Ein paar Stunden später saßen Camilla und Jo auf der luxuriösen weißen Couch im hell erleuchteten Wohnzimmer einer Villa in der hügeligen Landschaft weit entfernt von der Stadt, in der entgegengesetzten Richtung des Fabrikbereiches.
Hier war das Land noch weitestgehend frei von menschlichen Einflüssen, unberührt geradezu, mit nur wenigen Villen und Bauernhöfen, die das grüne Wiesenmeer und die hellen Wälder durchbrachen.
Natürlich gehörte die Villa nicht ihnen. Der Besitzer lebte irgendwo in der Stadt, in einer Wohnung in den Hochhäusern. Die Villa wurde nur im Sommer benutzt, jetzt kamen nur einmal in der Woche bezahlte Reinigungskräfte vorbei, um den Staub von den makellosen Designermöbeln zu wischen. Sogar der Kühlschrank wurde regelmäßig neu gefüllt, und die verdorbenen, unbenutzten Lebensmittel fortgeworfen, als könnte der Hausherr in jeder Sekunde durch die Flügeltüren marschieren und seine Sommerresidenz im Spätherbst besuchen.
Heute waren dafür Camilla und Jo durch das Küchenfenster einstiegen. Jo hatte erfolgreich bewiesen, dass sie schlank und wendig genug war, um auch durch ein schmales Kippfenster zu klettern, und Camilla die Tür zu öffnen. Als Lohn für ihre Mühe hielt sie jetzt einen warmen Kakao in den Händen und starrte durch den Dampf mit großen Augen auf den riesigen Fernseher.
Während Jo zusammengekauert auf dem Sofa saß, hockte Camilla auf der Rückenlehne und baumelte mit den Füßen. Dass ihre Tennisschuhe kleine Erdkrümel auf dem weißen Teppich verteilten, schien sie nicht zu kümmern. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie einen kleinen Spaziergang durch die Parkanlage der Villa unternommen hatte, bevor sie Jo in das Haus gefolgt war. Und das, obwohl es regnete, und es anscheinend keinen einzigen Grund für eine Wanderung durch den Matsch gab.
Im Fernseher lief irgendein Spielfilm, auf den keiner von ihnen achtete. Ihre Aufmerksamkeit galt vielmehr der durch eine Halbwand getrennten Küche, aus der Bratenduft drang. Ein vollautomatischer Koch – Herd, Häckselmaschine, Lexikon für Rezepte und Spülmaschine in einem – wand seine ganze Kraft auf, um ein Fünf-Gänge-Menü aus dem Kühlschrank zu zaubern.
„Du warst gut heute.“, meinte Camilla schließlich.
Jo sah sie über ihre Tasse hinweg an und lächelte zögerlich. „Danke.“
Camilla grinste breit. „Warst du schon vorher beim Widerstand?“
Jo schüttelte den Kopf.
„Willst du?“
Camilla beugte sich leicht vor, und Jo starrte in ihren Kakao. Das Mädchen zögerte noch. „Die Welt in einen besseren Ort verwandeln? Leben retten? Für Gerechtigkeit einstehen?“ lockte Camilla sie.
Aus Jos Gesicht machte sich langsam, ganz langsam, ein Lächeln breit. Es wuchs und wuchs, dass Camilla schon von dem Anblick wusste, was Jos Antwort sein würde. Das Mädchen wirkte wie ausgetauscht. Sogar ihre Augen leuchteten lebendiger als je zuvor.
Camilla musste einfach zurück grinsen und streckte die Hand aus. „Willkommen!“
Jo erwiderte den Händedruck fester, als Camilla es erwartet hätte.
Einen winzigen Moment lang sahen sich die beiden in die Augen. Jos tiefe, blaue Augen, und die grünen, von Sommersprossen umrahmten von Camilla. Dann merkten sie, dass sie ihre Hände noch immer umfasst hielten, und ließen im gleichen Moment los.
Es folgte ein Moment der Stille, der sich auszudehnen begann.
Camilla räusperte sich schließlich. „Wo kommst du eigentlich her? Aus der Stadt?“
Jo blickte kurz auf ihre Finger. „Ich möchte nicht darüber reden.“ murmelte sie dem Kakao zu. Dann sah sie auf. „Es tut mir leid. Das ist unhöflich, nach allem, was du getan hast, aber ich versuche, es zu vergessen.“
Camilla nickte langsam. „Versuchen wir das Faith alle mit irgendwas?“ murmelte sie düster. Dann lächelte sie, um die Spannung zu lösen, die sich aufgebaut hatte. „Wie alt bist du eigentlich. Ich hoffe doch sehr, das möchtest du nicht vergessen!“
Jo lächelte verschmitzt. „Nein, das nicht. Ich bin siebzehn.“
„Siebzehn!“ rief Camilla. „Du siehst jünger aus!“
„Das liegt an meiner jugendhaften und fröhlichen Ausstrahlung.“ scherzte Jo, und Camilla stimmt in ihr Lachen ein.
