Merin entschuldige sich irgendwann spät in der Nacht und begab sich als erster ins Bett. Takjin war der nächste, und die fröhliche Peki begleitete ihn. Menakurr war sich ziemlich sicher, dass die beiden jüngsten ihrer Gruppe mehr Zeit unter sich verbringen wollten.
Er selbst, Aleé und Artreis blieben in der Stube sitzen. Die Fackel verbreiteten ein warmes, angenehmes Licht, das ihn langsam schläfrig werden ließ. Aleé lehnte sich an ihn. Artreis wechselte auf den Platz gegenüber, um sich auf der Holzbank ausstrecken zu können.
Ein unbeschreibliches Glück erfüllte Menakurr. Sie waren zusammen! Irgendwie hatten sie alle Abenteuer überstanden, waren durch Krieg, Verrat und Gefängnis nicht getrennt worden. Nein, sie hatten es überstanden. Diese Erkenntnis traf ihn erst jetzt, da sie endlich einmal ein wenig Zeit unter sich hatten. Dieser Moment erinnerte ihn sehr an die Hütte bei der Ostmine, wo sie eine sehr kurze, glückliche Zeit verlebt hatten.
Seit damals war so viel passiert! Artreis war rapide erwachsen geworden, sein Gesicht war noch gezeichnet von den im Gefängnis verlebten Tagen in Angst und Schrecken. Aleé war zu einer tapferen Kriegerin geworden, dem goldenen Phönix. Und er selbst? Menakurr betrachtete seine Hände. An der linken fehlten zwei Finger. Er war zu einem Verräter geworden und hatte die Schuld auf sich geladen, für Artreis‘ Gefangennahme verantwortlich zu sein.
„Was beschäftigt dich?“, fragte Aleé und setzte sich auf.
Menakurr vollführte eine hilflose Geste. „Ich dachte gerade daran, was wir alles erlebt haben, um schließlich hier zu landen.“
Aleé lächelte und nahm seine Hände in die ihren. „Wir haben überlebt!“
„Aber zu welchem Preis?“
„Wovon sprichst du?“, fragte Aleé verwirrt.
„Wir haben so viel geopfert. Wir haben Dinge getan, die wir nicht hätten tun sollen.“
Ein Schatten legte sich auf Aleés Gesicht. Menakurr war sich absolut sicher, dass sie genau wie er an den Zwerg dachte, den sie hatte erschlagen müssen.
Artreis seufzte schwer. „Ich wünschte, Staubwind wäre hier.“
„Und Aurora!“, warf Aleé ein. „Glaubt ihr, es geht ihnen gut?“
Menakurrs Gedanken schweiften zu seinem eigenen Reittier ab, dem tapferen Esel Grauchen. „Ich bin mir sicher, dass sie einander gefunden haben“, sagte er seinen Freunden. „Sie ziehen zu dritt durch die Lande und passen aufeinander auf. Wie wir.“
Artreis und Aleé lächelten matt, aber Menakurr konnte ihnen ansehen, dass sie nicht überzeugt waren. Er spielte gedankenverloren mit Aleés Fingern. Auch er vermisste Grauchen. Die Reittiere waren mehr als bloß ein schnelles Fortbewegungsmittel oder ein Statussymbol der Reiter von Ellynoi. Sie waren für sie zu wertvollen Freunden geworden. Morgens zuzusehen, wie Merin sich um seinen braunen Wildfang kümmerte und Peki einen Strandausritt auf ihrer Jen machte, tat ihnen in den Seelen weh. Artreis hatte für sein Pony alles riskiert: Er hatte gegen die Gesetze der Reiter verstoßen, hatte seine Heimat verloren und sich der Todesstrafe ausgesetzt. Dann, als er im Kerker gewesen war und der Zwergenkönig drohte, Staubwind zu töten, hatte Artreis um des Pferdes Willen jede Gelegenheit zur Flucht verstreichen lassen. Das Band zwischen beiden war unerklärlich tief. Artreis hatte Menakurr zudem erzählt, dass er Staubwind bei der Reiterprüfung zum ersten Mal geritten sei. Damals war das Pony noch namenlos gewesen, eine aufgegebene Zucht, da sein Blut nicht rein genug für die Ansprüche der Reiter von Ellynoi war. Am Ende der Prüfung hatte Artreis das Tier als sein Reittier erwählt und ihm – eine Todsünde – einen Windnamen gegeben, der nur den edelsten Rossen vorbehalten war.
Was mochte in diesen wenigsten Stunden geschehen sein, dass Artreis‘ Meinung von dem Pferd so tiefgreifend gewandelt hatte? Denn im ersten Moment hatte er Staubwind gehasst und verachtet, so wie alle Reiter.
