Kapitel 14
Er zog mich aus. Stück für Stück entblößte er mehr von meiner Haut. Ich bemerkte Unsicherheit in seinen Augen, ein kurzes Zögern, doch ich schob es auf seine Nervosität vor der Abreise. Finn küsste mich am Hals, ließ seinen Mund dort verweilen und verpasste mir dann einen Knutschfleck. Ich stöhnte leise, forderte ihn dazu auf, weiterzumachen. Seine Hände umgriffen mein Gesicht, während er mir tief in die Augen blickte. Da nur meine Lichterkette angeschaltet war, konnte ich seine Augenfarbe nicht richtig erkennen, aber seine Augenfarbe könnte ich auch im Schlaf bestimmen. Himmelblau. >>Ich liebe dich<<, hauchte ich, und er küsste mich lange und innig als Antwort. Ich konnte gar nicht beschreiben, wie sehr ich ihn liebte. Mein ganzer Körper sehnte sich nach noch mehr Nähe von ihm, noch mehr Finn. Finn Robertson. Ich wollte ihn, nur ihn, mein ganzes Leben lang. Für immer.
Wir wussten beide, worauf es in dieser Nacht hinauslaufen würde. In einer Woche würde er mich verlassen, und ein Austauschjahr nach Deutschland beginnen. Meine Augen brannten ein wenig bei dem Gedanken, doch das Glück, hier und jetzt mit ihm zu sein, überschattete alle schlechten Gedanken. Nach dem er aufgehört hatte, mich zu küssen, fragte er mich beinahe atemlos:
>>Bist du dir auch wirklich sicher?<< Ich nickte entschlossen, denn Angst hatte ich nicht. Celeste und ich hatten schon ziemlich viele Artikel in Mädchen-Zeitschriften gelesen, ich wusste also genügend Bescheid. Es würde zuerst ein wenig wehtun, vielleicht auch bluten, doch dann würde es schön werden. Durch die zahlreichen Stunden, die wir mit dem Lesen von besagten Artikeln verbracht hatten, war ich jetzt also bestens vorbereitet. Zumindest dachte ich das. Denn noch so viele Artikel oder Erfahrungsberichte hätten mich nicht vorbereiten können auf das, was mein Herz zersplittern würde.
>>Ja. Ich bin bereit. Hast du die Kondome?<<, fragte ich. Ohne Kondome würde ich nämlich auf gar keinen Fall mit ihm schlafen, Pille hin oder her.
>>Einen Moment, die sind in meiner Hosentasche. Kannst du das Licht anmachen, ich kann sie im dunkeln nicht finden<<, sagte er, und ich schaltete meine Nachttischlampe an, die genug Licht spendete, um mein ganzes Zimmer ein wenig heller zu machen. Ich saß auf meinem Bett, während er das Kondom aus seiner Hosentasche fischte. Dann begegnete sein Blick dem meinen. Sein Blick wanderte an meinem nackten Körper entlang. Dann blieb er an der Stelle meiner Narbe hängen. Er runzelte die Stirn. >>Was ist das?<<, fragte er, und nickte mit dem Kinn in Richtung Narbe. Wir hatten noch nie darüber geredet, da ich es nicht wirklich für nötig gehalten hatte, aber seine Reaktion überraschte mich. Wieso kam er denn nicht einfach zurück zu mir ins Bett?
>>Meine Narbe, da hatte ich mal eine Operation am Herz. Das weißt du doch<<, erklärte ich. Er atmete hörbar ein, als müsste er sich zu etwas überwinden.
>>Aber du hast mir nie erzählt wie groß sie ist und...hässlich<<, sagte er, und ich fühlte mich von Sekunde zu Sekunde schlechter. Was hatte er da eben gesagt? Er fand meine Narbe hässlich...? Nein, das konnte nicht wahr sein. Mein Finn würde niemals etwas derart schrecklich Gemeines zu mir sagen!
>>Ich... ich hätte nicht gedacht, dass das von Bedeutung wäre<<, sagte ich, merklich eingeschüchtert. Er schüttelte nur den Kopf, und begann plötzlich, seine Hose anzuziehen. >>Was machst du da?<<, fragte ich mit zitternder Stimme. Finn winkte mir ab, und schaute mir nicht einmal mehr in die Augen. >>Finn? Finn! Bitte mach daraus jetzt keine große Sache <<, rief ich, während er sich anzog. Schlagartig fühlte ich mich entblößt, und ich spürte, wie sich Druck in meinem Kopf aufbaute. Ich war kurz davor zu weinen, die Tränen verschleierten bereits meinen Blick. Er durfte jetzt nicht gehen, ich wollte ihn nicht verlieren. Finn war mein ein und alles, ohne ihn konnte ich nicht mehr. Ohne ihn würde ich verrückt werden, wenn ich ihn schon ein Jahr lang nicht sehen konnte, wollte ich wenigstens wissen, dass er zu mir gehörte. Als ich kurz wieder klare Sicht hatte, sah ich, wie es plötzlich Evan war, der mich anstarrte. Dann verschwand er aus der Tür. Ich wachte auf.
