich lächerlich benehme. Es hat ja auch seinen Grund, dass ich so reagiere, ich meine, ich bin nicht gerade seine erste Freundin, wenn du verstehst, wie ich meine«, redete sie mit von Pizza gefülltem Mund. Ja, und sicherlich nicht die letzte, dachte ich im Geheimen, hätte mich aber niemals getraut, es laut auszusprechen. Ich verstand überhaupt nicht, was Celeste von so einem Kerl wie Tony wollen könnte. Natürlich, er war vor zwei Jahren aus Spanien hergezogen, und sah aus wie das typische Klischee eines Spaniers, doch seine Überheblichkeit machte sein ganzes Auftreten kaputt. Sie war viel zu gut für ihn. Ein Schnipsen vor meinem Gesicht riss mich aus meinem Gedankengang.
»Hallo, Erde an meine beste Freundin!«, sagte Celeste und schnipste weiter. Ich grinste sie an.
»Du kannst aufhören zu schnipsen«. Sie zog die Augenbrauen hoch, aber hörte auf.
»Sicher? Bist du auch wirklich noch da?« Ich nickte bestätigend, und stocherte in meinem Was-Auch-Immer-Das-war herum. Auf meinem Teller befand sich eine merkwürdige grüne Masse, von der ich lieber nicht so viel essen wollte. Celeste hatte Glück, sie hatte vegetarisch bestellt, und sah jetzt vor sich eine vegetarische Pizza liegen. Ich schob meine Brühe angewidert von mir weg, und holte stattdessen einen Apfel aus meiner Lunchbox. Wir saßen zu zweit an einem kleinen Tisch in dem vorderen Teil unserer Schulcafeteria, wo sich nur wenige tummelten, denn hier konnte man ungestört reden. Wenn man gerade vom Teufel sprach; Tony kam in die Cafeteria gestürmt, wobei sich einige Unterstufenschülerinnen nach ihm umdrehten und kicherten. Seine Augenbrauen waren steil zusammengekniffen und seine Mundwinkel hatten sich nach unten verzehrt. Er marschierte direkt auf uns zu. Seine Fäuste waren geballt. Ich konnte praktisch spüren, dass sich Celeste am liebsten unter dem Tisch verkrochen und vor ihm versteckt hätte, und ich musste ehrlich zugeben, dass es mir da nicht anders ging. Mir war klar, dass er nicht einfach ohne Grund in den Berserker-Mode gewechselt hatte.
Während er sich einen Weg durch die Schülerscharen bahnte, fragte ich Celeste hektisch:
»Was zur Hölle hast du gemacht?« Ihre Augen waren riesig vor Angst und sie war plötzlich weiß wie Koks. Nicht, dass ich Koks schon mal außer auf Bildern gesehen hätte.
»Möglicherweise habe ...«, doch weiter kam sie nicht, denn Tony erreichte unseren Tisch und schlug mit der flachen Hand drauf.
»Was fällt dir ein?!« Die ganze Cafeteria hielt den Atem an.
»Was soll mir denn einfallen«, fragte sie unschuldig, bevor sie scheinbar seelenruhig ein Stück von ihrer Pizza abbiss, doch ihre Finger zitterten verdächtig und auch ihre Augen wurden etwas glasig.
»Du weißt ganz genau, was ich meine du... du! Du hast sie doch nicht mehr alle!« Wenn er wütend war, wurde sein spanischer Akzent viel prägnanter. Das reichte mir; so ging niemand mit meiner besten Freundin um. Ich stand auf, damit ich ihm gegenüber ungefähr auf gleicher Augenhöhe war.
»Mach mal langsam, Tony. Entweder, du hörst auf, zu brüllen und wir verlegen das ganze Gespräch an einen etwas privateren Ort, oder...« Verdammt, mir fiel nichts mehr ein. Tony schnaubte, und verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper.