Artreis hatte es Menakurr nicht sagen können. Es musste ein rätselhaftes Band sein, dass sich nicht mit Vernunft erklären ließ.
Offenbar hatten auch die anderen ihren Erinnerungen nachgehangen. Artreis bewegte sich aber plötzlich. „Menakurr, wollen wir uns nicht die Notizen von diesem Dokarestmus ansehen?“
Menakurr setzte sich auf. „Ich weiß nicht … Junea wird es vielleicht nicht gutheißen. Es war ein dummer Vorschlag.“
„Nein, war es nicht“, sagte Aleé. „Sie will den Spiegelmeister doch tot sehen. Alle Informationen, die wir finden können, sind da nur hilfreich!“ Sie sprang voller Tatendrang auf und hielt dann inne. „Oder seid ihr zu müde?“
Artreis und Menakurr verneinten nach kurzem Überlegen. Zu dritt eilten sie aus dem Wohnraum, betraten den Flur und öffneten vorsichtig die Tür zum Studierzimmer.
Für gewöhnlich war dies Takjins Schlafplatz, doch da die Nächte warm waren, hatten er und Junea draußen Zelte aufgestellt. Ein Blick durch das Fenster zeigte Menakurr, dass es in den Zelten dunkel war. Nur zwei Gestalten saßen nebeneinander am Strand und betrachteten die Wellen. Takjin und Peki. Menakurr lächelte.
Das Studierzimmer, das sie nun betraten, war vollgestopft. An der Innenwand stand ein Bett, an der Wand gegenüber ein Schreibtisch, der unter unzähligen Notizen und Pergamentrollen verborgen war. Bücherregale verdeckten alle Wände, die sonst noch frei gewesen wären, auch sie quollen über mit Zetteln, Papieren, Pergamenten und Büchern. Über dem Bett hing ein großes Bild, das drei Personen zeigte.
„Wer sind die?“, fragte Aleé.
Die Zwerge und Artreis fühlten sich angesichts des überlebensgroßen Bildes winzig.
Menakurr trat vor und las die Inschrift: „Die Weltenreisenden.“
„Davon höre ich zum ersten Mal“, sagte Artreis.
„Ich denke, sie sind wie wir – auch wir haben die Welt gewechselt“, überlegte Menakurr und suchte die Buchrücken der unteren Regale nach dem Schlagwort ‚Weltenreisen‘ ab. Die oberen Reihen waren für sie unerreichbar, doch zum Glück stieß er bald auf das Werk „Die Geschichte der Weltenreisenden“, das sich verstaubt in einer der untersten Reihen versteckte.
Menakurr legte den schweren Wälzer auf das Bett und schlug ihn in der Mitte auf. Die Seiten waren leer.
„Unsichtbare Tinte?“, riet Artreis.
Menakurr blätterte zum Anfang. Auf den ersten Seiten befand sich ein Text in einer verschnörkelten, geschwungenen Handschrift.
„Keinesfalls. Der Autor ist nur noch lange nicht fertig damit, dieses Buch zu schreiben.“
Neugierig beugte er sich über den Text, um ihn zu entziffern.
„‚Viele erliegen dem Irrglauben, dass ich, Dokarestmus, der erste Weltenreisende war. Doch das stimmt nicht. Niemals hätte ich diese‘ ...“ Menakurr brach ab. „Hier ist sehr viel durchgestrichen. Er konnte sich offenbar nicht für ein Wort entscheiden, was er schreiben sollte. Ich erkenne … ‚diese faszinierende Wahrheit entdeckt‘ und ‚diesen schrecklichen Fehler begangen‘. Na, das ist ermutigend. Weiter schreibt er: ‚Senethika, die wir nur Inika nannten, die Hirschkuh, entdeckte die Portale als erste. Sie war zu vorsichtig, um sie zu durchschreiten, und bat mich um Hilfe. Technisch gesehen war ich also der erste Hedianer, der jemals durch ein Weltentor ging – doch Inika gebührt der Ruhm, diese Tore entdeckt und zeit ihres Lebens intensivst erforscht zu haben.‘“
„Hedianer?“, fragte Artreis dazwischen. „Hat Junea uns nicht von einer Welt namens Celes Hedian erzählt?“
„Es kommt noch besser!“, rief Menakurr, der den nächsten Absatz überflogen hatte. „Hört her: ‚Nachdem Inika und ich erste Fortschritte machten, nahmen wir einen Schüler auf. Garabath. Das waren die ersten drei Weltenreisenden und nun sieht es so aus, als ob es auch die letzten sein würden. Wir ahnten ja nicht, wie weit seine Gier reichen würde. Erst viel zu spät erkannten wir seine Verwandlung in den Schrecken, denn wir heute als den Spiegelmeister kennen.‘ Der Spiegelmeister war Dokarestmus‘ Schüler!“
Alle drei wandten sich dem Bild zu. Es war klar: Ihr Feind musste darauf zu sehen sein! Die blasse Frau, die im Vordergrund saß, zerbrechlich und geschwächt aussehend, musste Senethika sein. Menakurr vermutete, dass Dokarestmus der Weise an ihrer Seite war, mit langem Bart und Raubvogelnase. Dann musste die soldatische, düstere Gestalt im Hintergrund Garabath sein – der Spiegelmeister! Er trug als einziger eine Waffe.
