„Du redest nicht gerne, was?“ die Frau mit den wilden, orangen Haaren ließ sich lässig neben dem tragbarem Ofen in den Schneidersitz fallen, in der einen Hand einen Spieß, auf dem etwas undefinierbares, totes mit sehr vielen Beinen steckte.
Das noch immer triefnasse Mädchen kniete ihr gegenüber und umklammerte mit beiden Händen einen dampfenden Becher. Sie warf ihrer Retterin einen nervösen Blick unter dem blonden Pony hervor zu. Es waren erstaunlich große, hellblaue Augen. Sie erinnerten an ein Rehkitz.
Als das Mädchen nicht antwortete, verdrehte die Frau leicht die Augen. „Komm schon, ich beiße nicht. Sag mir wenigstens, was dein Name ist!“
Das Mädchen starrte in seinen Tee und piepste etwas.
„Was?“
„Jo. Ich heiße Jo.“
„Einfach nur Jo?“
Das Mädchen nickte und ein trotziger Strich erschien um die dünnen Lippen. Die junge Frau hob eine Augenbraue, fragte aber nicht weiter nach. Stattdessen streckte sie die Hand über den kleinen Ofen: „Ich heiße Camilla.“ stellte sie sich vor.
Nach kurzem Zögern ergriff Jo ihre Hand mit schmalen, kalten Fingern und ließ die ihre schütteln. Dabei starrte sie unwohl auf den Spieß in Camillas anderer Hand. Was daran hing – vermutlich ein großer, roter Tausendfüßler – schien doch noch ein bisschen zu zappeln.
Camilla folgte ihrem Blick: „Hast du Hunger?“
Sie öffnete die Ofentür und legte den Spieß hinein. „Soll ich dir was holen?“
Jo schüttelte entsetzt den Kopf.
Camilla grinste. „Ich habe auch Brot.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang sie auf und lief los. Jo starrte ihr hinter her und zitterte weiter vor sich hin.
Sie saß auf dem dunklen Felsen einer hohen Klippe. Unter ihr rauschte das Meer. Auf der anderen Seite ragte der Rest der Klippe dunkel in den Abendhimmel. Die zerklüftete Steinwand versteckte Camillas Höhle, in der die Ältere zu wohnen schien. Und die Jo in den nächsten Tagen ebenfalls bewohnen durfte. Camilla sah ihr an, dass sie sonst niemanden hatte.
Sie starrte in ihren Becher. Camilla hatte behauptet, es wäre Tee. Aber Jo war sich sicher, dass ihr etwas aus der sanft braunen Tiefe zugeblinzelt hatte. Vorsichtig probierte sie einen Schluck und verbrannte sich die Lippen.
Sie zog scharf die Luft ein, und musste husten, weil der Wind salzig und kalt war.
Derartig belehrt pustete sie über den Tee und beobachtete, wie die Dampfwolke vom Wind getragen auf das Meer hinaus wehte, bevor sie zerfaserte. Jo drehte sich der unendlich weiten, dunkelblauen See zu und starrte auf den Horizont. Irgendwo dort hinten lag der Hafen und ihre Heimatstadt. Kleine Funken stoben von dem Ofen und trieben über die weiße Gischt.
Jo seufzte traurig.
Langsame Schritte näherten sich. Jo drehte nur halb den Kopf, und erkannte Camilla. Die Ältere setzte sich leise an ihren Platz. Jo sah weiter auf das Wasser hinaus.
„Du vermisst deine Familie?“ riet Camilla. Jo seufzte erneut und nickte.
„Was ist passiert?“
Jo starrte wieder in ihren Tee. „Sie sind tot.“ murmelte sie.
Camilla nickte wissend und reichte ihr das Brot herüber. „Ich habe dir auch was zum Anziehen mitgebracht. Es ist zu kalt, um nur im T-Shirt hier zu sitzen.“
Jo nahm das Brot und eine etwas zu große, dunkelblaue Kapuzenjacke entgegen.
