Sie waren wieder bei der alten Fabrik, um zu trainieren. Jo machte gute Fortschritte, und es schien nicht mehr so unglaublich, anzunehmen, dass sie eines Tages das Gerüst erreichen könnte. Einmal hatte sie fast die Hälfte des Weges geschafft.
Zusätzlich zum Klettern trainierte Camilla sie im Kämpfen. Jo war erstaunlich gut im Nahkampf, mit dem Geschick einer kleinen Katze. Schusswaffen dagegen wollte sie nicht einmal in die Hand nehmen, geschweige denn, damit auf Flaschen schießen. Nach vielen gescheiterten Versuchen hatte Camilla es schließlich aufgegeben.
Deshalb waren sie grade auf dem maroden Dach damit beschäftigt, mit Metallstangen aufeinander einzudreschen, ohne sich um ihre Umgebung zu kümmern. Das Metall klirrte so laut von den wuchtigen Schlägen, dass sie das Geräusch der Rotoren erst viel zu spät bemerkten.
Da war der Silentkopter bereits über dem Gelände und setzte zur Landung an. Bewaffnete sprangen aus dem Flieger, bevor das leichte Gerät richtig aufgesetzt hatte. Die beiden Luft-Motorräder, die daran eingebaut waren, lösten sich vom Kopter und rasten auf die beiden Mädchen zu.
Jo schrie erschrocken auf wie ein kleines Kind. Camilla dagegen warf ihre Metallstange und traf damit das vorderste Motorrad. Die Stange verkeilte sich in den Speichen und der Polizist fiel vom Himmel, um in einer Explosion zu verschwinden.
Jo zuckte zusammen und klammerte sich an Camillas Arm.
„Das sind die Verdächtigen!“ rief eine durch Lautsprecher verzerrte Stimme. „Festnehmen!“ Es wurde eine lange Code-Linie genannt, doch die beiden Mädchen warteten nicht ab, bis die Spezialeinheit zu Ende geredet hatte, sondern rannten los.
Das Airboard von Camilla lag irgendwo unten in der Fabrik. Sie rief es per Fernbedienung, doch das Board würde nicht so schnell bei ihnen sein. Nach nur einem kurzen Blicktausch sprangen sie gleichzeitig auf den rostigen Kran, auf dem Jo ihre Übungen vollführt hatte.
Mit schnellen Schritten rannten sie die Metallstangen entlang. Jo und Camilla hielten sich an der Hand, um irgendeinen Halt zu haben. Hinter ihnen krachten jetzt Schüsse. Jo erkannte das Geräusch von Betäubungspfeilen, doch trotzdem rannte sie noch schneller. Sie holte alles an Geschwindigkeit aus ihren dünnen Beinen, die sie aufbringen konnte. Camilla neben ihr hielt mit, doch die Polizisten, mit Motorrädern und Silentkopter waren natürlich schneller. Nur mit vielen waghalsigen Sprüngen über tiefe Schluchten und von Kran zu Kran konnten sich die Mädchen außer Reichweite halten.
Jos Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte furchtbare Höhenangst, und diesmal flog Camilla nicht hinter ihr her, um sie notfalls aufzufangen.
Sie setzten über einen weiteren Abgrund hinweg und landeten auf einem näheren Baugerüst, das sich einen alten Schornstein hinauf erhob. Keuchen rannten die Mädchen die Metallplaten entlang, auf die Leitern zu.
Sie wollten nach unten, doch dort strömten auf einmal nur noch mehr schwarzgekleidete Männer über das Gelände. Sie waren umzingelt!
Um Zeit zu schinden kletterten sie die Leitern nach oben, sie schafften drei Ebenen, bevor der Silentkopter auf ihrer Seite auftauchte und sie unter Beschuss nahm. Camilla und Jo flohen um den Schornstein herum auf die andere Seite. Dort gab es ebenfalls Treppen, doch bald tauchte hier der übriggebliebene Polizist auf seinem Motorrad auf. Camilla zog ihre Schockpistole und traf den Mann in die gepanzerte Brust, was überhaupt keine Auswirkung hatte.
Sie flohen weiter im Kreis, und schließlich hangelten sie sich drei, vier Stockwerke außen am Gerüst nach oben, fernab von allen Treppen. Doch auch so weit oben bemerkte sie der Silentkopter und nahm die Verfolgung auf. Mit viel Mühe und Glück schafften sie es auf den Schornstein hinauf, bevor das wackelige Gerüst unter dem Beschuss in sich zusammenbrach. Auf dem schmalen Rand des Schornsteins balancierend hatten sie jedoch keine Deckung. Zum Glück sah Jo endlich das Airboard, das auf sie zugeflogen kam.
Das Board erreichte sie, und Camilla sprang hinauf, zog Jo heran – sie hatten die Hände immer noch verschränkt, und wollte losfliegen.
Als ein Scharfschütze der Polizisten sie mit dem Betäubungspfeil erwischte.
Camilla erstarrte und spürte fast sofort ihre Kräfte schwinden. Jo hatte den Pfeil gesehen und sah mit weit aufgerissenen Augen in ihr Gesicht.
„Flieh...Jo!“ brachte Camilla hervor, dann kippte sie langsam rückwärts von dem Board.
Jo schrie auf und streckte die Hand nach Camilla aus, doch der Griff der Älteren hatte sich gelöst, und sie fiel schnell außer Reichweite. Durch ihre Vorwärtsbewegung brachte Jo jedoch das Board dazu, rückwärts über den Himmel zu rasen. Dadurch entging sie nur knapp dem nächsten Pfeil. Sie fiel beinahe herunter und klammerte sich mit Armen und Beinen an das Board, quiekte auf, als es erneut die Richtung änderte und mit rasender Geschwindigkeit in die Höhe und fort von der Fabrik flog.
Die Polizisten waren viel zu überrascht, um sie noch zu verfolgen. Doch Camilla war in ihrer Gewalt.