„Also bleibst du hier?“ fragte Camilla und weckte Jo damit, dass sie ihr einen gepackten Rucksack auf die Brust warf.
Jo fuhr erschrocken aus dem Schlaf auf und umklammerte den Rucksack. Sie warf einen verwirrten Blick darauf: „Möchtest du mich loswerden?“
Mit ängstlichen Augen sah sie zu der Älteren auf. Camilla grinste breit.
„Nein, das ist der Beginn deines Trainings.“
„Training?“
„Dachtest du, ich werde dich ewig durchfüttern? Lerne gefälligst, dein eigenes Brot zu stehlen.“ sagte Camilla. Sie versuchte zwar, streng zu klingen, aber kleine Lachfalten bildeten sich um ihre Augen. „Los, raus aus den Federn, ich zeige dir, was man mir beigebracht hat!“
Jo sprang von der Matratze auf, auf der sie in Camillas Versteck noch immer die Nächte verbrachte, und schleppte den schweren Rucksack hinter ihrer Beschützerin her, die bereits auf die Klippen gegangen war. Draußen erwartete sie ein klarer Morgen und kreischende Möwen, sowie Camilla auf ihrem Airboard.
Sie reichte der älteren den Rucksack an und kletterte mit ihrer Hilfe auf das Brett hinauf, bevor Camilla das Board schwungvoll in die Tiefe und dann über die Wellen lenkte.
Jo kämpfte noch immer darum, das Abendessen von Gestern bei sich zu behalten, während Camilla lachend den Kopf in den Nacken warf. Ihr Flug dauerte zu Jos Erleichterung nicht lange, denn schon bald stieg das Airboard hoch und glitt lautlos über die Klippen hinweg auf eine verlassene Fabrik zu.
Vor dem zerstörten Gebäude bremste Camilla das Airboard aus und sprang gemeinsam mit Jo ab.
„Wo sind wir?“ fragte Jo neugierig.
Camilla sah sich prüfend um, ob auch kein zufälliger Beobachter in der Nähe war. „Das war mal eine Spielzeugfabrik, aber heute kommt hier eigentlich niemand mehr hin. Komm mit!“
Vor der zögernden Jo stürmte Camilla achtlos an einem Schild vorbei, das den Leser eindringlich warnte, die baufällige Fabrik zu betreten. Schulterzuckend folgte Jo ihrer Freundin. Es ging verfallene Treppen hinauf, eine bröckelnde Galerie entlang und schließlich durch ein zerbrochenes Fenster auf das unkrautgesäumte Dach. Vor ihnen ragten alte Kräne in die Luft wie die Knochen von Dinosauriern, dazwischen gab es große, runde Schornsteine und halb verfallene Häuser, in denen vielleicht Wohnungen gewesen waren.
Jo spähte vorsichtig in die Tiefe und schluckte. „Was machen wir hier?“
Camilla warf ihr einen sehr beunruhigenden Blick zu: „Du trainierst Hindernislauf. Mit Rucksack.“
Jo öffnete protestierend den Mund, doch Camilla hob eine Hand, um den Einwand im Keim zu ersticken. „Ich bin bei dir und passe auf.“
Jo seufzte ergeben und nahm den Rucksack von Camilla entgegen. „Was muss ich tun?“
„Erstmal eine Runde joggen, um dich an das Gewicht zu gewöhnen.“
Folgsam schleppte sich Jo einmal über das ganze Dach und zurück. Dana keuchte sie bereits vor Erschöpfung. Camilla nickte zufrieden. „Siehst du das Gerüst da hinten? Dort musst du hinkommen.“
Jo starrte erschrocken auf das Gerüst, das Camilla meinte. An einem Haus auf der anderen Seite des großen Platzes, den die Fabrik beanspruchte, hatte man einst den verzweifelten Versuch unternommen, ein Gebäude zu renovieren – dort lag das Baugerüst, von dem Camilla gesprochen hatte.
„Und wie...“
„Über die Kräne. Keine Sorge, ich bin bei dir!“
Jo schluckte und sah auf einen Kran, dessen Spitze fast an das Dach angrenzte. Camilla rief per Fernbedienung ihr Airboard, um sie fliegenderweise zu begleiten. Jo stellte sich vor, dass Camilla mit einem ähnlichen Rucksack vor dem gleichen Kran gestanden hatte, dann fasste sie all ihren Mut zusammen, nahm Anlauf und sprang auf den Kran auf.
