„Warum tust du das?“
Die Frage schreckte Camilla aus der Arbeit an ihrem Airboard, in die sie vertieft gewesen war. „Was?“
„Warum tust du das?“ wiederholte Jo etwas lauter – womit ihre Stimme schon fast die normale Lautstärke eines redenden Menschen erreichte. „Die Blätter verteilen, in Häuser einbrechen und alles.“
Camilla senkte den Blick wieder auf ihr Airboard und fuhr damit fort, die weißen Drüsen zu putzen, bis sie blitzten. Sie suchte nach Worten.
„Wenn du nicht darüber reden willst, verstehe ich das.“ murmelte Jo, aber in ihrer Stimme schwang Enttäuschung mit.
Camilla seufzte. „Ich kann nicht anders. Wie soll ich es erklären?“ Sie sah das jüngere Mädchen an. „Ich habe keine andere Wahl, es ist, wie atmen zu müssen. Ohne stirbt man. Und man macht es beinahe automatisch.“ Sie schüttelte den Kopf und beugte sich wieder über das Board. „Es tut mir leid. So, wie ich es erkläre, kannst du es nicht verstehen.“
„Ich glaube, doch.“ sagte Jo leise.
Camilla sah jetzt doch wieder auf, überrascht. Ihre Hand hörte auf, die blankgescheuerten Drüsen zu putzen. „Wirklich?“
Jo nickte zaghaft: „Ich glaube, ich weiß was du meinst. Dieses Gefühl, dass alles falsch ist und einem die Zeit davonrennt. Irgendwas tun zu müssen. Egal, was, Hauptsache, man bleibt nicht untätig.“ Sie stockte, hatte sich von ihren Worten mitreißen lassen und sah Camilla jetzt erschrocken an, als hätte sie sich in einem Kriegsgraben zu weit aus der Deckung gewagt und warte jetzt auf den Scharfschützen, der sie entdeckt haben musste.
Doch Camilla lächelte nur – halb tröstend, aus reinem Instinkt, und halb überrascht. „Ja, genau dieses Gefühl. Ich habe es schon mein ganzes Leben.“ Sie fuhr damit fort, die nächste Drüse zu putzen. „Und ich habe es wirklich versucht, etwas zu tun. Ich möchte...“ sie hielt inne, warf Jo einen Blick zu. Abschätzig, wie ein Reh, dass sich auf eine Wiese traut, nach möglichen Jägern schnupperte. Dann folgte etwas, ein Aufblitzen in ihren Augen, ein unsichtbares Schulterzucken, das metaphorische Aus-dem-Graben-Stürmen und Wild-um-sich-Schießen. „Ich will diese Kluft überwinden, die Mauer einreißen, die die Reichen von den Armen trennt. Es ist ungerecht, was vor sich geht, dass die Reichen reich bleiben und die Armen immer ärmer werden. Das man sich mit Geld alles kaufen kann, sogar das Gesetz. Weißt du, dass die meisten illegalen Sachen in den Kellern der Reichen laufen? Drogen, Mord, Menschenhandel, Zwangsarbeit und alles? Unsereins hat überhaupt kein Geld dafür, doch uns hängt man es an. Ich kannte einmal ein Mädchen, das ihren Zuhälter entflohen ist. Sie wurde dafür hingerichtet, dass sie eine unfreiwillige Nutte war! Der Zuhälter, dieses Schwein, stand unter dem Schutz seiner Kunden und hat nicht mit der Wimper gezuckt, alle seine Mädchen zu verraten. Ein paar von ihnen sind eine Haustür von ihm entfernt groß geworden!“
Camilla hatte sich in Rage geredet und wand jetzt das Gesicht ab. Ihre Augen brannten verräterisch. Jo schwieg unbehaglich.
Nicht nur, dass es solche Schicksale immer und überall gab, und dass es schwer auf der Seele wog, an sie zu denken. Camillas Gerede könnte sie beide auch in die Todeszelle bringen, schneller als sie „Gnade!“ sagen könnten. Oder „Freiheit!“. Jo hatte den Braveheart-Film einmal gesehen, vor langer Zeit und heimlich in einem Keller. Camilla erinnerte sie an den Schotten, der sein Volk befreien wollte. Sie hoffte nur, dass es mit der jungen Frau nicht ein ähnlich trauriges Ende nehmen würde. Sie begann, Camilla wirklich zu mögen. Was sollte sie auch ohne ihre Retterin machen?
Camilla hob wieder den Blick. Ihre Wangen glänzten leicht, aber sie hatte sich unter Kontrolle. Das Licht einer einzelnen, nackten Glühbirne beleuchtete zwei dünne, nasse Spuren in ihrem Gesicht. Nur das Geräusch der See war zu hören, hinter der dünnen Pappe, die in Camillas Höhle in den Felsen als Tür diente.
„Wenn ich ein Spion der Regierung wäre, wärst du jetzt eine tote Frau.“ flüsterte Jo ehrfürchtig.
Camilla zwinkerte und ein fröhliches Lächeln setzte sich als Maske über die Tränen: „Das traue ich dir aber einfach nicht zu!“
Jo lächelte dünn. „Unterschätz mich nicht! Ich könnte Vieles sein.“
„Ja, zum Beispiel der Kapitän einer Mudball-Mannschaft!“ scherzte Camilla.
„Ich gebe es zu: Du hast mich enttarnt.“ antwortete Jo.
„Ich wusste es doch! So muskulöse Schultern kriegt man nur durch regelmäßiges Training!“
Beide lachten, doch Jo lenkte schnell vom Thema ab: „Du kanntest diesen Zuhälter?“
Camilla nickte und ihre Miene verdüsterte sich. „Ihn und viele andere. Nicht nur Zuhälter, aber ganz ähnliche Mitkerle. Man sah es ihnen nur nicht an.“
Jo setzte ein säuerliches Lächeln auf: „Man sieht den Menschen eben nur vor den Kopf.“
„Was?“
„Das ist ein Sprichwort. Aus...meiner alten Heimat.“
„Ich kannte es nicht.“
„Es kommt von weit her.“
Camilla nickte nachdenklich und beugte sich mit neuem Eifer über das Airboard. Jo drehte sich von der Matratze, auf der sie saß, leicht zur Wand und lehnte sich dagegen.
Beide hatten nach innen gekehrte Augen, als die Erinnerungen sie einholten. Keine sehr erfreulichen Erinnerungen.