Es war tief in der Nacht, als Jo mit der leblosen Camilla endlich auf den Klippen landete, in denen Camillas Höhle lag. Jo kletterte mit steifen Gliedern von dem Airboard und trug Camilla dann mit Hilfe des schwebenden Bretts in das Versteck. Unendlich vorsichtig legte sie ihre Freundin auf der schmalen Matratze ab. Es war kalt und stürmisch draußen, beide Mädchen vollkommen durchgefroren. Jo verbarrikadierte die Tür mit der alten Pappe und machte dann Feuer in dem kleinen Ofen. Sie erinnerte sich noch gut an ihre erste Nacht hier, daran, wie Camilla über dem Ofen einen Tausendfüßler oder etwas in der Art gekocht hatte. Inzwischen wusste Jo, dass die Insekten in den Höhlen in der Nähe lebten und angeblich sehr lecker waren. Probiert hatte sie trotzdem noch keinen. Sie fing lieber Krabben mit einem kleinen Netz, obwohl die Tiere durch die Verschmutzung des Wassers durch diversen Fabrikmüll aufwändig gekocht werden mussten.
Doch jetzt machte sie nur Feuer, um Camilla und sich selbst zu wärmen. Mit blauen Lippen und zitternden Fingern hockte sie sich vor das Feuer und taute ihre Hände auf. Dann kniete sie sich vor Camilla auf der Matratze und knetete ihre Finger. Die Wirkung der Betäubungspfeile ließ nur langsam nach, doch durch Jos beständiges Kneten kribbelten Camillas Finger schon bald. Versuchsweise bewegte sie die Hände. Es klappte.
Jos Hände wanderten langsam ihren Arm hinauf. Mit konzentriertem Blick kaute Jo auf ihrer Unterlippe. Als Camilla auch ihren Unterarm bewegen konnte, griff sich Jo die zweite Hand.
Camilla probierte langsam den neuen Bewegungsfreiraum aus. Jos Finger auf ihrer Haut waren kalt, aber bei Weitem nicht unangenehm. Das kleine Feuer erwärmte langsam die Luft in der Höhle. Schließlich spürte Camilla, wie die Schwere aus ihren Beinen wich. Ihr Herzschlag schlug schneller, als ihr bewusst wurde, wie knapp sie dem Tod entkommen war. Nachträglich wurden all die Hormone ausgeschüttet, die im Augenblick selbst geblockt gewesen waren.
Jo bemerkte sofort, dass sie ihre Atmung beschleunigte. Sie drückte Camillas Hand etwas fester.
„Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.“ flüsterte das Mädchen. Camilla nickte schwach und bemühte sich um ein Lächeln. Sie atmete tief ein und zitternd wieder aus. Trotzdem saß ihr die Angst tief im Nacken. Wenn Jo sie nicht gefangen hätte...!
Jos Finger lagen noch immer auf ihrem Handgelenk, während das Mädchen ihren Puls fühlte. Camilla sah ihr in die Augen und Jo fing ihren Blick auf. Ihre blauen Augen wirkten wie Anker, an denen Camilla sich festhalten konnte.
Obwohl sie sonst eine zarte Zerbrechlichkeit ausstrahlte, schenkte ihr Jo in diesem Moment die Zuversicht, die sie brauchte. Draußen heulte der Wind und schlugen Regentropfen gegen die Pappe.
Langsam wurde Camillas Herzschlag langsamer. Sie spürte, wie sie schläfrig wurde.
Als ihr die Augen zu fielen, stand Jo leise auf und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden in der Mitte der Höhle, um Camillas treues Airboard zu säubern. Mit einem kleinen Lappen trocknete sie auch die kleinsten Spalten so sorgfältig wie die eigentliche Besitzerin. Camilla dämmerte in einen Halbschlaf hinweg, wurde jedoch immer wieder wach. Ihre Gliedmaßen kribbelten, und durch die Lücken zwischen Pappe und Felswand drang kalter, schneidender Wind herein. Sie fror, obwohl Jo sie fürsorglich mit zwei Decken eingepackt hatte.
Als das Mädchen leise die Ofentür schloss und in dem Glauben, Camilla schlafe bereits, auf das Sofa zusteuerte, erwischte Camilla ihren Knöchel im Vorbeigehen.
Jo schreckte zusammen, jedoch nicht stark.
„Ist alles in Ordnung?“, fast sofort kniete sie neben Camilla. Die Ältere rang sichtlich nach Worten, doch noch war ihr Gesicht größtenteils gelähmt.
Jo suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis. Ihre Augen trafen sich.
„Bleib...hier.“ brachte Camilla hervor. Es kostete sie große Kraft. Die Worte waren leise. Jo stand auf und Camilla war sich sicher, dass das Mädchen sie falsch verstanden oder gar nicht gehört hatte. Doch Jo kam nur mit einer Decke zurück.
Ein wenig schüchtern blieb sie stehen, die Decke vor der Brust umklammert wie ein kleines Kind seinen Teddy. „Es ist wirklich kalt.“ murmelte sie leise, dann schlüpfte sie vorsichtig zu Camilla unter die Decke. Sie breitete die dritte Decke über ihren Körpern aus und lag dann still neben Camilla.
Die Ältere spürte, wie ihr Herzschlag schon wieder schneller wurde, jedoch nicht vor Angst. Von den Stellen, wo Jo sie berührte, ging ein Kribbeln aus, als würden sich die Körperteile dort schneller aus der Betäubung lösen. Jo lag ein wenig verkrampft neben Camilla, sie war es ganz klar nicht gewohnt, neben anderen Menschen zu liegen. Doch irgendwann drehte sie sich leicht, schon halb eingeschlafen, und legte eine Hand auf Camillas Schulter. Das leichte Gewicht ließ sich nicht aus ihren Gedanken vertreiben. Camilla wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als Jo in die Arme nehmen zu können. Doch nicht nur ihre Betäubung verhinderte das. Sie bekam Angst vor der Heftigkeit, mit der dieses Verlangen sie plötzlich erfüllt. Das war ganz anders, als sie es jemals erlebt hatte. Und sie hatte schon viele Männer gekannt.
Aber Jo... sie mochte sie wie eine kleine Schwester, redete sie sich ein. Nur eine kleine Schwester.
Sie schloss die Augen und wand alle Kraft auf, um ihren Kopf vorsichtig gegen Jos Stirn sinken zu lassen. Sie atmete tief den Duft des jungen Mädchens ein. Sie roch so unschuldig und trotz der Wochen in dieser Höhle immer noch sauber. Selbst tägliches Duschen konnte so einen Geruch nicht hervorbringen. Das war etwas, womit man geboren wurde, und dass man ein Leben lang nicht mehr verlor.
Camilla schloss die Augen und spürte Jos Atem auf der Haut an ihrem Hals. Ihr wurde warm, obwohl die Asche im Ofen langsam verglühte und von draußen immer noch die Geräusche des Sturms herein drangen.