Jo rannte, so schnell sie konnte, durch den Regen zurück zu Camilla. Wasser spritze zu beiden Seiten von ihr auf. Sie hatte den Kopf gesenkt, und die Augen gegen den Sturm fast geschlossen. Sie keuchte, doch sie lief verbissen weiter.
Doch kurz vor den Klippen sah sie, dass sie zu spät kam. Der Zeppelin schwebte bereits ganz in der Nähe von Camillas Höhle.
Jo stockte der Atem. Es gab keine Chance, dass die Polizisten die Höhle übersehen würden. Sie musste schneller sein!
Das junge Mädchen biss sich auf die Unterlippe und rannte los. Die dürren Äste der vertrockneten Sträucher in dieser Einöde schlugen ihr gegen die Oberschenkel. Es gab auch wenige Chancen, dass die Polizisten sie übersehen würden.
Doch kurz, bevor sie in den Lichtkreis des Suchscheinwerfers eintauchen konnte, bemerkte sie eine Bewegung in dem Gesträuch am Rand der Klippe.
Jo bremste hart ab, ihre Schuhe rutschten durch Schlamm. Da war Camilla. Sie duckte sich in ein unsicheres Versteck, doch auf jeden Fall saß sie nicht in der Höhle in der Falle.
Jo warf sie unter einen weiteren Strauch, als der Scheinwerfer auf sie zu schwenkte. Mit angehaltenem Atem blieb sie dort liegen und drückte sich eng an die nasse Erde. Schlammspritze und Regen vermischten sich in ihrem Gesicht.
Durch die Sträucher konnte sie Camilla erkennen. Die Ältere sah zu ihr herüber. In den grünen Augen stand ein Ausdruck, den Jo nicht einordnen konnte: Angst? Hass? Dankbarkeit?
Vielleicht war es auch alles zusammen.
Der Suchscheinwerfer schwenkte weiter. Fast gleichzeitig sprangen Camilla und Jo hoch und preschten los, fort von dem weißen Lichtstrahl. Aus dem Zeppelin ertönten Stimme und Gewehrfeuer ertönte.
Es waren echte Kugeln, das erkannte Jo am Geräusch. Sie wurde nur noch schneller und im nächsten Moment rannte sie neben Camilla.
Diesmal wollten die Polizisten sie wirklich erledigen.
Zu ihrem Erstaunen bekam Jo von Camilla einen kurzen Blick zugeworfen. Obwohl sie um ihr Leben rannten, hob Camillas die Stimme: „Was tust du noch hier?“
Jo schlug einen kurzen Haken und eine Gewehrsalve ging dort nieder, wo sie eben noch gelaufen war. Die Angst machte es ihr unmöglich, klar zu denken.
„Ich wollte dich warnen.“ antwortete sie Camilla zwischen zwei hastigen Luftzügen und stolperte weiter.
Camilla zog sie zur Seite, als etwas sehr lautes hinter ihnen auf den Boden krachte. Als hätte sie sich verbrannt ließ die Ältere Jo danach sofort los.
Gemeinsam sprangen sie über einen Stapel Metallrohre hinweg, die mitten auf den Klippen verrostete. Dahinter rutschten sie über den Boden, während Camilla in eine Kurve ging und Jo ihr automatisch folgte.
Jo, die sich mit den Waffen der Oberstadt auskannte, bemerkte eine unheimliche Stille, als das Gewehrfeuer für einen Moment verstummte.
„In Deckung!“ rief sie laut, und gemeinsam mit Camilla warf sie sich in den Schatten eines Schutthaufens.
Im nächsten Moment explodierte eine Bombe hinter ihnen, die alles im Umkreis von zwanzig Metern in Asche verwandelte. Der Regen zischte laut und wurde zu weißem Wasserdampf. Camilla und Jo waren in ihrem Versteck geschützt gewesen. Jetzt zogen sie sich gegenseitig hoch und liefen weiter. Der Wasserdampf gab ihnen kurzfristigen Schutz, und der schwerfällige Zeppelin war noch im Wendemanöver begriffen.
Camilla entdeckte eine Falltür im Boden, blieb stehen und zog die Metalltür auf. Jo kam ihr zu Hilfe, und sie konnten in einen versteckten Bunker gelangen. Davon gab es viele auf dem Land, aus den Zeiten des Krieges. Jo zog die Tür zu und aktivierte mit fliegenden Fingern eine Schutzbarriere, die die Türmaserung an den Boden anpassen und somit unsichtbar machen würde.
Keuchend verharrten die Mädchen in der engen Dunkelheit des Bunkers. Schüsse knallten, und weitere Bomben explodierten. Sie wussten nicht, ob ihr Versteck entdeckt worden war.
„Woher wusstest du davon?“ keuchte Jo und ließ sich auf die Stufen der schmalen Treppe fallen, die von der Oberfläche in die Tiefe führte.
„Ich kenne fast alle Geheimnisse hier.“, antwortete Camilla. Der Stimme nach war sie bereits tiefer die Treppe hinab gegangen. Wenig später flammte eine kleine Glühbirne auf und verbreitete schwaches, weißliches Licht.
Jo kam zögerlich die Treppe herunter. Sie musste erst einmal zu Atem kommen. In dem kleinen, viereckigen Raum, den sie betrat, gab es nur zwei lange Sitzbänke, die Lampe in der Mitte und einen kleinen Metallschrank gegenüber der Treppe, der sehr an altmodische Schulspinde erinnerte – schmal, rechteckig und vermutlich voller Erinnerungen.
„Ich glaube, es wird Zeit, dass du mir ein bisschen was erzählst.“, schlug Camilla vor. Sie ließ sich auf einer Bank nieder und deutete mit der Hand an, dass Jo sich auf die andere setzten sollte.
Jo folgte ihrer Aufforderung zögerlich.
„Als erstes solltest du wissen, dass ich dich niemals verraten habe.“, fing die Jüngere an.