Artreis blinzelte verwirrt, noch halb in seinen Träumen gefangen. Was war geschehen? Er erinnerte sich nur an zerfetzte Bilder: Seine Reiterprüfung, die ihn zu einem Helden hätte machen sollen. Er hatte es vergeigt, weil er sein Herz an ein minderwertiges Pony gegeben hatte … Staubwind! Er hatte ihn retten wollen!
Er erinnerte sich an die Gefangenschaft. Der drohende Krieg war losgebrochen. Und seine Freunde … Menakurr und Aleé. Es hieß, dass Menakurr von den Menschen gefangen gehalten wurde, weil er auf einem Esel geritten war. Dann war er plötzlich in Artreis‘ Zelle in der Burg des Zwergenkönigs aufgetaucht. Er war gefangen genommen worden – erneut. Bei der Hinrichtung war auch Aleé bei ihnen gewesen und ein Zwerg – offenbar ein Bekannter von Menakurr – hatte sie vor dem schwarzen Rahmen eines Portals töten sollen.
Dann ein Sturz, kaltes Wasser, ein Sturm. Und jetzt … eine kleine, wohnliche Holzhütte, viele Fremde und Verbände um ihre Hälse.
Er setzte sich auf. „Wo ist Staubwind?“
„Shh, nicht reden“, befahl eine schwarzhaarige Frau und musterte ihn mit strengem Blick. „Einfach nicken oder den Kopf schütteln. Wer ist Staubwind? Ein Freund?“
Artreis nickte. „Mein Pony. Wo ist er?“
„Du sollst nicht reden!“, fuhr ihn die Fremde an. „Hier, setz dich.“
Sie half ihm auf eine Holzbank. Dort saßen auch schon Aleé und Menakurr. Sie hatte einen Arm um ihren Freund gelegt. Beide sahen verunsichert aus.
„Es ist kein Pferd mit euch hinübergewechselt“, sagte die Schwarzhaarige ruhig. Hinter ihr standen drei andere Personen: Ein kleiner Junge in einer grünen Rüstung und mit einem Band in den rotblonden Haaren, ein hochgewachsener, schlanker Mann, der die dunkelbraunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden trug, und ein Mädchen mit drei frechen Zöpfen im schwarzen Haar, einem grünen Hemd und einer lila Hose.
„Kein Pferd?“, fragte Artreis mit rauer Stimme. „Dann ist er noch …“
Er brach ab. Wo? In der Burg des Zwergenkönigs? Aber wo lag das Gemäuer, von hier aus gesehen? Wo war ‚hier‘?
Die Frau schob ihnen Getränke vor die Nasen. „Beruhigt euch bitte. Ich werde euch jetzt alles erzählen, was ich euch sagen kann.“
Sie warf dem Jungen, der in ihrem Schatten stand, einen Blick zu. „Du vertraust ihnen?“
Unter dem kritischen Blick des dunkelhaarigen Mannes nickte der Junge eifrig. Artreis wechselte einen Blick mit Menakurr und Aleé. Wo waren sie hier gelandet? Misstrauen und Verwirrung lagen in der Luft.
Für die vier anderen wurden Stühle aus einem Nebenraum herbeigeschafft. Für einen Moment waren sie alleine. Artreis hörte ein lautes Rauschen, das von draußen kam. Was war das für ein Lärm? Es klang wie …
„Das Meer!“, flüsterte er seinen Freunden zu.
„Dann sind wir in Ellynoi?“, fragte Aleé besorgt.
Es mochte stimmen. Die Fremden waren allesamt Menschen.
„Erneut gefangen!“, murmelte Menakurr leise.
Die Menschen kamen wieder und setzten sich zu ihnen an den Tisch. Artreis umklammerte seinen Becher mit dem heißen Getränk. Was erwartete sie hier? Sie alle drei waren Hochverräter nach den Gesetzen der Reiter, die Ellynoi beherrschten.
„Mein Name ist Junea“, sagte die schwarzhaarige Frau. „Das ist Takjin.“
Der kleine Junge winkte ihnen über den Tisch hinweg zu.
„Merin Chien von Telion“, stellte sich der dunkelhaarige Mann vor, während er sich setzte.
„Und ich bin Peki Teador.“
„Artreis Kielran.“ Kannten die Fremden ihre Namen wirklich nicht? Er beobachtete ihre Gesichter – wie reagieren sie auf die Offenbarung? Sie waren offenbar ungerührt.
„Ich bin Aleé und das ist Menakurr“, stellte Aleé sich und den anderen Zwerg vor.