»Weißt du überhaupt, was deine kleine Freundin gemacht hat? Sie hat Jessica geschrieben, dass sie sich von mir fernhalten soll. Nur weil ich ihr verdammtes Bild geliket habe«. Zugegeben, er redete jetzt etwas leiser, dennoch hörte die gesamte Cafeteria zu. In einem typisch-amerikanischen Teeniefilm wäre jetzt wahrscheinlich ein schockiertes Raunen durch die Menge gegangen, und bei dieser Vorstellung musste ich fast kichern. Doch ich konzentrierte mich auf den Ernst der Lage, und versuchte, für meine Freundin da zu sein, da ich sie in letzter Zeit vernachlässigte.
»Das macht sie doch nur, weil sie Angst hat, dich zu verlieren!« Es tat weh, diese Worte auszusprechen, denn Celeste hatte etwas viel besseres verdient. Jemand, der sie wirklich lieben würde, würde sie nicht vor der gesamten Schule bloßstellen. Celeste saß da, wie ein Häufchen Elend, und starrte angestrengt auf den Tisch, als stände dort der Sinn des Lebens. Ihre Wangen waren komplett nass, und der Anblick schnürte mir das Herz zu.
»Als ob ich noch länger mit so einem Psycho zusammen sein will!« Diesmal ging wirklich ein Raunen durch die Menge. Celeste entwich ein leises Schluchzen und verdeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. Bei mir drehten alle Sicherungen durch. Das war genau dieses Verhalten an Männern, das ich nur zu gut kannte. Es tat weh, dass Celeste nun das gleiche durchmachen musste, wie ich. Doch diesmal entschloss ich mich, meinen Standpunkt klar und deutlich zu vertreten, etwas, was ich mich noch nie getraut hatte.
»Hör mir mal gut zu, Tony«. Ich spuckte seinen Namen aus wie Gift. »Wie lange hat deine längste Beziehung gehalten? Hm? Drei Monate oder doch zwei?« Er schluckte, und sein ziemlich ausgeprägter Adamsapfel hüpfte auf und ab. Da meine Hand nervös zitterte, steckte ich sie möglichst lässig in meine Hosentasche. Ich wollte so selbstbewusst wie möglich rüber kommen, sodass er mich ernst nahm.
»Was hat das mit dem Ganzen zu tun?«, fauchte er.
»Es hat damit zu tun, dass du nicht einfach mit Mädchen umgehen kannst, wie es dir gerade passt. Du hast so ein tolles Mädchen wie Celeste an deiner Seite, und wirfst sie jetzt einfach weg, weil es dir zu viel wird? Lass mich raten, deine Mutter hat deine Familie früh verlassen, weshalb du jetzt einen Minderwertigkeitskomplex hast, sodass du jedem Mädchen das antun willst, was dir zugefügt wurde.« Jegliche Feministinnen dieser Welt wären stolz auf mich. Aus einer Ecke kam ein zustimmendes Jubeln. Tony schrumpfte bei jedem Wort von mir, und ich wägte mich siegessicher.
»Wir sind noch nicht fertig«, knurrte er, dann drehte er sich auf dem Absatz um und verließ die Kantine. Ein paar Mädchen aus den Nebenreihen klatschten und nickten mir anerkennend zu, die anderen aßen gemütlich weiter, als wäre nichts geschehen. Tony war so eben auf meine schwarze Liste gerutscht.
Den Rest der Mittagspause verbrachte ich damit, Celeste zu trösten und erlaubte mir nicht, mit dem Kopf wo anders zu sein als bei ihr.
»Ich finde, du hast alles richtig gemacht. Also nein, ich werde nicht schön reden, was du gemacht hast, aber ich kann deine Beweggründe verstehen. Auch wenn er ein Arsch ist«, fügte ich hinzu, denn das musste man ihr sagen, auch wenn sie es hoffentlich selber langsam erkannte.