„Wie alt bist du?“ fragte Jo schließlich.
„Neunzehn. Fast zwanzig.“ antwortete Camilla.
„Du siehst älter aus.“ sagte Jo schalkhaft.
„Weil ich so weise und ruhig bin.“ ging Camilla auf sie ein.
Beide lachten von neuem. Dann piepste der Automatische Koch, und Camilla lief los, um das erste Menü abzuholen: Salat und ein Aperitif, den Jo sehr vorsichtig trank und Camilla mit einem Zug verschwinden ließ.
„Was machen wir beim Widerstand?“ fragte Jo und setzte ihr Glas zum wiederholten Mal nach einem winzigem Schluck ab.
Camilla ließ ihre Gabel mit einer Tomate und einem Blatt Petersilie sinken. „Ich muss dir gestehen, ich weiß kaum, was der Kopf von uns so tut.“ sagte sie. Jo hob interessiert den Blick von ihren Gurken.
Camilla lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Ich habe mich vor ein paar Jahren von ihnen getrennt. Als ich siebzehn war, um genau zu sein. Ich bin dort aufgewachsen, aber mit der Zeit haben sie angefangen, Kompromisse einzugehen, die man zu meiner Jugend nie gemacht hätte.“
„Und dann?“ fragte Jo gespannt. Unter der dunklen Mütze spiegelten ihre Augen das Licht der teuren Duftkerzen wider, die Camilla entdeckt und aufgestellt hatte.
„Das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.“ wehrte Camilla ab. „Wenn wir mehr Zeit haben.“
Jo akzeptierte das mit einem Nicken.
„Aber ich kann dir erzählen, was wir zwei machen werden.“ nahm Camilla das Thema wieder auf.
Jo grinste plötzlich: „Die Häuser der Reichen bestehlen, bis es ihnen irgendwann auffällt?“
Camilla grinste zurück. „Nicht nur. Wir verteilen Plakate. Wir helfen den Leuten auf der Straße, und wir entfachen das Feuer der Revolution neu. Die alte Flamme ist beinahe abgebrannt, keiner tut mehr etwas, alle sind müde. Wir stehen kurz davor, unsere Situation einfach zu akzeptieren. Doch das darf niemals passieren. Wir wecken die Menschen auf und geben ihnen ihre Stimmen zurück.“
Um ihre Rede zu unterstreichen, spießte Camilla drei Tomaten mit ihrer Gabel auf und schob sie sich in den Mund.
„Deshalb war also die Flamme auf den Plakaten heute?“ fragte Jo.
Camilla nickte mit vollem Mund, kaute und schluckte. „Das ist mein ganz persönliches Symbol. Kein anderer aus dem Widerstand benutzt es.“
Jos Augen wanderten über den gedeckten Tisch. Sie legte die Gabel langsam zur Seite. „Wie helfen wir den Menschen, indem wir es uns hier gut gehen lassen? In ein paar Tagen kommen die Putzleute und haben unseretwegen viel Arbeit, aber die Reichen werden davon nicht berührt werden. Wenn sie es überhaupt erfahren.“
„Das ist auch nicht unsere Absicht. Wir nutzen nur die Ressourcen, die sonst fortgeworfen werden würden. Die Putzleute wissen Bescheid, ich kenne sie. Aber viel wichtiger ist, dass wir die Nahrungsmittel, die wir nicht selbst nutzen, mitnehmen. Brot und Wasser und haufenweise teures Zeug, das schlecht schmeckt. Wir werden es am Hafen verteilen, morgen früh. Du wirst sehen, dort wartet bereits ein ganzes Heer auf uns! Und weil wir jetzt zu zweit sind, können wir noch mehr Vorräte mitnehmen.“
Jo atmete leicht aus. „Das ist gut. Ich hatte mir für einen Moment Sorgen gemacht.“
Camilla schüttelte den Kopf. „Wir sind die Guten, vergiss das nie. Bist du bereit für die Suppe?“
Jo nickte, und Camilla ging in die Küche. Draußen rief ein Käuzchen, und die Sterne beleuchteten die dunklen Wiesen rund um das strahlende Herrenhaus.