Kapitel 7
Ungeduldig wartete ich am Montagmorgen vor der Schule auf Celeste. Entgegen der letzten paar Tage war es heute einmal nicht frostig kalt, sondern angenehm kühl. Nächste Woche würden die Winterferien beginnen, wonach ich mich schon sehnte. Ich blieb noch wenige Minuten länger draußen stehen, dann hörte ich den Gong, der den Beginn der ersten Stunde verkündete, und ging ins Schulgebäude. Klamm und heimlich zog ich in einer Ecke, die gerade nicht von Lehrern besetzt war, mein Handy raus und schrieb ihr eine Nachricht. Besser gesagt, ein halbes Dutzend davon. Ich musste aufpassen, nicht erwischt zu werden, denn es galt ein striktes Handyverbot an unserer Schule.
Ein Lehrer lief in einem kleinen Abstand an mir vorbei, weshalb ich mein Handy hastig wegsteckte. Ich wunderte mich wirklich, was mit Celeste los war und weshalb sie nicht kam, ohne mir Bescheid zu sagen. Da ich die Hoffnung aufgab, dass sie noch kam, holte ich meinen Stundenplan raus und checkte, welchen Kurs ich als nächstes haben würde. Englisch.
Der Raum lag relativ weit hinten im Gebäude, doch ich sputete mich nicht, denn ich war sowieso schon zu spät. Ob ich jetzt eine Minute oder drei Minuten Verspätung hatte, war mir herzlich egal. Als ich ankam, war die Tür schon verschlossen.
Ich klopfte kurz an, dann schlüpfte ich durch. Meine Englischlehrerin, Mrs. Porter schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen streng an; forderte mich stumm auf, mich zu erklären. Ich straffte meine Schultern.
>>Meine Fahrradkette ist kaputt, deswegen musste ich laufen und hab länger gebraucht als sonst<<, behauptete ich so selbstbewusst wie möglich. Die Klasse war still; es wäre mir lieber wenn ihre ungeteilte Aufmerksamkeit nicht mir gelten würde.
>>Irgendwie eigenartig, wenn man bedenkt, dass ich dich vorhin noch entspannt am Eingang herumlungern gesehen habe...<< Verdammt. Irgendwo aus der Menge hörte ich ein >>Oh scheiße<<, aber ich konnte beim besten Willen nicht sagen, vom wem es kam. Gelächter ertönte. Die Scham meiner ertappten Lüge verfärbte meine Wangen rot. Ich konnte vom Glück reden, dass sie nicht gesehen hatte, dass ich am Handy war.
>>Ich würde sagen, das gibt Nachsitzen, einmal fürs zu spät kommen, und dann noch mal für das Anlügen einer Lehrkraft. Gib mir bitte deinen Stundenplan, damit ich dir eintragen kann, wann du zu kommen hast<< Innerlich verdrehte ich die Augen. Sie war doch nur so streng, damit sie von den Schülern, trotz dass sie so jung war, respektiert wurde. Mrs. Porter kreiste zwei Stunden mit rot ein, gab mir den Stundenplan wieder und damit auch eine stumme Aufforderung, mich an meinen Platz zu setzen, der sich in der letzten Reihe befand.
Nachdem ich meine Englischsachen ausgepackt hatte, wagte ich einen Blick auf die Markierungen. Direkt morgen in meiner Mittagspause vor Mathe würde das erste Nachsitzen stattfinden, dann am darauffolgenden Tag noch einmal direkt nach der Schule.
Den Rest der Stunde versuchte ich mich so gut es eben ging zu konzentrieren, damit ich von Mrs. Porter nicht aufgerufen wurde und dann ohne eine Antwort dastand.
Ich wunderte mich immer wieder, weshalb Celeste nicht gekommen war. Vielleicht hatte sie ja auf dem Weg hier her einen Unfall gehabt.
Drängend tippte ich mit meinen Händen vor Nervosität auf den Tisch. Dann, endlich, die lang ersehnte Pause wurde mit der eintönigen Melodie verkündet, die über unsere Lautsprecher ablief.
Ich ging auf direktem Wege in die Mädchentoiletten, das war nämlich der Ort, an dem jeder das Handyverbot brach. Ich quetschte mich rein, da einige Mädchen anstanden und somit den meisten Platz blockierten. So gut wie möglich versuchte ich, das Getratsche auszublenden, das hier immer stattfand.
Das Display zeigte mir an, dass ich drei verpasste Nachrichten hatte. In denen berichtete Celeste mir, dass sie plötzlich krank geworden war und es ihr leid täte, dass sie sich nicht früher gemeldet hatte, aber ihr kleiner Bruder ihr Handy vor ihr versteckt gehalten hatte.
