Der Sturm wütete mit neuer Kraft. Jo wurde von starken Windböen mal in die eine, dann in die andere Richtung getrieben wie eine verlorene Plastiktüte.
Sie hatte gegen den Regen einen Arm über die Augen gelegt, doch dadurch konnte sie den Weg nicht besser sehen. Fast blind stolperte sie voran, den Kopf zwischen die Schultern gezogen.
Es sah ganz so aus, als müsste sie jeden enttäuschen, allen voran die Menschen, die ihr am Herzen lagen.
In ihren Augen standen große Tränen. Sie hatte Angst. Camilla hatte auf sie geschossen! Und sie war alleine in einem gewaltigem Sturm. Wie hatte sich der schwache Regen so schnell verwandeln können?
Jos Atem ging flach. Schon jetzt waren die Mütze und ihr Sweatshirt vollkommen durchnässt. Der Pullover von Camilla! Sie hatte ihn immer noch an. Aber ihn zurückzubringen war ja auch keine Option mehr.
Sie meinte, im Sturm hinter sich eine Stimme zu hören und lief schneller. Wenn Camilla ihr folgte, konnte sie nicht sagen, was die Ältere mit ihr tun würde. Immerhin hatte sie geschossen.
Ihre Beine trugen Jo wackelig weiter. Die Hose klebte an ihr und machte die Bewegungen unendlich mühsam. Von ihren Haaren tropfen kleine Wasserfälle.
Es war kalt. Ein paar der Wassertropfen schienen halb gefroren zu sein. Jo wusste, dass sie sich hier nicht lange aufhalten durfte. Wenn sie weiter durch den Regen lief und nicht bald einen Unterschlupf fand, würde sie krank werden. Hier draußen, wo es nur verlassene Fabriken und jetzt eine rachsüchtige Camilla gab, wäre das tödlich.
Jo zog die Kapuze des Pullovers über. Der Stoff war bereist durchnässt, doch es schirmte sie immerhin ein wenig vor den prasselnden Regentropfen ab. Ihre Lippen bebten. Nicht nur vor Kälte.
Jetzt hatte sie auch noch Camilla enttäuscht. Ganz zu schweigen von all den Leuten, die ihre Hoffnungen in sie gesetzt hatten. Sie hatte es geschafft, in einem Krieg beide Seiten zu verraten. Das hätte sie niemals für möglich gehalten.
Wo sollte sie jetzt hin? Man würde sie suchen. Und niemand, niemand sollte sie finden!
Jo ballte die Hände zu Fäusten, um die Kälte zu vertreiben.
Sie könnte in den Süden gehen. Auch wenn Camilla vielleicht dorthin unterwegs war, vielleicht könnte sie ihr aus dem Weg gehen. Der Süden war groß. Im Süden war es wärmer.
Ein Geräusch ließ sich aufschrecken. Panisch suchte sie nach einem Versteck. Sie hatte hier keine Verbündeten.
Sie rollte sich schließlich zwischen den Trümmern einer Fabrik zusammen. In ihrem Versteck kauerte sie fast eine Minute, bevor das Geräusch endlich lauter wurde: Ein Motor. Sie hob den Blick und sah einen Zeppelin, der sich majestätisch und langsam durch den Sturm bewegte.
Mit angehaltenem Atem blieb Jo liegen, als der gewaltige Schatten über sie strich. Die Antriebsmotoren dröhnten. Für die Zeit, in der das Gefährt über sie glitt, hörte der Regen auf.
Das gewaltige Luftschiff flog dicht am Boden. Bewaffnete Polizisten standen an den Rändern des Korbes unter der großen Flugblase mit dem Logo der Oberstadt. Es waren Scharfschützen, die Gewehre schussbereit.
Doch die Männern in Sturmmasken schienen Jo zu übersehen, die sich zitternd kaum zu rühren wagte.
Sie hatte den Atem angehalten. Kleine Sturzbäche aus Regenwasser flossen um sie herum. Es war fast, als würde sie sich in einem Wildbach verstecken.
Ein Schwarm kleinerer Vögel wurde von dem Luftschiff aufgeschreckt und hob flatternd und kreischend ab.
Die vollautomatischen, ultra-leisen Maschinengewehre der Polizisten dröhnten los. Wenige Sekunden später war nur noch eine Wolke durchnässter Federn von dem Schwarm übrig.
Jo zitterte. Sie rührte nicht einen Finger, reagierte nicht, als ihr Wasser in die Nase lief, bis der leise Zeppelin endlich außer Sicht geriet und hinter einem grauen Vorhang aus Regen verschwand.
Jo biss sich auf die Unterlippe. Es war nicht schwer zu erraten, was ein Sonderkommando der Polizei hier suchte. Vermutlich hatten sie sogar extra für diese Aktion die Regenwolken zusammengetrieben, um zufällige Beobachter zu vermeiden.
Um sich im Schutz des Sturms an schleichen zu können.
Jo erhob sich.
Diese Männer wollten Camilla gefangen nehmen. Und es war ihre Schuld.
Entschlossen ballte sie die Hände zu Fäusten. Noch wusste die Polizei nicht, wo Camillas Versteck lag.