„Bitte hört mir jetzt einfach zu“, bat Junea. „Ihr drei solltet eure Stimmen schonen. Es ist ein Wunder, dass ihr noch lebt. Und ihr beide“, sie wandte sich an Merin und Peki, die offenbar nicht zu ihr und Takjin gehörten, „solltet vielleicht auch besser zuhören. Wenn ihr Zwischenfragen stellt, komme ich nur aus dem Konzept.“
Merin hob eine Augenbraue. Der Zweifel stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Ihr seid in einer anderen Welt“, offenbarte Junea und kam den Fragen, die natürlich sofort folgten, zuvor, indem sie weitersprach: „Es gibt in dieser Welt nur noch die Insel Soregrat. Ich wüsste es, wenn ihr nicht von hier kommt. Gibt es in euren Welten tödlichen Regen? Nein? Nun, hier schon.
Es gibt mehrere Welten, zwischen denen man reisen kann, wenn man die nötigen Voraussetzungen erfüllt. Eigentlich sollte es nur mit einem magischen Stab möglich sein, dem Enderstab. Doch ihr fünf seid irgendwie ohne den Stab hierher gelangt. Ich muss erfahren, wie.
Doch zuerst werde ich euch sagen, warum diese Fragen so wichtig sind. Es gibt drei niedere Welten, aus denen ihr stammt. Ich weiß nicht, ob ihr alle aus der gleichen Welt kommt oder wie das vonstatten gegangen ist, jedenfalls kommt ihr wohl aus einer dieser riesigen, namenlosen Welten. Das werden wir mit der Zeit herausfinden müssen. Dann gibt es noch vier kleinere Welten: Soregrat – das ist diese Welt –, die Wyverninsel, die Enderinsel und den Nether. Die meisten dieser Welten sind versiegelt, damit der Spiegelmeister sie nicht erreichen kann. Er trachtet danach, den Enderdrachen zu finden, zu beherrschen und mit seiner Macht die Welt ins Chaos zu stürzen. Und es gibt eine letzte Welt: Celes Hedian. Der Zugang zu ihr wurde völlig zerstört, doch sie ist das Ziel des Spiegelmeisters. Sie muss so etwas wie eine Ur-Welt sein, die Heimat der drei Weltenwanderer.“
Junea holte Luft, was ihr Fehler war.
„Der Enderdrache?“, fiel Merin ihr sofort ins Wort. „Es gibt noch einen Drachen?“
„Bist du schon einmal einem Drachen begegnet?“, fragte Junea überrascht.
Merin zögerte – ob aus Angst vor der Erinnerung oder aus Zweifel, ob er ihnen vertrauen konnte, war nicht zu erkennen. „Ashram, der rote Feuerdrache“, antwortete er dann doch. „Mein Bruder … Adoptivbruder … Chirogan hat ihn besiegt.“
„Ein roter Feuerdrache“, wiederholte Junea nachdenklich. „Nein, der Enderdrache ist schwarz und spuckt auch kein Feuer. Ich weiß nicht, was Ashram ist.“
„War“, verbesserte Merin. „Er ist tot.“
„Umso besser.“ Junea wandte sich an Artreis und seine Freunde. „Habt ihr auch von Drachen gehört? Nicht reden, nur Kopfzeichen!“
Alle drei schüttelten die Köpfe.
„Dann liegt die Vermutung nahe, dass ihr nicht aus der gleichen Welt stammt.“
Artreis sah Merin und Peki an, die ihrerseits ihn und die Zwerge beäugten. Wesen aus einer anderen Welt? Waren sie wirklich so weit weg von Ellynoi? Das alles konnte doch nur eine groß angelegte Täuschung sein. Doch mit welchem Zweck?
„Ich muss euch jetzt etwas fragen.“ Junea wandte sich wieder an sie. „Jemand hat versucht, euch zu töten. Ist der Name ‚Garabath‘ gefallen? Oder ‚Spiegelmeister‘?“
Takjin zuckte unmerklich zusammen.
Artreis erinnerte sich. Menakurr hatte von einer körperlosen Stimme berichtet, die dem König der Zwerge Befehle erteilte.
Ihre Gesichtsausdrücke waren Junea wohl Antwort genug. Auch Merin hatte die Augen verengt.
„Wir nennen ihn hier nur den Spiegelmeister“, erzählte die Frau weiter. „Dokarestmus – der Herr dieser Insel – fürchtet, dass allein der Name ihn auf die Spur von Soregrat führen kann, darum vermeiden wir es, ihn beim Namen zu nennen.“
Es trat eine kurze Pause ein. Artreis merkte, dass er ihr zu glauben begann. Eine fremde Welt … war das möglich? In seinem Kopf herrschte noch immer Chaos. Er wollte zurück zu Staubwind, seinem tapferen Pony.