Ich atmete erleichtert auf, als ich dies las, denn innerlich hatte ich mich schon auf das Schlimmste vorbereitet.
Mit einer Nachricht versprach ich ihr, dass ich sie heute Abend besuchen kommen würde, und packte anschließend mein Telefon wieder in meine Tasche.
Tony und Jessica standen vor mir an der Warteschlange für die Sandwiches.
Ich machte mich so klein und unauffällig wie möglich, denn ich hatte ehrlich keine Lust auf eine weitere Konfrontation. Erst recht, wenn man bedachte, dass unsere letzte mit den Worten >>Wir sind noch nicht fertig miteinander<< geendet hatte. Mit Tony war in letzter Zeit wirklich nicht gut Kirschen essen, und ich hegte die starke Vermutung, dass ich nicht auf Jessicas Unterstützung zählen konnte, wenn er es hier und jetzt auf mich abgesehen hatte.
Tony flüsterte ihr gerade etwas ins Ohr, woraufhin sie den Kopf in den Nacken warf und kokett lachte. Schön, dass wenigstens eine ihre gute Laune beibehielt. Einige Sekunden später aßen sie sich gegenseitig auf – Pardon – küssten sich. Zum Glück war Celeste nicht da, der Anblick hätte sie bestimmt verletzt; gleich nachdem er sie angeekelt hätte.
In der letzten Stunde hatte ich Geschichte, welches eines meiner Lieblingsfächer war. Trotzdem hatte ich Mühe, dem Stoff zu folgen, denn ich wurde von Minute zu Minute nervöser. Meine Gedanken schweiften abermals zu Evan ab. Eine Nachtwanderung hatte ich noch nie gemacht. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, dass es zu früh war; dass er genauso gut ein Axtmörder sein könnte, der es auf junge Mädchen abgesehen hatte. Aber aus irgendeinem Grund vertraute ich ihm jetzt schon bedingungslos.
Einerseits hatte ich Bedenken, dass es komisch werden würde, wenn wir uns außerhalb der Bibliothek sehen, aber andererseits wollte ich ihn unbedingt besser kennenlernen; mehr über ihn herausfinden.
Als ich nach Hause kam, lag Tommy träge in seinem Korb. Meine Eltern hatten versucht, anzurufen, und ich nahm mir vor, sie gleich zurückzurufen. Ich streichelte Tommy, und redete in Babysprache mit ihm.
>>Wer ist ein guter Junge, ja wer ist es? Ja du, du bist es!<< Dies heiterte ihn auf. Kurz überlegte ich, ob ich ihn mitnehmen sollte heute Abend, und verschob den Gedanken auf nachher, jetzt musste ich mich erst einmal auf anderes konzentrieren. Zum Beispiel, was ich anziehen würde.
Prüfend musterte ich den Inhalt meines Kleiderschrankes. Im Kopf ging ich verschiedene Outfits durch, doch keines schien mir wirklich perfekt für den Anlass. Schließlich entschied ich mich für eine schlichte schwarze Hose und ein grünes Oberteil; denn so genau würde er mich hoffentlich sowieso nicht betrachten. Wir trafen uns ja erst bei Sonnenuntergang.
Aus dem selben Grund entschied ich mich dagegen, mich zu schminken. Außerdem; wenn Evan mich wirklich mochte, würde er mich ungeschminkt auch akzeptieren.
Nachdem ich meine Klamotten aufs Bett gelegt hatte, holte ich den Laptop aus dem Bürozimmer meines Vaters und ging damit in die Küche. Ich suchte mir ein Rezept aus dem Internet aus, welches ich leicht nach kochen konnte. Als die Spaghetti im heißen Wasser kochten und neben dran die Bolognesesoße in der Pfanne brutzelte, bekam ich langsam Hunger, den ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Bestimmt lag das an meiner Aufregung. Nach dem Essen rief ich meine Mom an, um sie zu fragen, wie es Dad ging, Während das Telefon tutete, überlegte ich, wie das diesjährige Weihnachtsfest wohl aussehen würde, wenn meine Eltern es nicht rechtzeitig schafften.
Sie ging nicht dran. Da ich noch nicht aufgeben wollte, rief ich noch Dad an, der war aber auch nicht erreichbar. Sorge nagte an meinem Bauch. Eigentlich sollte ich schon daran gewöhnt sein, weil sie öfter wegen ihres Berufes auf Reisen waren als sie Zeit daheim verbrachten. Trotzdem gab es mir immer einen kleinen Stich, auch wenn sie wahrscheinlich gerade ein Leben retteten.
