Ein Hornsignal hallte durch das Tal, das Takjin unangenehm an die Soldaten erinnerte, die damals Birkengrund aufgesucht und ihn zur Flucht gezwungen hatten. Die Erinnerung riss ihn mit einem Ruck aus dem Schlaf. Für einen Moment war ihm, als hörte er wieder den Klang der schweren Stiefel, die rauen Rufe und hätte wieder die Warnungen im Ohr: Der Krieg frisst die Jugend auf wie ein hungriges Geschwür. Lauf, Takjin, wenn du nicht sterben willst.
Im Aufwachen erkannte er Unterschiede zu einem Hornsignal. Das Geräusch, das nun erklang, war höher und weniger melodisch. Trotzdem krabbelte er aus dem Zelt und griff automatisch nach dem Enderstab, der im Eingangsbereich lag. Der dunkle Stab gab einen violetten, irgendwie unheimlichen Schimmer ab.
Auf dem Strand traf er auf die anderen. Merin hielt einen gespannten Bogen in den Händen und sah sich wild um. Artreis, Menakurr und Aleé drängten sich instinktiv zusammen. Menakurr schien keinerlei Waffen zu haben, aber Aleé hatte eine Axt und Artreis ein graues, längliches Schwert in den Händen. Die Delfine hatten diese Waffen vor kurzem an Land getragen. Junea hatte sie kritisch beäugt und ihren Besitzern ausgehändigt.
Während Peki sich nervös an Merins Seite hielt, überquerte Junea auf der kleinen Brücke den Fluss, der die Hütte und Zelte vom Leuchtturm abtrennte. Sie hob beschwichtigend die Hände. „Alles gut, das sind nur Mosa und Olar. Ich wusste nicht, dass sie so schnell kommen, sonst hätte ich euch vorgewarnt.“
Mosa und Olar – die anderen Pfleger von Soregrat! Takjins Herz schlug höher vor Freude. Endlich würde er sie kennenlernen!
„Dort!“ Aleé deutete auf die Berge, die sich hinter dem Raubtiergehege befanden. So weit im Süden war Takjin nie gewesen und er hatte auch nie irgendwelche Wege in dem Gelände erkennen können, doch nun arbeitete sich ein wirklich fremdartiges, großes Wesen über das unebene Gelände.
Es war … riesig. Das ließ sich schon aus der Ferne sagen. Braunschwarzes, zottiges Fell bedeckte den Körper, der aus einem unförmigen Leib und vier dicken Beinen bestand, die an Baumstämme erinnerten. Von dem Kopf gingen seitlich zwei riesige Hautlappen ab und vorne hing ein weiches, bewegliches Etwas … eine äußerst lange Nase? Zu den Seiten dieses Dinges ragten zwei riesige, weiße Bögen hervor. Ihre Farbe erinnerte an Knochen oder Zähne, doch das konnte nicht sein. Kein Tier hatte solch riesige Hauer!
Langsam suchte sich das gewaltige Tier seinen Weg nach unten und trottete schließlich auf ebenem Sand gemächlich auf sie zu. Takjin erkannte eine kräftige, mit Fell und Leder bekleidete Gestalt auf seinem Rücken. Im Näherkommen stellte es sich als ein Mann mit langen, zu dicken Strähnen zusammengeklebten, braunen Haaren heraus. Sie gingen ihm bis zur Hüfte und fielen auf den großen Sattel aus Holz, eher schon eine Plattform mit zwei hintereinanderliegenden Sitzen auf dem Rücken des großen, behaarten Wesens.
„Das ist Olar. Und Kamban. Ein Mammut“, sagte Junea.
Takjin merkte, dass er das Wesen mit offenem Mund angestarrt hatte. Wie auch alle anderen. Kamban hielt einen guten Steinwurf entfernt an und Olar sprang mit einem mutigen Satz von dem hohen Rücken. Er klopfte dem Tier gegen die Seite und das Mammut trottete zum See, um sein Nasending darein zu tauchen und den beweglichen Nüstern dann zum Maul darunter zu führen. Takjin sah fasziniert zu, wie das Tier trank.
Olar trat zu ihnen und reichte allen eine braungebrannte, kräftige Hand. Er war untersetzt, sehnig und muskulös, seine Kleidung bestand aus braunem Fell – vielleicht von Mammuts – und verschiedenartigem Leder. Breite Streifen des Leders schlangen sich um seinen Oberkörper und waren um seine Unterarme gewickelt, ein dünnes Band hielt seine Haare zu einem Kopf gebunden nach hinten. Weitere Stoff- und Lederstreifen bedeckten seine Füße, doch die kurze Fellhose war das einzige wirkliche Kleidungsstück, das er trug. Seine Arme und Brust waren mit schwarzen Linien und Zeichen bedeckt.
Sein Lächeln dagegen war freundlich und er hatte warme, goldbraune Augen. Einige Zähne fehlten ihm, die Nase trug die Spuren vergangener Kämpfe und sein Kinn drückte Willensstärke und Durchsetzungsvermögen aus. Trotzdem machte er auf Takjin den Eindruck eines freundlichen Onkels.
