Endlich war der Moment da.
Camilla umfasst die Schockpistole mit einer Hand, mit der anderen den Arm von Jo. Sie warteten, bis die Mitte der großen Lücke in etwa vor ihnen lag. Dann beugte sich Camilla nach vorne.
Das Airboard schoss los. Knapp einen Meter über dem Boden rasten sie auf die Mauer zu, dann zog Camilla das Board scharf nach oben und sie stiegen fast senkrecht an der Mauer hinauf.D Der Fahrtwind schlug ihnen in die Gesichter und riss an Camillas langen Haaren. Jo drohte schon wieder, von dem Board zu rutschen. Sie klammerte sich an Camilla fest, die wie immer sicher stand.
Dann rauschten sie über die Spitze der Mauer hinaus. Sofort bockte das Airboard in dem plötzlichen Luftzug, als sie den Windschatten der Mauer verließen und sich dem über die Betonkanten pfeifenden Wind aussetzten.
Camilla kämpfte ein paar Sekunden darum, das Board wieder unter Kontrolle zu kriegen. In diesen wenigen Herzschlägen sahen sie direkt in die Gesichter der erschrockenen Wachhabenden.
Sie hatten sich verschätzt. Erstens standen an ihrer Stelle der Mauer etwa sechs Wachen auf dem Rückweg, die hintere Reihe der Marschierenden. Zweitens war die große Lücke eine Illusion gewesen. Statt leerer Plätze liefen hier nur kleinwüchsige Männer. Es war ein Trick gewesen, denn wie die Mädchen jetzt in der Ferne erkannten, gab es solche „Unterbesetzungen“ immer wieder. Und drittens waren die Laufenden nich die einzigen Wachen. Die Mauer war breit, und mehrere Wachen standen in ihrer Mitte, wo sie von außen nicht zu sehen gewesen waren. Die meisten von ihnen hatten festsitzende Maschinengewehre statt der leichten Gewehre der Laufenden.
Dann war der Schreckmoment vorbei und alle Wachen in Sichtweite legten gleichzeitig ihre Gewehre an. Camilla brachte das Airboard in eine unkontrollierte Drehung und trieb es schnell wieder in den relativen Schutz der Mauer zurück. Jo kreischte, als das Airboard zu fallen schien und um sie herum Mündungsfeuer aufblitzte.
Camilla holte alles aus dem kleinen Airboard heraus. So schnell es nur ging glitten sie an der Wand entlang, versuchten, außer Reichweite der Feuernden zu gelangen. Das Airboard zuckte in einem Zickzackflug wie unter epileptischen Krämpfen. Das Stroboskoplicht der Gewehrsalven tauchte die Mauer in Gewitterlicht.
Wieder riss Camilla das Airboard nach oben, doch kaum, dass sie über die Kante der Mauer hinweg kamen, zuckten neue Blitze aus den stehenden Maschinengewehren auf. Sie tauchten wieder ab. Doch sie wussten, dass sie nicht umkehren konnten.
Camilla brachte das Airboard mit ein paar Drehungen in den Schutz einer Hecke. Sie bremste.
„Was tust du?“, kreischte Jo entsetzt. Sie erwartete jeden Moment, von Schüssen zerfetzt zu werden.
„Sie werden erwarten, dass wir im Schutz der Hecke weiterfliegen, um einen neuen Angriffspunkt zu suchen. Oder, dass wir verschwinden.“, erklärte Camilla, sah aber die ganze Zeit konzentriert auf die Mauer. „Also werden wir hier kurz warten und dann durchfliegen, wenn sie sich entspannen, aber noch keine Normalität eingekehrt ist.“
Camillas ganzer Körper drückte Anspannung aus. Sie fuhr sich mit den Fingern immer wieder durch die Haare. Jo hinter ihr kaute auf ihrer Unterlippe und hatte sie sich bereits blutig gebissen.
„Okay, jetzt!“, rief Camilla. Doch statt los zufliegen, drehte sie sich noch einmal kurz um und drückte Jo einen kurzen, aber umso intensiveren Kuss auf die Lippen. Jo erwiderte die Geste vollkommen überrascht, und einen Herzschlag später trennten sie sich und Camilla flog los.
Sie flogen nicht im Zickzack, sondern in einer geraden Linie, leicht ansteigend, direkt auf die Mauer zu. Der Fahrtwind war jetzt so stark, dass er ihnen den Atem nahm und sogar Camilla aus ihrer sicheren Position zu drücken drohte. Erschreckte Rufe kündigten ihr Kommen an, doch die beiden Mädchen rasten unbeirrt weiter. Die Mauer und der Wehrgang huschten in dem Bruchteil einer Sekunde unter ihnen hinweg. Die Wachen waren verschwommene, graue Flecken auf dem Beton.
Im nächsten Moment befanden sie sich waagerecht und dann in einem flachen Sturzflug. Sie waren auf der anderen Seite der Mauer. Die Wildnis erstreckte sich vor ihnen.
Doch es war nicht die Wildnis, die sie sich ausgemalt hatten.
Statt Wäldern, Bergen und ewigen Geröllhalden von zerstörten Städten lag eine weite, betonierte Fläche vor ihnen. Wie übergroße Pilze wuchsen Fabriken aus dem Boden, ihr Rauch lag überall in der Luft.
Die Wildnis war auch nicht verlassen. Lastwagen rollten schattenhaften Gespenstern ähnlich selbst in der Nacht noch durch die Straßen. Roboter be- und entluden die Wagen, überall wimmelte es vor geschäftiger Betriebsamkeit.
Und vor Polizisten. Die Schüsse hatten eine ganze Armada von motorisierten Gesetzeshütern auf den Plan gerufen. Sie erwarteten die beiden Mädchen bereits.
Camilla und Jo flogen ihnen direkt in die Arme, und nur Sekunden später umschlossen bereits Handschellen ihre Hände und Füße.
Ein kurzer Schmerz am Hinterkopf, bevor sie überhaupt wussten, wie ihnen geschah, und alles wurde schwarz.