Verdattert las Menakurr weiter vor: „‚Der Spiegelmeister wünschte sich nichts weniger als Macht. Und die könnte er erlangen, indem er den furchtbaren Enderdrachen tötet, dessen Welt man nur aus Celes Hedian erreichen kann. Wir hätten den Drachen fortbringen müssen, um Garabath aufzuhalten, doch dazu besaßen wir nicht genug Macht. Inika und mir blieb keine andere Wahl, als unsere Heimat zu versiegeln und uns drei - sowie alle armen Seelen, die in unserem Schatten noch die Welten gewechselt hatten - in ein grausames, ewiges Exil zu schicken. Es kam zum Kampf. Unsere Artefakte, die als einziges die Versiegelung aufheben können, gingen verloren. Seitdem trachtete jeder von uns danach, sie wieder zu erlangen. Ich selbst, wie bekannt ist, zog mich auf die Insel Soregrat zurück, die eine Arche für alles Leben ist, und gehe von dort aus wieder und wieder auf die Suche.‘“
Menakurr musste abbrechen. Er sah seine Freunde verwirrt an.
„Es gibt drei Artefakte“, fasste Artreis zusammen. „Junea und Takjin haben das doch erwähnt. Eines dieser Artefakte muss der Enderstab sein, der sich hier auf der Insel befindet. Takjin hat ihn. Doch es gibt noch einen Wyvernstab und ein Buch, die wir finden müssen, bevor der Spiegelmeister sie hat.“
„Ja, aber was will er mit diesen Artefakten?“, fragte Aleé. „Klar, zurück nach Hedian und diesen Drachen töten. Und was bringt ihm das?“
„Die Herrschaft über alle Welten, so wie ich es verstehe“, antwortete Artreis. „Der Enderdrache soll das mächtigste Wesen der Welt – aller Welten – sein. Wenn ihr diese Macht bezwingt …“
Menakurr richtete den Blick wieder auf das Papier. „Es geht weiter: ‚Der Spiegelmeister wählte einen anderen Weg. Er suchte sich Diener, die er mit Kräften jenseits deren Vorstellungskraft lockte und an seine dunklen Pläne band. Sieben der dunkelsten Gesellen aus allen Welten konnte er so um sich scharen: Der erste von ihnen wird heute General Pralikov genannt. Seine rechte Hand ist Nemis. Die Namen der weiteren lauten Kith, Minoto, Naru, sowie die Zwillinge Yeska und Yeery. Sie sind erfüllt von dunklem Willen, der sie unsterblich macht und ihre Sinne schärft, ihnen aber auch jegliche Menschlichkeit nimmt. Sie sind Werkzeuge. Werkzeuge des Todes und nichts weiter.‘ Bei Notch, und gegen die sollen wir kämpfen?“ Menakurr schlug das Buch zu. „Unsterbliche Monster? Das …“
„Beruhige dich“, sagte Artreis sanft. „Wir haben doch keine Wahl. Wollen wir etwa tatenlos zusehen, wie der Spiegelmeister die Welten übernimmt? Das können wir nicht zulassen. Aber das heißt nicht, dass wir uns blindlings in tödliche Gefahr begeben. Wir werden diese Ritter erforschen und sehen, ob sie Schwachstellen haben. Bestimmt, wenn ihnen alle Emotionen fehlen – also selbst die Angst. Und vielleicht genügt es auch, die Artefakte zu verstecken, sodass der Spiegelmeister sie niemals finden kann.“
Menakurr spürte, wie Artreis‘ optimistischen Worte ihn tatsächlich beruhigten. Noch war nichts verloren.
Er wollte das Buch gerade wieder öffnen, als ein lautes Geräusch erklang, eine Art schrilles Trompeten.
Die drei sahen einander alarmiert an. Unbemerkt von ihnen war die Sonne aufgegangen und die ersten Strahlen erhellten die Kammer.
„Was ist das?“, fragte Aleé.
„Sehen wir nach!“ Artreis zückte sein Katana. Menakurr steckte das Buch ein und folgte dem jungen Menschen und Aleé zückte ihre Lincoln-Axt und hielt sich beschützend an seiner Seite.