„Nicht mehr der letzte Schrei, aber immerhin warm.“ sagte Camilla.
Jo nickte und schlüpfte in die Jacke. Die Ärmel rutschten ihr über die Hände. Vorsichtig nahm sie einen Bissen von dem Brot. Es schmeckte erstaunlich lecker und schien nicht vor kurzem noch gelebt zu haben. Camilla knabberte in der Zwischenzeit an ihrem Tausendfüßler.
Sie schwiegen in die Nacht hinein, während langsam immer mehr Sterne am Himmel erschienen. Jo trank ihren Tee in kleinen Schlucken. Camilla nahm ihr Airboard und erneuerte den knall-orangen Anstrich, der Flammen darstellte. Der auffrischende Wind spielte mit ihrem langen, dunklem Umhang, unter dem jedoch ein modernes T-Shirt, Rock und Stumpen über den weißen Tennisschuhen aufblitzen – alles im gleichen Orangeton.
Jo betrachtete die Funken, die über das Meer trieben, bis sie irgendwann klein wie die fernen Sterne wurden, und schließlich erloschen. Sie fröstelte leicht und nahm einen weiteren Schluck. Eigentlich war der Tee ganz schmackhaft. Voraus auch immer er bestand.
Sie versuchte, ihre zerrissene Hose so zu ziehen, dass sie möglichst viel Wärme spendete. Nach einer Weile gab sie auf, setzte sich anders hin, zog die Knie unter die weite Jacke und setzte die Kapuze auf.
Camilla hob nur kurz den Blick, dann widmete sie sich wieder den weißen Drüsen, die ihr Airboard in der Luft halten sollten.
„Warum haben sie dich verfolgt?“ fragte sie schließlich leise.
Jo reagierte nicht. Camilla wedelte dem Ofen Luft zu, dessen Feuer kurz vor dem Ausgehen stand.
„Wenn du nicht drüber reden willst...“
„Ich wollte in die Oberstadt.“ fiel ihr Jo leise ins Wort.
Camilla hob erstaunt die Augenbrauen. „Dafür bist du gut weggekommen!“ Sie lächelte unwillkürlich. Jeder, wirklich jeder, den sie kannte, hatte versucht, in die reiche Oberstadt zu kommen. Doch weder unterirdisch, noch im Gewirr der Gassen, noch auf dem Luftweg gab es einen Weg hinein. Die Grenze wurde gut bewacht. Nur Handelsware konnte die Mauern passieren, und auch die wurde penibel durchsucht.
Jo lächelte unglücklich. „Ich kann sehr leise sein...“
Camilla nickte. „Das ist gut. Vor allem jetzt, wo du eine Gesetzlose bist.“
Jo schwieg wieder ihren Tee an. Das Feuer im Ofen ging aus. Camilla schloss die Tür und stand auf.
„Es ist spät. Du solltest dich ausruhen.“ sagte sie zu Jo. Das Mädchen stand nach einer Weile auf und folgte ihr mit leisen Schritten in die versteckte Höhle im Felsen. Camilla räumte den Ofen weg und stellte ihr Airboard neben der Tür ab. Dann wies sie Jo den Platz auf der alten Couch zu und holte für sich selbst eine dünne, zerschlissene Matratze aus dem provisorischem Schrank.
Zu guter Letzt verteilte sie noch großzügig Decken, die nach alten Mottenkugeln dufteten. Jo atmete den Geruch tief ein und der Ansatz eines Lächelns erschien auf dem blassen Gesicht.
Camilla schob die „Tür“, wenig mehr als eine dünne Platte Altholz von einer der vielen Fabriken in der Nähe, vor den Eingang.
„Schlaf gut, Jo.“ flüsterte sie.
Stille erfüllte die abgedunkelte Höhle. Nur das Rauschen der Wellen war zu hören, und das ferne Kreischen verspäteter Seevögel.
„Danke.“ flüsterte Jo. „Für alles.“
Wenig später waren sie beide eingeschlafen.