Kapitel 5
Der Geruch nach Zimt und Lebkuchen erfüllte die Luft auf dem Weihnachtsmarkt, durch den Celeste und ich schlenderten. Wir hatten uns dafür entschieden, erst am Samstag hinzugehen, da er Freitags besser besucht war. Der Asphalt war mit Heu und Schnee bedeckt; bei jedem Schritt knirschte und knackte es. Die Sonne war bereits untergegangen, der Himmel war klar, sodass man vereinzelt Sterne erkennen konnte. Romantische Holzhütten reihten sich um uns herum, die das verschiedenste Zeug anboten. In der Mitte des Weihnachtsmarkts stand der riesige Weihnachtsbaum, der leuchtete und funkelte.
Meine Freundin und ich aßen gebrannte Mandeln, als sie auf einen Stand rechts von uns aufmerksam wurde. Wir redeten über alles, nur nicht über das Thema Tony, denn das war dünnes Eis. Celeste war eindeutig noch nicht über ihn hinweg, ungeachtet der Tatsache, wie dreist er sich ihr gegenüber verhalten hatte. Gerüchten zufolge sei er gestern mit Jessica auf dem Schulgelände gesichtet worden, doch ich glaubte das nicht. Das war selbst für ihn eins zu viel. Außerdem war das Gerücht eh von jemandem in die Welt gesetzt, der seinen Senf zu dem ganzen Drama abgeben wollte.
>>Lily, guck mal! Da sind Duftkerzen!<< Wir waren beide totale Fanatiker von Duftkerzen, deshalb gingen wir zu gesagtem Stand und schauten sie uns genauer an. Celeste roch einmal an allen, und entschied sich dann für eine Vanillekerze mit einem roten Glas, das ein Weihnachtsmann und einige Rentiere zierte. Da mir keiner der Düfte so richtig zusagte, entschloss ich mich für ein ganz normales Teelicht mit der Aufschrift Merry Christmas und eine Kakaomischung im Glas. Celeste hatte ihre Tasche vergessen, also packte ich alles achtsam in meinen Jutebeutel ein.
Wir liefen entspannt weiter.
>>Ich habe so tolle Weihnachtskeksrezepte auf Pinterest gefunden, ich schicke dir daheim mal den Link<<, berichtete sie mir aufgeregt. Eine Sache, die ich so an ihr mochte, war, dass sie sich über jede Kleinigkeit freute.
>>Mach das, ich schick dir den Link zu einem Kochvideo fürs Rindergulasch. Du wolltest doch dieses Jahr deine Eltern überraschen, in dem du für sie kochst, oder?<<
>>Ja, aber ich weiß nicht. Ich hab letzte Woche Mac 'n' Cheese ausprobiert, und es lief irgendwie nicht so gut<< Sie verzog ihr Gesicht.
>>Was genau lief denn nicht so gut?<< Jetzt verzog sich ihr Gesicht noch mehr. >>Die Nudeln sind mir angebrannt<<, gab sie zu. Spielerisch kniff ich sie in den Arm.
>>Wir können ja zusammen kochen, wenn du magst<<, bot ich ihr an. Ich steckte mir gerade eine Mandel in den Mund, als ich meinte, Tony etwas weiter vorne zu erkennen. Sicher war ich mir noch nicht, und ich wollte Celestes Laune nicht ruinieren.
>>Das wäre echhhh...<<, weiter kam sie nicht, denn ich wollte keine Risiken eingehen, also drehte ich sie prompt zu einem Häuschen links von uns, wo Filzformen verkauft wurden. Natürlich interessierte ich mich kein Stück für diesen Krimskrams, dennoch hoffte ich, daraus einen kleinen Zeitpuffer zu gewinnen, in dem Tony schon so weit vorgelaufen war, dass wir ihm nicht mehr begegneten.
>>Filz? Seit wann stehst du auf Filz?<< Verwundert blickte sie mich an, während sie ein rotes Filzherz in ihrer Hand wendete.
