Anm: Von diesem Lied kam übrigens überhaupt erst die Idee, diese Geschichte zu schreiben, und die Lieder-für-Kapitel-Nummer war eigentlich auch nur Tarnung, um dieses Lied heimlich einzubauen...
Dann mal viel Spaß mit meiner Interpretation dieses Liedes:
Ein tiefes Brummen setzte ein und die Tragen begannen, zu vibrieren. Jos Atem wurde schneller. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Camilla blickte ruhiger und drückte tröstend ihre Hand. Aber auch sie spürte die Angst.
„Was passiert jetzt?“, fragte Jo. Selbst ihre Stimme zitterte.
Camilla atmete tief durch, um in ihrer Stimme die Zuversicht zu verkörpern, die Jo dringen brauchte.
„Du musst mir nur vertrauen, Jo. Es wird alles gut.“
Natürlich waren das nur leere Worte, doch Jo lächelte schwach, obwohl sie es ebenfalls wissen musste.
Es gab kein Entkommen mehr.
Die Tragen setzten sich in Bewegung und durch ein Loch im Boden wurden Camilla und Jo in einen hell erleuchteten Raum gefahren. Sie fassten sich tapfer an den Händen und blinzelten in der plötzlichen Helligkeit. Menschen grölten, die Stimmen machten furchtbaren Lärm. Da waren tausende, Männer wie Frauen, grimmige Blutlust im Gesicht.
„Sieh mich an!“, befahl Camilla und fing Jos Blick ein. „Die anderen sind nicht da.“
Jo zögerte, dann nickte sie. Die Tragen hielten über einer Art Bühne an, ein paar Zentimeter über dem Boden an der Stange hängend. Es wurde still im Saal.
Die Seile um ihre Körper spannten sich leicht an.
Jos Augen wurden groß, und auch Camilla konnte das Zittern nicht mehr unterdrücken. Diese Seile sollten sie in wenigen Minuten zerquetschen. Das war ihre Hinrichtung.
Eine Träne stahl sich aus Camillas Auge. „Wir werden entkommen!“, flüsterte sie heiser.
Ein neuer Motor schaltete sich brummend ein. Es begann. Eine Spule zog die Seile langsam, quälend langsam, zusammen.
Gleichzeitig begann die Stange, sich zu drehen. Der Raum glitt vorbei, tausende Gesichter, in einem langsamen Tempo. Die runde Bühne war in der Mitte des großen Saales.
Jo und Camilla fassten sich fester an den Händen. Gleichzeitig wurde ihr Atem schneller und flacher, als Angst in ihnen aufkeimte und gleichzeitig ihre Brustkörbe zusammengeschnürt wurden.
„Ich liebe dich!“, flüsterte Jo. Ihre Stimme kam schwach. Die Luft wurde bereits knapp und hüllte sie beide zusehends in einen feinen Nebel.
„Ich liebe dich auch.“, antwortete Camilla. Keine Sekunde zögerte sie.
„Wir brechen aus, nicht?“, fragte Jo schwach lächelnd. Ihre Beine begannen zu kribbeln, als die Blutzufuhr langsam schwächer wurde.
Camilla nickte und verscheuchte den Schwindel.
Die Tragen begannen, sich voneinander fort zu bewegen.
Camilla und Jo fassten einander fester an den Händen. Sie spannten alle Muskeln an, sie brüllten vor Schmerzen. Doch schon riss das erste Seil mit einem lauten Knall. Camilla beugte sich, plötzlich befreit, nach vorne. Nur wenig später riss das breite Band um Jo. Lautes Knallen hob an, als Seil um Seil nachgab. Die Mädchen stolperten nach vorne, umgeben von den wild durch die Gegend schlagenden Seilenden und dem goldenen Licht der Deckenbeleuchtung.
Sie fielen einander in die Arme. Jo stieß eine Faust in die Luft: „Ich wusste es!“
Camilla zog sie an sich und küsste sie für einen langen, intensiven Moment. Jo gab sich hin, doch schon brüllten die Polizisten vor Wut und begannen, die Bühne zu stürmen.
Camilla zog ihre Pistole, die sie versteckt gehalten hatte. Jo zog den Oberstadt-Dolch. Sie stellten sich Rücken an Rücken und wehrten den Angriff ab, ohne zu zögern. Wie die perfekten Kämpfer schlugen sie um sich, retteten den andern vor Angriffen und vertrauten darauf, dass sie sich gegenseitig den Rücken freihielten.
Schon kam das Airboard, von Camilla gerufen, durch den Saal geflogen. Das Licht wurde immer heller und heller.
Camilla und Jo grinsten, und sprangen gleichzeitig auf das Airboard.
Die Arme weit ausgestreckt konnten sich ihre Hände so grade berühren. Knochen splitterten. Unmenschliche Schmerzen verdrängten jeden Gedanken. Blut lief ihnen aus Nase, Mund, Ohren, Augen. Der Druck wurde unerträglich.
Noch einmal hob Jo den Blick, voller Angst, wie damals, am ersten Abend. Und Camilla erwiderte den Blick mit der gleichen Verzweiflung. Immer noch drifteten die Tragen auseinander. Die Hände glitten voneinander ab. Sie hatten die Arme noch nacheinander ausgestreckt, fassten die Finger der anderen.
Tränen vermischen sich mit Blut. Es war keine Kraft mehr da, um die Hände erhoben zu halten.
Camilla sah Jo lange an. Beide spürten, wie die Zeit verging. Die letzten Sekunden, bis auch ihre Herzen erdrückt wurden.
Sie konnten nicht mehr sprechen. Nicht einmal Atmen.
Camilla verzerrte die Lippen zu einem Lächeln.
Jo weinte und grinste zurück.
„Wir entkommen“, sagte ihr Lächeln.
Nur noch ihre Fingerspitzen berührten sich.
Und sie flogen, flogen mit dem Airboard hoch hinaus, aneinander geschmiegt, lachend vor Triumph. Niemand war so schnell wie sie, keiner konnte sie einholen. Der Horizont lag vor ihnen, die Freiheit war da.
Unter ihnen wurde die Mauer klein, ganz klein. Die Oberstädte verschwanden.
Das Licht der aufgehenden Sonne war golden, hell und warm. Der Wind war schwach, doch er roch nach Abenteuer und Freiheit.
In einem großen Saal, tief unter der Erde, wurde das Licht ausgeknipst, nachdem der letzte Besucher gegangen war.
Nur zwei Körper hingen, grausamst verdreht, in harten Stahlseilen, die sie noch aufrecht hielten.
Ein letzter Blutstropfen fiel von einem Finger, der fast bittend ausgestreckt war, doch jetzt unaufhaltsam dem Boden zu sank, als die Muskeln endgültig versagten.
Camilla und Jo flogen nach Süden.