Junea stellte sie alle mit Namen vor. Als Takjin an der Reihe war, wurde Olars Lächeln noch breiter. „Ah, der junge Helfer!“ Er zog Takjin an seine Brust und drückte ihn herzlich. „Ich freue mich, dich endlich persönlich zu treffen, Kleiner! Hab schon viel Gutes gehört!“
Er wuschelte dem nach Luft japsenden Takjin durch die Haare und sah sich dann um. „Mosa ist noch nicht da?“
Junea verneinte mit einem Kopfschütteln. „Dich habe ich auch erst später erwartet.“
„Dein Vogel traf mich auf halbem Weg hierher.“ Olar grinste. „Mosa und ich hatten bereits beschlossen, dich besuchen zu müssen.“
Junea runzelte auf diese Offenbarung hin die Stirn. „Wieso das?“
Olar zuckte unverbindlich die Schultern. „Schwemmt ‘ne Menge seltsames Zeugs aus dem Meer an. Wir müssen darüber reden.“
Junea nickte. „Gestern kamen die Waffen der drei Verletzten an.“ Sie deutete auf Menakurr, Aleé und Artreis. „Sie hatten sie nicht bei sich, als sie das Portal durchquerten.“
Takjin ahnte mit einem plötzlichen Schauer, woher der Wind wehte. Die Gegenstände waren sicherlich nicht von alleine durch das Portal gesprungen. Und den Berichten der drei nach zu urteilen, hatte sie ihnen auch niemand hinterher geworfen. Wahrscheinlicher war es, dass weitere Personen das Portal durchschritten hatten. Personen, die die Gegenstände gebraucht hatten, um Witterung aufzunehmen …
Bei dem Gedanken überlief Takjin ein Schauer. Hoffentlich irrte er sich!
Doch es wunderte ihn nicht länger, dass Junea besorgt war. Nun richtete sie den Blick in den Himmel. War Mosa aus dieser Richtung zu erwarten? Takjin suchte zwischen den Wolken nach einem fliegenden Wesen – dort! Ein dunkler Punkt huschte flink zwischen den Wolken her und begann dann, in weiten Kreisen immer tiefer zu sinken.
„Da ist sie ja!“ Junea lächelte.
In diesem Moment löste sich ein kleinerer Punkt von dem Wesen und stürzte in die Tiefe.
Takjin schnappte nach Luft. „Sie fällt!“
Er sprang instinktiv nach vorne, obwohl er nicht tun konnte, um den Sturz von hier unten zu bremsen. Der kleine Punkt wurde rasch größer. Es war ein Mensch.
Junea legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Keine Sorge, Takjin. Ihr passiert nichts.“
Er starrte Junea an. War sie verrückt geworden?
Da entfalteten sich zwei Flügel vom Rücken der Gestalt und sie ging in einen Gleitflug über. Takjin schnappte erneut nach Luft. „Was ist sie für ein Wesen?“
Junea lachte. „Mosa ist ein Mensch wie du und ich. Aber sie stammt aus Celes Hedian – Olar übrigens auch – und hat noch etwas aus ihrer alten Heimat mitgebracht: Eine Elytra.“
Mosas Sturz wurde langsamer, bis sie knapp drei Meter über ihnen in der Luft zum Stillstand kam und direkt in ihre Mitte fiel: Gebeugt, mit einem Fuß, einem Knie und einer Hand auf dem Boden abgestützt. Die freie Hand nutze sie, um ihre langen, schwarzen Haare im Aufstehen nach hinten zu streichen.
Ihr Auftritt hatte noch mehr Aufsehen erregt als der von Olar. Menakurr bestürmte die schlanke junge Frau sofort mit Fragen zu dem Flugrucksack, den sie auf dem Rücken trug und dessen Flügel ihr das Überleben gesichert hatten. Mosa ließ die Fragen gelassen über sich ergehen, bis ihr Reittier nach einem langen Sinkflug gelandet war: Ein schwarzes Pferd mit großen Flügeln. Mähne, Schweif und Federn waren mit roten Akzenten durchsetzt. Es trottete zu Mosa und sie reichte ihm ein Zuckerstückchen, bevor sie sich an Junea wandte. „Wir müssen reden.“
Ohne die geringste Not unterbrach sie damit die auf sie einstürmenden Fragen.
Junea nickte ihr wortlos zu und deutete dann mit dem Daumen über die Schulter auf Dokarestmus‘ kleines Haus. Ohne weitere Worte liefen alle zielstrebig auf die Behausung zu. Takjin fühlte ein seltsames Kribbeln im Magen. Die Stimmung war ernst, bedrückt. Obwohl sich weder Mosa noch Olar Angst anmerken lassen, konnte er ihre Nervosität förmlich spüren. Soregrat schien sich einer noch nie dagewesenen Bedrohung stellen zu müssen.
Auch Merin, Peki, Artreis und die beiden Zwerge schienen zu ahnen, wie ernst die Lage war. Takjin fragte sich, ob seine Flucht vor dem Krieg darin geendet war, dass er in den nächsten Krieg gestolpert war – und diesmal in einen viel größeren mit viel weniger Hoffnung.