Nachdem ich Tommy angeleint hatte, lief ich mit ihm um ein paar Blocks. Ich versuchte mich möglichst zu beruhigen, und einfach lockerzulassen. Der schlimmste Fall war, dass das Treffen eine totale Katastrophe werden würde. Und selbst dem könnte Abhilfe geschaffen werden, da ich ja nicht gezwungen war, ihn wiederzusehen. Doch, wenn ich ehrlich war, widerstrebte es mir bei dem Gedanken, ihn nie wieder zu sehen.
Die Sonne war kurz davor, unterzugehen, als ich von unten das Telefon klingeln hörte.
>>Hallo, Schatz<<, meldete sich die beruhigende Stimme meiner Mutter.
>>Hey, Mom<<, sagte ich. >>Wie geht es euch? Und Dad? Ist er wieder gesund? Kommt ihr bald heim? Meint ihr..<< Sie unterbrach mich.
>>Nicht so hastig. Ich habe eine zwölfstündige Operation hinter mir und bin dementsprechend etwas geschafft. Ansonsten geht es mir gut. Dein Vater macht kleine Fortschritte, aber ich weiß worauf du hinaus willst. Es kann sein, dass wir bis Weihnachten wieder zu Hause sind, aber mach dir lieber keine zu großen Hoffnungen, ihm geht es nämlich noch nicht wirklich besser<<, berichtete sie. >>Es tut mir sehr leid, Schatz<< Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mich die Neuigkeit betrübte.
>>Ist schon in Ordnung, er soll sich ruhig auskurieren.<< Durch das Telefon hörte ich ihren Pager, der ihr vermutlich gerade verkündete, dass sie schnellstens zu einem Patienten musste.
>>Ich muss los, wir sprechen uns bald<<
>>Bis bald<<, sagte ich, doch da hatte sie schon aufgelegt.
Dick eingehüllt in eine Winterjacke und mit einer Taschenlampe ausgerüstet verließ ich das Haus. Der Himmel war in ein zartes blassblau getaucht, während die Sonne fast am Horizont angelangt war. Ich lief die wenigen Meter zum Wald, wo ich auch schon Evans Silhouette erkennen konnte. Mit der Taschenlampe leuchtete ich in Richtung seines Gesichts, und sah, dass er wie meistens sein schiefes Grinsen aufgelegt hatte, welches ich vergötterte. Er hielt ebenfalls eine Taschenlampe in der Hand und hatte einen Rucksack auf dem Rücken.
>>Ich würde dich ja gerne wieder mit einem Gedicht begrüßen, aber leider hat mich meine Muse verlassen<<, sagte er, und seine Augen blitzten schelmisch auf. Ich imitierte den besten traurigen Hundeblick von Tommy, und hoffte, dass es wenigstens ein bisschen süß aussah. Dramatisch fasste er sich ans Herz, als wäre er gerade angeschossen worden. >>Den Blick hast du echt zu gut drauf<<
>>Einer der vielen Vorteile davon, einen Hund zu haben<<, meinte ich süffisant grinsend. Evan lief in den Wald hinein, und ich folgte ihm.
>>Ich wollte auch immer einen Hund haben<<, sagte er scheinbar leichthin, doch ein trauriger Unterton schwang in seiner Stimme mit.
>>Darf ich fragen, wieso du keinen hattest?<< Hoffentlich war ich da auf kein unangenehmes Thema gestoßen. Die Sonne war nun komplett untergegangen, weshalb ich meinen Blick und meine Taschenlampe kontinuierlich auf den Boden richten musste, um zu sehen, wohin ich trat. Es war eine kleine Erleichterung, dass er dicht neben mir lief, denn mir war etwas unwohl bei dem Gedanken, dass ich mich verlaufen könnte.
>>Mein Stiefvater hat eine Hundeallergie<<, meinte er schlicht. Was wohl mit seinem Vater passiert war... Aber ich wagte nicht, nachzufragen. Deshalb ging ich auf das vermeintlich weniger persönliche Thema ein.
>>Was hält dich davon ab, dir jetzt einen Hund zu holen?<< Wir liefen durch das Dickicht; die Luft hier war frisch und angenehm. Evan schien genau zu wissen, wohin wir liefen; jeder seiner Schritte war präzise und war exakt auf den Aussichtspunkt ausgerichtet.
