Als Camilla die Augen aufschlug, lag Jo in ihren Armen.
Sie erstarrte, schlagartig wach. Wie zur Hölle waren sie hier gelandet? Und damit meinte sie nicht die Höhle und das warme Nest aus Decken.
Sie wagte kaum, sich zu rühren, um Jo nicht zu wecken. Sie atmete so flach sie konnte. Selbst ihr Herzschlag schien zu schnell und laut zu sein.
Nicht, dass sie Angst hätte. Sie wollte den Moment nur so lange wie möglich hinziehen.
Verstohlen beugte sie sich vor und atmete tief den Geruch von Jos Haaren ein. Immer noch hing der Duft nach Rosen an dem Mädchen.
`Nur eine Schwester!´ redete sie es sich ein und betrachtete die Decke, die sich im Rhythmus von Jos ruhigen Atemzügen hob und senkte. Das Mädchen lag mit dem Rücken zu ihr, Camillas Arm als Kissen benutzend. Jos Rücken drückte sich sanft gegen ihren Bauch. Einen Arm hatte Camilla um Jos zarte Hüfte geschlungen, und ihr Kopf ruhte in den kurzen, schwarzen Haaren. Jos Haare waren so seidig, wie Camilla es noch nie erlebt hatte. Warum Jo etwas derart Schönes unter einer Mütze verbergen wollte, war Camilla ein Rätsel.
Die behelfsmäßige Tür stand einen Spaltbreit offen. Zärtliche Sonnenstrahlen schlichen sich vorwitzig in das Versteck. Camilla betrachtete nachdenklich das Licht und den darin tanzenden Staub. Jede Stelle, an der Jo sie berührte, fühlte sich ungewohnt warm an. Als wäre es plötzlich Sommer. Die Arme, der Bauch, Hüfte und Brust, sogar die Beine hatten sie ineinander verschlungen. Camilla konnte nicht behaupten, dass es ein unangenehmes Gefühl war.
Aber auch ihre Ohren brannten wie im Feuer. Es war falsch.
Nicht nur, dass Homosexualität verboten war, das hätte Camilla nicht gestört. Aber Jo war so...unschuldig. Konnte sie das Mädchen wirklich in dieses Leben hinein ziehen? Zum ersten Mal seit langem spürte Camilla wieder überdeutlich, was sie verloren hatte. Die Chance auf ein ruhiges, sicheres Leben. Noch wäre es für Jo nicht zu spät.
Und überhaupt. Dieses Mädchen war wie eine Schwester für sie! Sie war doch nicht verliebt oder sowas. Sie stand ganz klar auf Jungen, dafür gab es Zeugen!
Von denen die meisten nicht mehr lebten, oder ihre Existenz leugnen würden, erinnerte sie sich. Und die sie niemals vermisst hatte.
Es war alles so verwirrend! Wo kamen diese Gefühle her? Hatten sie sich mit den Sonnenstrahlen durch die Tür geschlichen? Waren es Nachwirkungen des Betäubungsgiftes?
Sie verspürte den heftigen Drang, sich von Jo weg zu rollen, und am besten noch etwas zu zerschlagen. Ihr Atem wurde schneller. Mit angespannten Muskeln verkrampfte sie sich, denn etwas hielt sie zurück.
Was? Was war es? Hatte es jemals etwas gegeben, dass sie daran hinderte, ihren Willen durchzusetzen?
Sie wollte Jo nicht verletzten. Auch jetzt noch, hin- und hergerissen in ihren Gefühlen, kam ihr das Mädchen so verletzlich vor. Eine schnelle Bewegung in ihrer Nähe und sie würde zerspringen wie eine Seifenblase. Camilla entspannte sich wieder und hielt den Atem an. Sie wagte es nicht, sich zu rühren.
Jo war die einzige, die zu ihr hielt. So viele Menschen hatten Camilla bis jetzt enttäuscht. Hatten sie verraten, oder im Stich gelassen. Irgendwie glaubte sie, Jo würde anders sein.
`Ich vertraue ihr. Wie einer Schwester!´ sagte sie sich. Sie würde nicht zulassen, dass ihre eigenen Gedanken sie besiegten. Sie war Camilla! Die Flamme der Gerechtigkeit! Sie war stärker als etwas so banales wie Liebe!
Trotzdem kniff sie fest die Augen zusammen und drückte sich vorsichtig, ganz vorsichtig, enger an Jo. Dann tat sie so, als würde sie schlafen. Sie bewegte sich nicht einen Millimeter und nahm Jos Duft auf, fühlte ihrem Atem nach, prägte sich die Form des Mädchens allein vom Gefühl her ein.
Was war hier nur los? Was trieb sie zu diesem Wahnsinn?
Camilla kannte die Antwort nicht. Tausend Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum, Entschuldigungen und Anschuldigungen und vieles mehr, das irgendwo dazwischen lag.
`Es wird mein Geheimnis bleiben.´ Sie wusste, dass Jo noch schlief. Wenn das Mädchen aufwachte, würde es wirken, als wäre Camilla nie aufgewacht. Es wäre ein Zufall und sie könnten wieder Schwestern werden. Nicht mehr. Nur Schwestern.
Von denen eine verdammt gut roch.