>>Ich nicht, aber meine...Mom. Meine Mom steht total auf so Zeug<< Wenn ich schon so oft in Lagen gedrängt wurde, wo ich lügen musste, hätte mich Gott doch wenigstens mit der Fähigkeit ausstatten können, damit durchzukommen. Das Glück hatte mich diesmal aber nicht verlassen. Sie zuckte mit den Schultern und hielt mir das Herz hin. >>Kaufst du das? Sie wird sich bestimmt freuen.<< Verdammt. Ich nickte nur zerknirscht, dann bezahlte ich sage und schreibe fünf Dollar für diesen Plunder, den ich wahrscheinlich sowieso daheim entsorgen würde.
Ich vergewisserte mich, dass Tony vorne nicht mehr zu erkennen war, dann hakte ich mich bei ihr unter und wir liefen gemächlich weiter. Meine Augen waren dennoch auf höchster Stufe konzentriert, denn ich wollte jegliche Konfrontation mit dem Thema besagter Exfreund vermeiden. Zwischen uns herrschte Stille, die Art von einvernehmlich, bei der jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Meine Jackentasche vibrierte plötzlich, und ich zog mein Handy raus. Der Display zeigte mir eine neue Nachricht von Evan an. In meinem Bauch rumorte es plötzlich von Schuldgefühlen, weil ich Celeste noch nichts von ihm erzählt hatte. Ich wusste, sie würde sich für mich freuen, dennoch hatte sie erst kürzlich eine ziemlich dramatische Trennung hinter sich. Ich sehnte mich so sehr danach, mein Glück mit meiner besten Freundin zu teilen, nur hatte sie im Moment eine schwere Zeit. Aber vor allem, was wollte ich ihr überhaupt erzählen? Es war ja noch nichts richtiges passiert, Evan hatte mir ein Gedicht geschrieben und wir flirteten über SMS (Wenn man das flirten nennen konnte), aber mehr war auch nicht geschehen. Ich nahm mir vor, es ihr erst zu erzählen, wenn es wirklich ernst zwischen uns war.
Rosen sind rot,
Veilchen sind blau,
gibst du mir deine Nummer?
Das fänd ich schlau
Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Da es zu auffällig wäre, ihm jetzt zu antworten, steckte ich mein Handy wieder in meine Jackentasche.
>>Wieso grinst du wie ein Honigmelonenkuchenpferd?<< Mir entwich ein Lachen.
>>Honigmelonenkuchenpferd?<< Sie nickte, um es noch einmal zu verdeutlichen.
>>Bist du dir sicher, dass es nicht Honigkuchenpferd heißt?<< Eine leichte Röte legte sich über ihre Wangen.
>>Ist doch das Gleiche<< Sie zuckte mit den Schultern. Die gebrannten Mandeln drehten sich mir im Magen um, als ich Tony wieder vor uns laufen sah, doch diesmal war er nicht alleine. An der Hand hielt er Jessica Greendale, das Mädchen, worauf Celeste neidisch war. Also wurde das Gerücht doch nicht von irgendeinem Quacksalber in die Welt gesetzt! Ich wollte vehement versuchen, Celestes Aufmerksamkeit von ihnen abzulenken, aber es war zu spät. In dem Moment, in dem sie die beiden entdeckte, erstarrte sie wie eine Statue. Ihre Augen wurden rot, als versuche sie, die Tränen zurückzuhalten, und ihre Miene verzerrte sich vor unterdrückter Wut. Sie ballte ihre Fäuste; so hatte ich sie fast noch nie erlebt.
>>Schau nicht dahin<<, versuchte ich sie abzulenken, während ich versuchte, sie zu einem Stand zu schieben.
>>Wenn ich nicht hinschaue, sind sie trotzdem noch zusammen.<< Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht.
>>Wollen wir gehen? Wir sind ja eigentlich schon an allen Ständen vorbeigelaufen.<<
Ich hegte die Hoffnung, dass sie ja sagte, denn hier war gewagtes Terrain, und in solchen Momenten konnte ich sie noch nie wirklich einschätzen. Mir war unklar, ob sie sich jetzt auf ihn stürzen würde wie ein wild gewordener Säbelzahntiger, oder bei seinem Anblick den Niagarafällen Konkurrenz machen würde. So wie sie aussah, machte sie sich gerade bereit für die erste Variante, und ich wusste nicht so richtig, was ich davon halten sollte.