„Der Spiegelmeister darf diese Welt nicht finden“, sprach Junea weiter. „Wenn er hierher gelangt, ist auch Celes Hedian in Gefahr, und damit alle Welten. Mein Mentor, Dokarestmus, der Drachenmeister, hat Soregrat vor dem Spiegelmeister beschützt. Doch jetzt ist Dokarestmus verschwunden. Ich fürchte, dass es mit eurer Ankunft hier zusammenhängt. Es ist eigentlich unmöglich, ohne den Enderstab durch die Welten zu reisen, doch genau das habt ihr geschafft.“
„Nicht selbst“, wandte Peki ein. „Das Portal hat mein Paps gebaut, im Auftrag von diesem Spiegelmeister.“
Artreis sah das Kind überrascht an.
„Ich hatte damit nichts zu tun!“, verteidigte sich Peki.
Juneas Blick war nachdenklich. „Dann ist der Spiegelmeister näher, als wir befürchtet haben. Aber offenbar hat er weder das Buch noch den Wyvernstab bisher gefunden. Wir müssen die Artefakte unbedingt vor ihm finden.“
Bis auf Takjin sahen alle verwirrt aus.
„Was für Stäbe?“, fragte Aleé.
„Ihr sollt doch nicht sprechen!“ Junea seufzte. „Es gab drei Personen, die durch die Welten reisen konnten. Dokarestmus, der Spiegelmeister und Senethika. Sie haben drei Artefakte geschaffen: Ein Buch mit Wissen über die Welten und zwei Stäbe, mit deren Hilfe man zwischen den Welten reisen konnte. Den Enderstab haben wir hier, doch der Wyvernstab fehlt uns. Und auch das Buch ist verschollen. Sie sind in einer magischen Kiste, doch wir haben kein Gegenstück für sie und können die Artefakte nicht erreichen. Allerdings gibt es noch mehrere solcher Kisten in den anderen niederen Welten. Diese müssen wir finden.“
Merin legte die Finger an die Stirn. „Dieses ganze Gerede von Welten und Weltuntergängen … ist das dein Ernst?“
„Natürlich!“ Junea sah ihn entgeistert an.
„Ich glaube, sie brauchen noch Zeit, um das Ganze zu verstehen“, wandte Takjin schlichtend ein. „Mir hast du mehrere Tage gegeben. Artreis, Menakurr und Aleé sind verletzt, Merin und Peki haben offenbar auch einiges hinter sich. Lass sie einige Tage hier leben und gib ihnen Zeit, alles zu verarbeiten.“
Junea sah den Jungen an und gab dann seufzend nach. „Ich muss mich eh um die Raubtiere kümmern. Und sehen, ob der Sturm irgendwelche Zäune zerstört hat.“
Ohne weitere Worte verließ sie die Hütte. Sie wirkte angespannt. Doch vielleicht war sie einfach nur überfordert.
„Raubtiere?“, fragte Peki leise.
Bevor jemand antworten konnte, hörten sie mächtige Flügelschläge. Merin eilte ans Fenster. „Ein Drache!“
„Ein Wyvern“, sagte Takjin. „Sie nehmen es sehr übel, als Drachen bezeichnet zu werden.“
Gelassen erwiderte der Junge Merins wilden Blick. „Das ist Wellenstürmer, Juneas Reittier. Er ist zahm, keine Sorge. Alle Kreaturen von Soregrat sind zahm.“
„Kreaturen?“, fragte Merin. „Was für Kreaturen?“
Takjin wich seinem Blick aus. „Soregrat ist der letzte, sichere Ort in dieser Welt. Alle Tiere, die wir retten konnten, sind hier.“
Das klang irgendwie nicht so richtig beruhigend, fand Artreis.
„Sag schon!“, bohrte Peki nach. „Redest du von Pferden?“
„Pferde gibt es hier auch, ja. Aber sie sind weiter weg, Mosa kümmert sich um sie“. Zögerlich gestand ihnen Takjin ihre Antworten zu. „Es gibt einen hohen Berg, auf dem die Wyvern leben, es gibt riesige Skorpione, Löwen und Tiger, Elefanten, Bären, ...“
Er bemerkte, dass seine Begleiter ihn ungläubig oder verständnislos anstarrten.
„Wisst ihr was? Ich zeige euch die Delfine, sie sind direkt vor dem Strand. Kommt“, forderte er Artreis, Menakurr und Aleé auf. „Es ist eine ganz kurze Strecke. Die Delfine waren es, die euch gerettet haben. Sie freuen sich bestimmt, zu sehen, dass es euch gut geht.“