Wir schwänzten Chemie, da wir beide gerade nicht in der Verfassung machen, uns auf Reaktionsgleichungen zu konzentrieren, und verbrachten die Doppelstunde in der Mädchentoilette auf dem kalten Fliesenboden. Sie hatte ihren Kopf in meinen Schoß gelegt, während sie nichts weiter tat als weinen. Celeste redete nicht einmal, und das war echt eine Seltenheit. Ich fuhr ihr mit meiner Hand immer wieder über die Haare, streichelte und massierte ihren Kopf. Das hatte meine Mom früher gemacht, wenn ich als kleines Kind nicht dazu in der Lage war, mich zu beruhigen. Auch bei Celeste zeigte es seine Wirkung, nach einer Weile hörte sie tatsächlich auf, herzzerreißend zu schluchzen. Wir hatten uns unter den Serviettenspender positioniert, sodass ich ihr praktischerweise Taschentücher nachreichen konnte, wenn sie die alten voll geheult hatte. Um uns herum lag schon ein Heer aus benutzten Taschentüchern, und der Stapel wuchs stetig weiter. Sie streckte ihre Hand aus, als Zeichen, dass sie ein weiteres brauchte. Sie schnäuzte sich wie ein Elefant. Sie war so klein, da würde niemandem in den Sinn kommen, dass sie solche Geräusche von sich geben konnte. Meine beste Freundin grunzte etwas unverständliches, woraufhin ich
»Hast du was gesagt?«
»Ich sagte danke. Für alles meine ich.«
»Dafür bin ich ja da«, sagte ich, und dann hievte sie ihren Kopf aus meinem Schoß, streckte sich ausgiebig, weshalb ihr Rücken ziemlich laut knackste. Sie kicherte leise, danach sah sie mich an, und ich musste mich ziemlich beherrschen, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, denn sie sah echt schlimm aus. Nicht in hässlich-schlimm sondern eher in Ich-habe-die-letzten-vier-Tage-vor-Liebeskummer-mein-Bett-nicht-verlassen-schlimm. Ihre Maskara war verlaufen, weswegen sie aussah wie ein Streifenhörnchen. Ihre Augen waren rot und verquollen und ihre Nase war geschwollen aufgrund der vielen rauen Servietten. Sie bemerkte wohl mein zerknirschtes Gesicht; stand ächzend auf und betrachtete sich im Spiegel. Ich tat es ihr gleich. An der Art, wie sie ihre Mundwinkel verzog, merkte ich, dass sie wieder kurz davor war zu weinen, also kramte ich schnell in meiner Tasche und holte die spärlichen Schminkutensilien raus, die ich mein Eigen nennen durfte. Ein Concealer, ein Rouge und Puder, eine Maskara. Ich kramte noch etwas weiter, und zog triumphierend einen Labello mit pinker Farbe aus meiner Handtasche.
»Wasch dein Gesicht«, wies ich sie an. »Danach wird es schon viel besser aussehen, glaub mir. Da ist nichts, was man nicht mit ein wenig Schminke wieder hinbekommen könnte.« Sie tat, wie ihr geheißen. Celeste wusch ihr Gesicht lange und ordentlich, und entfernte mit Hilfe von ein paar Servietten alle Reste ihres Make-Up. Und tatsächlich, das Wasser wirkte wahre Wunder, sie sah nun fast wieder lebendig aus, und die Schminke würde einen guten Beitrag dazu leisten.
Ich machte eine dicke Schicht Concealer über ihre Augenringe, tuschte ihre Wimpern und trug ein wenig Rouge auf.
»Tadaaaa«, machte ich, als ich ihr erlaubte, sich im Spiegel anzuschauen. Sofort fiel sie mir um die Arme und wir torkelten kurz im Badezimmer, als wären wir betrunken, dann kriegten wir uns wieder ein.
»Danke. Danke danke!« Endlich kam wieder etwas von der alten Celeste aus ihr heraus, und sie hüpfte vor mir auf und ab wie ein kleines Kind.