Ich lag die ganze restliche Nacht wach und starrte mit leerem Blick an die Decke. Noch einmal die Nacht zu durchleben, als Finn mich verlassen hatte, war die Hölle für mich. Bis jetzt hatte ich fast jeden Gedanken daran verdrängt, und auch gar nicht mehr im Detail darüber nachgedacht. Mein Herz klopfte wie wild, doch ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Etwas warmes lief mir die Wangen hinunter, es waren Tränen. Ich wusste nicht einmal, weshalb ich weinte, der Alptraum hatte mich schlichtweg überrumpelt. Dass Finn am Ende zu Evan wurde, machte mir nur umso mehr bewusst, wie sehr ich Angst davor hatte, dass Evan mich genauso verlassen würde. Es würde auch genauso kommen, ich wusste es. Jetzt war es ja sowieso zu spät für mich, ich hatte mich schon unwiderruflich in ihn verliebt. Diese Tatsache machte mir eine Heidenangst. Genauer gesagt war es das Verletzlich sein, vor dem ich mich fürchtete. Denn nur der, den man liebte, konnte einen auch verletzen.
Da ich es nicht einsah, einfach nur herumzuliegen, ging ich ins Bad. Ich würde sowieso nicht mehr einschlafen können, und zwei Stunden lang zu schlafen brachte genauso wenig wie gar nicht zu schlafen. Um etwas wachzuwerden, wollte ich also duschen. Ich schloss hinter mir ab, und versuchte, so leise wie möglich zu sein, da es buchstäblich mitten in der Nacht war. Ein unangenehmes Gefühl schlich sich bei mir ein, als ich mein Oberteil auszog, und ich meine nicht schön verheilte Narbe betrachtete.
Mit den Fingern fuhr ich an ihr entlang, so wie es Evan tun könnte, aber ich wollte ihm das nicht zumuten. Wenn ich meine Narbe nicht liebte, würde er sie auch nicht lieben. Das konnte ich auch nicht von ihm erwarten. Beim Gedanken daran, wie er mich angewidert anschauen könnte, wenn er sie das erste Mal sah, wurde mir das Herz schwer. Frustriert seufzte ich auf; wenn ich sie doch nur überschminken könnte! Aber das ging leider Gottes nicht, dafür war sie zu schwülstig und dick. Ich hatte es schon oft probiert, teilweise stand ich schon stundenlang vor diesem Spiegel, beim verzweifelten Versuch, sie mit teurem Make Up zu überschminken.
Vor allem nach dieser Nacht mit Finn... Einen ganz schönen Knacks hatte es bei mir hinterlassen, dass er einfach gegangen war, ohne mir auch nur eine einzige Chance zu lassen, ohne mich, trotz der Narbe, zu lieben. Eigentlich sollte mich seine Meinung nicht interessieren, doch alleine durch ihn hatte ich solch eine Angst, dass Evan mich jetzt auch verließ. Und das würde ich garantiert nicht überleben. Ich empfand für Evan zwar noch nicht das, was ich für Finn empfunden hatte, doch wenn wir so weitermachten wie bisher, sah ich dem kein Hindernis im Weg stehen. Doch das musste ich jetzt ändern. Mir blieb keine andere Wahl, als mit Evan Schluss zu machen, wenn ich dem Schmerz entgehen wollte. Ich seufzte resigniert, und konnte kaum glauben, dass ich das tun musste. Doch ich musste mich einfach von dem Schmerz beschützen, den er mir zufügen konnte. Es war einfacher zu sagen, dass er gehen sollte, bevor er mich von sich wegstieß.
Ich stieg unter die heiße Dusche, mit vor Schlafentzug und Angst zitternden Beinen.
Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, schlüpfte ich in meine Pyjamas. Dann legte ich mich wieder ins Bett, und entschied mich dazu, wieder einmal etwas zu lesen, was ich schon ewig nicht mehr gemacht hatte. Mein Stapel ungelesener Bücher betrug immer noch 22, ein gewaltiges Ausmaß, was danach verlangte, verringert zu werden. Dennoch konnte ich mich nicht richtig konzentrieren, abermals wanderten meine Gedanken in Richtung Evan. Ich wollte ihn nicht verletzen, alles andere als das, und alleine der Gedanke, wie er mich mit seinen traurigen braunen Augen anschauen könnte, brach mir das Herz. Doch er würde es ohnehin beenden, also besser früh als spät.
Die Entscheidung, die ich getroffen hatte, fühlte sich falsch an, aber auch richtig. Ich denke, die Vorstellung fühlte sich falsch an, ohne Evan zu sein. Aber es fühlte sich richtig an, nicht von ihm verletzt zu werden.
Irgendwann musste ich wohl weggedriftet sein, denn als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, ging bereits die Sonne auf. Mein Arm hatte sich im Schlaf auf das Buch gelegt, weshalb einige Seiten ein wenig zerknittert waren. Ich strich sie behutsam glatt.
Es wurde langsam Zeit.