>>Er ist so eine Arschgeige, er hat keine Gefühle von dir verdient<<, versuchte ich es noch mal, aber ich hätte genauso gut mit einer Wand reden können. Sie starrte das frische Pärchen nur an, mit glimmenden Hass in den Augen, wie sie mit einander lachten. Tony war dabei, Jessica an einem Stand für Süßwaren ein Marzipanherz zu kaufen. Während wir da standen, machte die Menschenmenge einen gehörigen Bogen um uns herum. Wir gaben bestimmt ein komisches Abbild ab, das Mädchen, was aussah, als würde sie gleich jemanden verprügeln, und ein etwas kleineres Mädchen nebendran, was verängstigt dreinblickte.
Celeste schüttelte den Kopf, und wandte sich dann langsam ab. Ich konnte ihre Miene nicht deuten, also schloss ich sie in den Arm, und versuchte ihr, physisch sowie mental, eine Stütze zu sein. In meinen Armen fingen ihre Schultern an, zu zucken, deshalb umschloss ich sie nur noch fester, ganz egal, ob ich sie dabei erdrückte. Ich verstand nicht, was sie an diesem Kerl toll fand, dass sie so lange Liebeskummer wegen ihm hatte. Natürlich, er war ihr erster Freund, und sicherlich hatte sie sich eine gesunde Beziehung anders vorgestellt. Aber selbst ein Blinder musste doch erkennen, dass er mit Frauen umging wie mit Spielzeug. Vor allem war sie zu schlau, um auf so einen wie Tony reinzufallen.
Sie gehörte unter den Besten in unserer Jahrgangsstufe, und war auch sonst ein total kluger Mensch. Da musste doch noch mehr dahinterstecken. Ich bot ihr an, zu mir nach Hause zu gehen, da ich immer noch sturmfrei hatte, und dieses Mal nickte sie in meine Schulter.
Wir liefen gemeinsam nach Hause, schweigend, zwischen uns herrschte eine ungemütliche Stille, da keinem nach Reden zumute war. Ab und zu schniefte sie, dabei war ich mir nicht sicher, ob es an der Eiseskälte lag oder an der Sache mit Tony und Jessica. Ich war mit meinem beste-Freundinnen-Repertoire am Ende; noch nicht mal einen aufmunternden Spruch konnte ich raus hauen. Von Minute zu Minute wurde das Schweigen unangenehmer, doch ich hielt mich zurück irgendetwas zu sagen. Wenn sie nicht darüber reden wollte, drängte ich sie auch nicht dazu, sondern ließ ihr Zeit. Die Laternen beleuchteten den Fußweg in ebenmäßigen Abständen, sodass immer mal wieder ein Lichtschein Celestes Haar golden schimmern ließ. Ich hatte sie immer um ihre Haarfarbe beneidet; mit meinem braun hatte ich mich unentdeck gefühlt. Öfters spielte ich mit dem Gedanken, meine Haare zu färben, aber ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich durchziehen wollte.
Auf der Mitte des Weges spürte ich etwas kaltes nasses auf meiner Wange landen. Mit einem Blick nach oben registrierte ich, dass es anfing, zu schneien.
Ich lief voraus ins Dunkel, tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, während Tommy hektisch die Treppe runter rannte, um uns freudig zu begrüßen. Celeste war dicht hinter mir, sodass sie wenig von der Attacke abbekam. Ich kraulte Tommy hinter den Ohren, so wie er es am liebsten mochte, dann, endlich, betätigte ich den Lichtschalter. Celeste und ich gingen in die Küche, wo ich eine Salamipizza in den Ofen schob. Es war ihre Lieblingspizza, und sie war ein Mensch, den konnte man schon mit den kleinsten Sachen begeistern. Ich trank ein Glas Wasser, als sie endlich die Stille durchbrach.