>>Geld und Zeit. Wobei das Zweite eigentlich keine Rolle mehr spielt, weil ich dieses Semester mein Studium abschließe. Das Hauptproblem ist dann eher Geld, weil ich mir erst einmal ein stabiles Einkommen aufbauen möchte. Vielleicht lege ich mir in ein, zwei Jahren eine Bulldogge zu. Was hast du für einen?<<
>>Einen Dobermann. Habe ihn vor vier Jahren zu meinem Geburtstag bekommen<<, keuchte ich, denn ich war nicht in Form und es ging ziemlich steil bergauf. Wieso bloß hatte er keine Schwierigkeiten beim Reden?
>>Woher weißt du, wo wir hin gehen?<<, fragte ich. Bei jedem Schritt von uns raschelten Blätter oder knirschte das Kies. Die Heuschrecken, die zirpten, übten eine beruhigende Wirkung auf mich aus.
>>Mein großer Bruder und ich sind hier früher fast jeden Tag wandern gegangen. Er hat mir einiges über die Pflanzen, die hier wachsen, beigebracht.<< Man konnte seine Bewunderung für seinen Bruder raus hören. Irgendwie gefiel mir die Tatsache, dass Evan jemanden hatte, zu dem er aufblicken konnte. Er blieb stehen – Gott sei dank ließ mir das Zeit zum Atmen. Er schien mir mit der Taschenlampe ins Gesicht, welches bestimmt rot wie eine Tomate war. Seine Züge wurden weich. >>Ist alles in Ordnung? Willst du kurz eine Pause machen?<< Ich schüttelte meinen Kopf, aber lächelte ihn dankbar an.
>>Es geht schon. Du hast ein ziemliches Tempo drauf<< Er lächelte verlegen; mein Herz schlug noch schneller als zuvor. Wir setzten unseren Weg fort.
Nach einiger Zeit begann er wieder zu reden.
>>Du wohnst hier, ich habe gesehen wie du aus deinem Haus gekommen bist.<< Er machte eine kurze Redepause, was wahrscheinlich einen dramatischen Effekt abgeben sollte. Dann drehte er sich um, beleuchtete von unten sein Gesicht mit der Taschenlampe, sodass es nur noch aus gruselig wirkenden Schatten bestand. Ich nickte nur, denn ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte.
>>Ich kenne mich hier besser aus als du. Ich kenne in diesem Wald Ecken, die schon lange nicht mehr besucht worden sind.<< Er kam mir näher, sein Gesicht immer noch verzogen.
>>Ist das der Teil bei dem ich Angst bekommen sollte?<< Evan konnte seine Grimasse nicht mehr halten; die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel, dann entwickelte es sich zu seinem üblichen Grinsen.
>>Du hast den Test bestanden. Du bist echt badass, das muss ich zugeben. Jeder den ich kenne, wäre schreiend davongelaufen.<< Ich konnte nur unschwer ein Kichern unterdrücken.
>>Du machst nicht wirklich einen furchteinflößenden Eindruck auf mich. Da musst du dir echt was originelleres einfallen lassen<<, spöttelte ich und er verdrehte belustigt die Augen. Wir setzten uns in Bewegung.
>>Aber was ich eigentlich sagen wollte... Du wohnst hier. Also schätze ich mal, dass der Wald dein zweiter Zufluchtsort ist. Vor allem, weil du ihn auch vorgeschlagen hast als Treffpunkt.<< Ich zog die Augenbrauen hoch.
>>Was ist denn mein erster Zufluchtsort?<< Wenn er jetzt das sagte, was ich dachte...
>>Die Bibliothek.<< Jackpot. >> Ich kenne niemanden, der so viel Zeit in der Bibliothek verbringt.<< Empört schnappte mich nach Luft; lachte aber gleichzeitig und boxte ihm spielerisch gegen den Arm.
>>Du verbringst mindestens genauso viel Zeit dort<< Er grinste mich einfach nur an und nickte bestätigend.
>>Ja das stimmt allerdings.<< Wir liefen weiter. Ich konnte gar nicht einschätzen, wie viel Zeit bereits vergangen war, seit wir los gewandert waren.
Mir war egal, dass ich morgen Schule hatte und ich vermutlich den ganzen Tag total müde war. Die Zeit, die ich mit Evan verbrachte, war es mir allemal wert.
Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her. Irgendwann sagte er: >>Jetzt müssen wir nur noch den kleinen Abschnitt hoch klettern, und schon sind wir da<< Ich schaute nach oben. Die Baumwipfel versperrten die Sicht auf den Himmel, aber ich war mir fast sicher, dass es eine wolkenlose Nacht war.