Just in dem Moment klingelte es zum Schulende. Wir verließen gemeinsam mit knapp 1.000 anderen Schülern das Schulgebäude. Ich bemerkte, dass Tony etwas weiter vorne lief, und lenkte Celeste augenblicklich ab; Wir wollten ja nicht noch einen Zusammenbruch riskieren. Ihre Nerven lagen sowieso schon blank, da würde nur eine winzige stressige Situation ausreichen, und sie mutierte wieder zum Wasserfall. Wir kamen unversehrt und ohne weitere Heulattacke draußen an, obwohl ich meinte, einige Male meinen Namen getuschelt zu hören. War auch nicht verwunderlich, nach der Show, die heute in der Kantine ablief. Celeste und ich blieben vor dem Fahrradkeller stehen, denn ich fuhr jetzt zur Bücherei zu – oh Himmel - Evan! Mein Herz machte Rückwärtssaltos bei der Vorstellung, ich würde ihn gleich wieder sehen. Ich verabschiedete mich von Celeste, indem ich sie in eine feste Umarmung schloss, danach ihre Hände nahm und ihr wie ein Mantra aufsagte:
»Du bist eine starke unabhängige Frau. Du bist unglaublich intelligent und hübsch. Wenn du willst, könntest du jeden haben.« Sie lächelte mir zaghaft zu, drückte kurz fest meine Hand, bedankte sich noch einmal, und wandte sich dann zu ihrem Heimweg.
Ich brauchte eine knappe Viertelstunde, um mit dem Fahrrad zur Bibliothek zu fahren, und in diesen 15 Minuten drehten sich meine Gedanken nur um ihn. Was machte er bloß mit mir? Aus meiner Jackentasche holte ich mein Handy und öffnete die Innenkamera, um zu checken, wie ich aussah. Meine Wangen waren leicht gerötet, aber das was ich sah, war akzeptabel. Bevor ich die Bücherei betrat, richtete ich meinen Pullover, sodass meine Narbe nicht mehr zu sehen war. Ich wollte die Sache mit ihm nicht zerstören, denn er würde bestimmt wie jeder vorherige Junge abhauen. Tony war das beste Beispiel dafür. Auch wenn ich Tony nicht mit ihm vergleichen konnte, denn Evan war charmant, und er war einfach nur schmalzig. Es dämpfte meine Stimmung etwas, dass ich nicht zu lange bleiben konnte, denn ich musste nachher noch zu meinem Kellnerjob im Coffee-Plaza.
Ich setzte mich an den Tisch, auf dem ein einzelner dampfender Kaffeebecher stand, als wäre es eine Geheimbotschaft.. Ich richtete meine Sachen, zog die Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne, und wartete. Natürlich wusste ich, dass er gleich um die Ecke kommen würde mit seinem Kaffee, dennoch breitete sich in meiner Magengegend ein mulmiges Gefühl aus. Es verschwand jedoch genauso schnell wie es gekommen war, denn schon gleich darauf kam Evan genau so wie ich es mir vorgestellt hatte, zu mir und setzte sich mir gegenüber. Bei seiner Ankunft vergaß ich den vergangenen Tag komplett.
Er schaute mich einfach nur an, ohne mich zu begrüßen. Seine rehbraunen Augen bohrten sich in meine, dann begann er plötzlich zu reden.
»Lily, ich geb die Hoffnung nicht auf« Er pausierte. Welche Hoffnung gab er nicht auf? In meinem Gehirn herrschte Leere.
Ich wollte zu etwas ansetzen, doch er gab mir mit einer Handgeste zu verstehen, dass ich warten solle.
»Spring zu mir auf meinen weißen Schimmel rauf«. Oh mein Gott. Heilige Maria und Josef. War das gerade ein Gedicht? Verdammt, ich fand noch nie etwas an einem Mann so attraktiv wie das hier, auch wenn das Gedicht echt zum Lachen war.
»Ich reite mit dir ins Märchenland« Bei dem Satz musste ich tatsächlich doch etwas kichern, wobei seine Augen spitzbübisch funkelten.
»Und hoffentlich hältst du dabei meine Hand« Er signalisierte, dass das Gedicht zu Ende war, applaudierte sich selber, woraufhin die alte Bibliothekarin Morrison, die gerade eine Ladung Bücher in Regale einräumte, ein lautes »Pschhhh« von sich gab. Ich war sprachlos. Ich glaubte, noch nie hatte mir ein Mann ein Gedicht geschrieben. »Sag etwas«, meinte er, nachdem ich eine Weile nichts gesagt hatte. Mein Gehirn war flüssiges Blei.