Der Abgrund war nicht weit, vielleicht einen halben Meter, doch trotzdem sah Jo nur zu gut die schwindelerregende Tiefe unter sich. Mit lautem Dröhnen schlug sie gegen die rostigen Metallstangen, aus denen der Kran bestand und klammerte sich ungelenk daran fest.
Camilla glitt auf dem Airboard neben sie.
„Sehr gut. Jetzt zieh dich rauf und lauf den Kran entlang, bis zum Führerhaus.“ Jo biss sich auf die Lippen und befolgte die Anweisung. Kaum, dass sie stand, frischte der Wind auf und ließ den Kran wackeln. Sie wollte sich hin hocken, um sich festzuhalten, doch Camilla rief scharf: „Nein! Bleib stehen. Streck die Arme aus und halt einfach nur das Gleichgewicht.“
Jos Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Gut so, und jetzt: Ein Fuß vor den anderen, immer abwechselnd.“
Die Stangen waren schräg gebaut, sodass sie Karos bildeten. Jo starrte immer nur auf die nächste Stange vor sich, während sie sich weiter vor arbeitete.
Zu beiden Seiten von ihrem jetzigem Steg ging eine Reihe von Stangen nach unten, bildeten dort erneut das gleiche Karomuster, und wurden unten durch eine Art Boden verbunden. Nur dass der Boden nicht fest war, sondern auch aus karoförmigen Löchern bestand. Ein bisschen wie die Stromtürme, aus einem Netz von Metallstangen gebaut.
„Nicht nach unten sehen!“ warnte Camilla und Jo sah nach unten.
Verdammt, war das tief! Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen. Der Rucksack zog sie plötzlich stärker nach unten. Den Fuß in der Luft erstarrte sie, dann verlor sie das Gleichgewicht und kippte zur Seite von dem Kran, weg von Camilla und dem rettenden Airboard.
Einen scheinbar ewig langen Moment fiel sie, zu erschrocken, um zu schreien oder um sich zu schlagen, aber auch blind für ihre Umgebung, dann traf sie etwas in den Rücken.
Jo fürchtete schon, sie wäre tot, doch dann sagte eine Stimme: „Du solltest auf mich hören, wenn ich dir einen Tipp gebe!“
Jo öffnete die Augen. Camilla grinste sie an. Die Ältere hielt sie in den Armen wie ein kleines Kind und hatte sie mit dem Airboard aufgefangen.
Von ihrem Schreck eingeholt machte Jo einen tiefen Atemzug, der ein wenig nach Weinen klang und klammerte sich mit ihren dünnen Armen an Camilla fest. Die lenkte ihr Airboard locker in eine Kurve und flog zurück zu dem Dach, wo sie zuerst den Rucksack von Jo, und dann Jo von ihrem Hals zog.
„Es ist alles gut.“ tröstete sie das verängstigte Mädchen. „Du hast dich gut geschlagen. Vielleicht sollten wir für heute aufhören.“
Da sah Jo plötzlich mit großen, blauen Augen auf. Obwohl sie noch zitterte, war ihre Stimme fest: „Nein. Lass es mich nochmal versuchen. Irgendwann schaffe ich es!“
Camilla hob überrascht eine Augenbraue und half dann dem erschreckend leichtem Mädchen hoch. Sie fühlte ein schlechtes Gewissen. Jo war zwar nur wenig jünger als sie, aber sie wirkte noch so unschuldig und klein. Konnte sie ihr das wirklich antun?
Doch Jo wirkte entschlossen und zwinkerte Camilla zu. Die Ältere musste alle Gedanken daran verdrängen, wie zerbrechlich und unendlich schutzbedürftig sich Jo in ihren Armen angefühlt hatte, denn das Mädchen hatte bereits den Rucksack wieder auf den Schultern und hielt auf den Kran zu.
Und noch ein verwirrender Gedanke tauchte auf, den Camilla lieber schnell zur Seite schob. Wie angenehm es gewesen war, Jos Körper so nah an sich geschmiegt zu haben und ein zögerliches Lächeln in ihr Gesicht kriechen zu sehen.
Camilla schüttelte den Kopf. Sie musste ihn frei haben für wichtige Sachen, zum Beispiel Jo vor einem tödlichen Sturz zu bewahren.