Es fing an zu regnen, als Camilla zum zweiten Mal an diesem Tag erwachte. Diesmal war Jo bereits aufgestanden, und das Mädchen hatte aus ihren Vorräten ein Essen vorbereitet. Es gab eine Suppe mit ihren letzten Resten Brot.
Camilla stand vorsichtig auf. Sie traute ihren Gliedmaßen noch nicht wirklich, und sie musste erst einmal ihre Gedanken ordnen. In ihrem Kopf schwirrte alles, und sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihr erstes Aufwachen kam ihr bereits wie ein Traum vor.
Jo begrüßte sie mit einem schwachen Lächeln: „Wie geht es dir?“
„Gut.“ antwortete Camilla langsam und streckte prüfend die Arme. „Danke.“
Jo machte einen Teller für sie voll. „Es ist nicht mehr ganz warm. Wenn du willst, wärme ich es dir eben auf.“
„Nein, nein. Geht schon.“ Camilla nahm den Teller entgegen. Jo reichte ihr ein Stück Brot dazu und setzte sich dann auf das Bett von Camilla.
Die Ältere blieb auf dem Boden, lehnte sich aber mit dem Rücken an das Bett, während sie ihre Suppe mit einen Holzlöffel aß. Das Brot ließ sie bis auf wenige Bissen links liegen. Sie bewegte sich langsam, wie eine Schlafwandelnde. Durch einen Spalt in der Tür konnte sie hinaus in den Regen sehen.
„Wir werden hier fort müssen.“ brach Camilla schließlich das Schweigen. „Jetzt wissen die Cops, wo wir uns verstecken. Und sie wissen von dir.“
Sie sah ihren Schützling an. Jo erwiderte ihren Blick scheinbar furchtlos. Doch Camilla bemerkte, wie sich die dünnen Finger das Mädchens in den Stoff des Bettes krampften.
Camilla lehnte sich an das Bett und atmete tief durch. „Ich könnte dich irgendwo auf dem Land absetzen.“ Sie legte den Kopf auf ihre Matratze. „Wo du sicher bist und dich alleine durchschlagen könntest...“
„Nein.“ Jos Stimme war dünn, aber bestimmt. „Du musst mich nicht schützen oder sowas.“
Camilla seufzte leicht. Jo hatte sie leicht durchschaut. Das war sie nicht gewöhnt.
Etwas ziepte an ihrem Kopf. Sie erschrak, bevor sie merkte, dass Jo die Finger durch die orangen Locken fahren ließ.
„Du hast so wunderschöne Haare!“ flüsterte Jo mit kindlichem Staunen. „Wenn du sie nur ein bisschen mehr kämmen würdest...“
„Dafür habe ich keine Zeit.“ widersprach Camilla abwehrend, doch sie rührte sich nicht. Jos Finger fuhren weiter durch ihre Haare. Wenn Camilla die Augen weit nach oben verdrehte, konnte sie Jos konzentrierten Gesichtsausdruck sehen, die dünnen Lippen zusammengebissen und ein paar kurze Haarsträhnen im Gesicht. Die blauen Augen blickten nachdenklich.
Und der Duft nach Rosen füllte den Raum. Mit einem Hauch Vanille. Camilla fragte sich ernsthaft, wo Jo diesen Geruch aufgenommen hatte. Rosenwasser und Vanille gab es eigentlich nur noch in den reichen Oberstädten. Vielleicht hatte Jo in einer Fabrik gearbeitet, die Shampoos herstellte? Mit ihren schmalen, geschickten Fingern wäre sie dort sicher gut aufgehoben gewesen.
„Wohin willst du denn gehen?“ fragte Jo.
Camilla zuckte mit den Schultern und richtete den Blick wieder auf die Decke, bevor Jo merkte, dass sie angestarrt wurde. „Vielleicht in den Süden, wo es warm ist? Städte wie diese gibt es überall auf der Welt. Vielleicht gibt es irgendwo richtige Widerstandsgruppen. Andere Menschen, die uns helfen würden.“
„Was ist denn mit dem Widerstand hier? Es gibt doch bestimmt sieben Gruppen allein in dieser Stadt.“
Camillas Stimme wurde härter: „Das ist kein Widerstand mehr. Sie sind...korrupt.“ Ein tiefsitzender ärger begann, sich Bahn zu brechen: „Sie lassen sich von der Oberstadt bezahlen, und regen keinen müden Finger für das Wohlergehen der Ärmsten. Es sind Ratten, die von dem Reichtum der Oberstädte noch profitieren, anstatt sie zu stürzen.“
Camilla holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Nein, Jo. Das sind keine Menschen, zu denen ich zurückkehren werde.“
„Aber es gibt immer noch dich. Die ganze Oberstadt kennt dich.“ sagte Jo leise. „Was du in den letzten Jahren geleistet hast... Ohne dich sähe es hier anders aus, ganz anders.“
Jos Finger in ihren Haaren stockten. Das Mädchen hielt sogar den Atem an.
Camilla richtete sich auf: „Woher weißt du das?“ fragte sie drohend.
„Woher weißt du, was die Oberstadt sagt, Jo?“
Das Mädchen kroch auf dem Bett langsam nach hinten, bis ihr Rücken gegen die Wand stieß. Aus ihren Augen sprach plötzlich Angst. Sie tastete mit einer Hand nach ihrer Hüfte.
Camillas Blick folgte der Bewegung und sie erstarrte, als sie den Griff eines dünnen Dolches aus Jos Hosenbund ragen sah.