»Was«, brachte ich hervor. Doch dann merkte ich, dass es wahrscheinlich überhaupt keine angemessene Reaktion darauf war, dass er mir gerade ein verdammtes Gedicht über mich vorgetragen hatte. Meine Kehle war staubtrocken; und um noch nicht antworten zu müssen, trank ich einen kleinen Schluck von meinem, wie ich gerade feststellte, Cappuccino. Ich atmete einmal tief ein und aus, und entschied mich dafür, auf diese Flirterei einzugehen.
»Ganz schön gewagt, mir nach dem dritten Treffen ein Gedicht vorzutragen. Machst du das bei allen deinen Eroberungen so?« Er stieß ein kehliges Lachen aus, welches mir eine Gänsehaut bescherte. Abwartend schlürfte ich an meinem Getränk.
»Willst du damit etwa andeuten, dass mein Gedicht ausgereicht hat, um dich zu erobern?« Er grinste süffisant. Evan glaubte wohl wirklich, dass er mich damit gewonnen hat. Pah! Ich versuchte ihn in eine Zwickmühle zu bekommen.
»Hat es das denn bei den anderen? Ausgereicht meine ich« Ausgereicht meine ich, äffte ich mich in meinem Kopf nach. War ich denn so vernebelt in seiner Nähe, dass ich nicht einmal mehr richtig artikulieren konnte?
»Dafür müsste es erst einmal andere geben, aber ich bin mir sicher, dass meine Erfolgsquote ziemlich hoch wäre« Wie jetzt? Hatte er etwa noch nie eine Freundin? Er konnte anscheinend meine Gedanken lesen, denn er sagte:
»Ich meinte damit, dass ich noch nie einer Frau ein Gedicht vorgetragen habe«. Meinte er damit, dass all seine Beziehungen nur sexueller Natur waren? Oh mein Gott, ich musste echt aufhören, alles zu überanalysieren, was er sagte.
»Was denkst du gerade?« Das ist doch jetzt nicht wirklich dein Ernst, Lily. So etwas Plumpes konnte auch echt nur aus meinem Mund rauskommen. Was war denn nur los mit mir, verdammt? In der Mittagspause konnte ich noch große Reden schwingen, auf die Coco Chanel und andere bedeutende Feministinnen stolz gewesen wären, aber jetzt, wo es um mein Liebesleben ging, verabschiedete sich mein Gehirn nach Spanien.
»Ich denke gerade darüber nach, wie ich dich am besten nach deiner Nummer fragen könnte«. Da war wieder dieses schelmische Funkeln, weshalb ich sofort wusste, dass er das nicht ernst meinte. Daraufhin musste ich echt lauthals lachen, was wirklich befreite. Indem er etwas so witziges sagte, nahm er mir unbewusst, oder vielleicht auch bewusst, meine Nervosität ab.
»Das ist so ziemlich der klischeehafteste Spruch, den ich je in meinem Leben gehört habe. Hast du nicht doch noch ein Gedicht in petto?« Ich betrachtete ihn genauer. Er trug einen schwarzen Pullunder, der seine Gesichtszüge merkwürdigerweise extrem hervorhob. Über seiner rechten Augenbraue besaß er ein winziges Muttermal in Form einer Kartoffel. Vielleicht würde ich als Revanche ein Gedicht über dieses Muttermal verfassen? Ich notierte es mir innerlich.
»Leider nicht. Aber ich kann dir bis zum nächsten Mal eines schreiben. Vorausgesetzt, es gibt ein nächstes Mal?« Ich nickte lächelnd. Er lächelte zurück. Evan war echt raffiniert. Er war gut aussehend, charmant, und klug. Und er interessierte sich für mich. Na ja, nur, bis er meine Narbe sah, aber so weit musste es ja gar nicht kommen. Apropos, ich warf einen unauffälligen, zumindest hoffte ich das, Blick in Richtung Dekolleté, um mich zu vergewissern, dass man sie nicht sah. Ich zupfte mein Oberteil zurecht; sicher war sicher.