Evan machte seine Taschenlampe an seinem Gürtel fest; ich tat es ihm gleich. Er kletterte zuerst auf den felsigen Vorsprung, dann nahm er mich bei den Händen und zog mich hoch. Mein Puls schnellte in die Höhe bei seiner Berührung. Ein Teil von mir hoffte, dass er mir absichtlich geholfen hatte, um mich berühren zu können, aber ich verdrängte diesen Gedanken unwirsch. Er war einfach nur ein Gentleman. Wir mussten noch an ein paar Bäumen vorbeigehen, schon waren wir da... Mein Herz machte einen Satz. Ich war noch nie bei so später Nacht im Wald gewesen, geschweige denn hier oben. Evan und ich standen dicht nebeneinander; und ich brauchte erst einmal eine Weile, um den ganzen Ausblick zu visualisieren; so erstaunt war ich. Von hier aus konnte man die Stadt in ihrer ganzen Pracht von oben sehen, der Kirchturm, unsere Schule, die vielen Häuser. Ich konnte sogar den blinkenden Weihnachtsbaum, der sich in unserer Stadtmitte befand, sehen. Die meisten Fenster der Häuser leuchteten, sodass es einem Lichtermeer glich. Ich war so gebannt von der Aussicht, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass Evan sich neben mir hingekniet hatte und in seinem Rucksack kramte. Er holte ein eingeklapptes Stativ raus, faltete es auseinander und stellte es auf. Er hatte doch nicht wirklich...?
Dann holte er auch noch eine Kamera raus. Und was für eine das war; sie war um einiges besser ausgestattet als die meine. Ich schaute ihn ungläubig an; ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er sie mir in die Hand drückte. >>Du siehst aus als hättest du ein Geist gesehen<<, meinte er.
Ich begutachtete die Kamera in meinen Händen. >>Der reine Wahnsinn<<, hauchte ich. Er setzte einen bescheidenen Gesichtsausdruck auf, der aber klar durchscheinen ließ, dass er sich freute.
>>Na ja, du hast ja gesagt du würdest gerne alles Schöne auf der Welt fotografieren...<< Evan zuckte mit den Schultern. >>Und ich will ja erst einmal sehen, was du drauf hast, bevor du mich fotografierst<< Er zwinkerte, was meine Knie weich werden ließ.
>>Darf ich wirklich?<<, fragte ich. Evan bejahte. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass er sich noch erinnern konnte, was ich ihm gesagt hatte. Ich konnte einfach generell nichts von dem ganzen fassen.
Die Kamera machte ich am Stativ fest und sank in die Hocke. Ich zoomte näher ran und wieder raus, bis ich das Gefühl hatte, das Bild richtig eingefangen zu haben. Währenddessen spürte ich die ganze Zeit Evans Blick auf mir. Meine Hand zitterte ein wenig, als ich den Auslöser betätigte.
Ich begutachtete das Bild, dass ich geschossen hatte. Verwackelt. Ich seufzte leise und konzentrierte mich, mir seiner Nähe nicht allzu bewusst zu sein. Erst als ich dies gemeistert hatte, gelang mir ein gutes Foto, wenn nicht sogar ein sehr gutes. Die Lichter der Stadt standen in einem starken Kontrast zum Nachthimmel, an dem jedoch der Vollmond schien.
>>Darf ich es anschauen?<<, fragte er, und setzte sich neben mich. Unsere Knie waren kurz davor, sich zu berühren. >>Definitiv.<<, sagte er schlicht. In meinem Gesicht bildete sich anscheinend ein einziges Fragezeichen ab, denn er sagte: >>Du hast es definitiv drauf<< Ich konnte nicht umhin, ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Im milchigen Schein des Mondlichtes schimmerten seine Augen karamellfarben. Sie glitten kurz zu meinem Mund, dann schaute er mir in die Augen, als würde er auf eine Bestätigung warten. Würde er mich gleich küssen? Mein ganzer Körper befahl, dass er sich endlich zu mir beugen solle, aber in meinem Kopf herrschte ein Chaos. Zum Glück wurde mir die Entscheidung abgenommen: Er verringerte den letzten Abstand zwischen uns und streifte meinen Mund mit dem seinen. Die Schmetterlinge in meinem Bauch stoben in alle Richtungen auseinander, während er mich weiterhin behutsam küsste. Evans Mund war geschmeidig wie Honig und schmeckte nach etwas, was ich nicht ganz einordnen konnte. Mit einer Hand strich er eine mir ins Gesicht gefallene Strähne hinters Ohr, und bei dieser unvermittelten sanften Geste wurden meine Knie weich. Ich verlor jegliches Zeitgefühl und alle Gedanken in meinem Kopf waren pausiert; ich wollte am liebsten nichts anderes mehr tun, als ihn zu küssen. Das musste ich unbedingt nachher Celeste erzählen...