>>Ich hab mit ihm geschlafen<<, brachte sie, mit zusammengepressten Mund hervor, dass ich mir im ersten Moment nicht sicher war, ob ich mich verhört hatte. Ich verschluckte mich an dem Wasser, bekam einen Hustenanfall, bei dem für kurze Zeit keine Luft mehr in meine Lungen gelang. Celeste sprang mir schnell zur Seite, und klopfte regelmäßig auf meinen Rücken. Der Hustenanfall verklang, und es blieb eine Totenstille zurück. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich war einfach sprachlos. Just in dem Moment piepte der Ofen, um zu signalisieren, dass die Pizza fertig war. Ich stand ein wenig unter Schock, was sie bemerkte, also machte sie sich daran, das Essen rauszuholen. Mir war der Appetit vergangen.
>>Wie, du hast mit ihm geschlafen?<<, fragte ich Celeste einige Zeit später, als sie sich genüsslich fast ein ganzes Stück Pizza in den Mund schob. Sie war schon immer so eine Fressmaschine gewesen, was mich wunderte, denn sie war schlank und trieb fast keinen Sport. Wir saßen uns gegenüber am Esstisch. >>Ich meine, so richtig geschlafen?<< Mein Stück Pizza lag unberührt vor mir.
Meine Freundin holte tief Luft, dann begann sie, zu erzählen.
>>Wir waren auf einer Party letzten Monat. Weißt du noch, die von Dean, als du nicht dabei sein konntest, weil du diese heftige Grippe hattest?<< Oh ja, diese Zeit würde ich ganz bestimmt nie wieder vergessen.
Ich nickte, um sie zum weiterreden zu animieren.
Dann erzählte sie mir, wie sie auf der Party Wahrheit oder Pflicht gespielt hatten und wie sie sich volllaufen gelassen hatte, als sie sah, dass Tony mit Jessica in einer Ecke stand, und geflirtet hatte. Sie war betrunken und neidisch; wollte ihm dann zeigen, dass sie die Richtige für ihn war. Eins führte zum anderen, und am nächsten Tag war sie komplett nackt in einem fremden Bett aufgewacht. Sie und Tony hatten nie wieder darüber geredet. Jetzt machte es klick bei mir. Deshalb hatte sie solche Befürchtungen gehabt, als Jessica Tonys Bilder geliket hatte! Nach ihrer Erzählung blieb mir erst einmal die Spucke weg. Sie hatte es komplett monoton runtergebetet, als hätte sie es auswendig gelernt.
>>Wieso hast du mir nichts davon gesagt?<<, fragte ich, aber nicht vorwurfsvoll.
>>Es war mir so peinlich. Und stell dir mal vor, jetzt sind sie auch noch zusammen, also ist meine schlimmste Befürchtung wahr geworden. Und jetzt habe ich meine Jungfräulichkeit an so eine...<< Sie brach ab, und ich sah wieder dieses wütende Funkeln in ihren Augen.
>>Arschgeige<<, führte ich fort, wobei sich ihr rechter Mundwinkel zu einer Andeutung eines Schmunzelns hochzog. Ich griff über den Tisch hinweg nach ihrer freien Hand, und drückte sie mitfühlend.
>>Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musst.<<
>>Muss es nicht. Ich bereue es, aber ich bin mir sicher, dass ich daraus lerne und meine Fehler nicht wiederholen werde.<< Mit diesen Worten hatte sie fast die ganze Pizza aufgegessen. Mein Stück lag immer noch unberührt vor mir. Sie guckte es gierig an, verschlang es fast schon mit ihren Blicken. Ich schob ihr den Teller zu.
>>Iss, bevor du es noch mit deinen Blicken ausziehst<< Sie lachte dankbar, und damit war das Eis für den Abend gebrochen.
Ein wenig später hatten wir uns schon in mein Bett eingekuschelt mit Tee und Ben&Jerrys. Wir zappten durch die verschiedenen Netflix-Empfehlungen und entschieden uns dann für den Film How to be single. Es tat gut, wieder unbeschwert mit ihr Lachen zu können. Während wir ein paar Filme nacheinander schauten, wurden meine Lider immer schwerer. Ich versuchte sie vergeblich, offen zu halten. Irgendwann gab ich dem Drang nach, und schloss sie komplett; driftete ins Land der Träume.