»Wir könnten uns ja beim nächsten Mal unter anderen Bedingungen treffen«, schlug er vor. Mein Herz schlug schneller. Die Bibliothek war bekanntes Gebiet, aber irgendwo anders? Wer weiß, was da alles passieren könnte! Dennoch spürte ich, dass ich Vertrauen zu ihm aufbaute, und meine Sorge hauptsächlich daran lag, dass ich ihn nicht mit meiner Narbe abschrecken würde. Es wäre nicht das erste Mal, dass es einem Typen zu viel wurde. Finn hatte mich mehr verletzt als jeder andere, denn ihm hatte ich mein ganzes Vertrauen gegeben. Ich wollte nicht noch einmal so etwas durchmachen müssen. Doch ich wusste jetzt schon, dass ich bereits unter Evans Bann stand, und dass es schon zu spät war, mich von ihm loszusagen. War es das? Oder redete ich mir das nur ein? Ich hätte es gar nicht erst so weit kommen lassen sollen. Da ich nicht über ein mögliches Treffen reden wollte, versuchte ich, geschickt abzulenken.
»Weißt du Evan, der Spruch vorhin hat mich ziemlich beeindruckt und weil ich zu ungeduldig bin, um auf ein weiteres Gedicht von dir zu warten, bekommst du meine Nummer.« Er blickte kurz verwirrt drein, holte aber kurzerhand sein Handy aus seinem Rucksack, und gab es mir. Während ich meine Nummer eintippte, sagte er:
»Das freut mich echt. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass du das nur sagst, weil du mein erstes Gedicht schlecht fandest, und du dir nicht noch ein zweites antun willst. Aber na gut. Immerhin hat mein Spruch seine Wirkung nicht verfehlt« Er zwinkerte. Er zwinkerte wirklich und sah dabei sogar total gut aus. Das Blut schoss mir ins Gesicht, das war echt zu viel für mich.
Damit er nicht noch einmal auf das Thema Treffen zurückkam, täuschte ich vor, dass ich zur Arbeit musste; auch wenn meine Schicht erst in einer halben Stunde begann und ich von hier aus nur ins Stadtzentrum fahren musste. Da ich keine gute Lügnerin war, versuchte ich mich, möglichst wage zu halten.
»Sorry, Evan, ich muss gehen, meine Schicht fängt gleich an« Er merkte dass ich log, nur war er gut darin, es zu verbergen. Als ich meine schwarze Jeansjacke anzog, und sie sorgfältig bis zu meinem Dekolleté schloss, fragte er mit erhobenen Augenbrauen:
»Werden wir uns bald wieder sehen?« Oh nein nein nein, genau das wollte ich vermeiden! Ich lenkte wieder nur vom Thema ab; versuchte eins auf tough zu machen.
»Schreib mir einfach, meine Nummer hast du ja.« Er nickte, und mit diesen Worten drehte ich mich um und stieg die Treppen hinab zum Ausgang der Bücherei. Was zur Hölle stimmte mit mir nicht? Wieso konnte ich mich nicht einfach auf ein Treffen mit ihm einlassen? Es war ja im Prinzip nichts anderes, als wenn wir es in der Bibliothek fortsetzen würden. Ich durfte nicht schlichtweg alle Jungs in eine Schublade stecken, nur weil mich einer verletzt hat. Evan war nicht Finn. Das musste ich mir langsam echt mal verinnerlichen. Ich überlegte, noch mal zurück zu gehen, und einem Treffen doch noch zuzusagen. Aber im wahren Leben war ich nicht ganz so mutig wie über WhatsApp, deswegen schrieb ich ihm eine kurz angebundene Nachricht, denn zu mehr war ich im Moment nicht im Stande und ich wollte es ihm ja auch nicht zu leicht machen.
Treffen klingt gut.