In der kleinen Hütte wurde irgendwie Platz für alle herbeigezaubert. Neun Personen drängten sich um den einfachen Holztisch. Artreis, Menakurr und Aleé quetschten sich zusammen auf die Bank, Peki und Takjin kletterten mit Hockern in die hinterste Ecke. Merin nahm den freien Stuhl neben den beiden Kindern. Die sportliche Mosa saß auf seiner anderen Seite, neben ihr lehnte Olar mit verschränkten Armen an der Wand. Junea pflanzte sich schließlich mit einem Stuhl ans Kopfende und stützte die Arme auf den Tisch.
Es war eng. Merin hatte das Gefühl, kaum atmen zu können. Wenn er jemals zurück nach Telion kommen sollte, würde er den Bau eines riesigen Ratszimmers für Chirogans Burg in Auftrag geben.
„Ich werde zuerst alle auf den neusten Stand bringen“, eröffnete Junea die Diskussion. „Zuerst das historische: Ihr alle solltet wissen, dass Soregrat in einer von acht Welten liegt. Es gibt vier natürliche Welten. Celes Hedian und drei unbenannte, etwas kleinere Welten, die Heimaten von mir, Takjin, Merin, Artreis und euch anderen. Dann gibt es Soregrat, die Pfadwelt, wo alle Portale zusammenlaufen. Wir sind die Bastion zwischen Celes Hedian und den anderen Welten. Der Spiegelmeister darf Celes Hedian nie erreichen, denn sonst könnte er dort die Enderinsel betreten, eine der drei restlichen Welten, wo er den Enderdrachen beherrschen und Chaos über die Welten bringen würde.“
Merin glaubte zwar immer noch nicht so recht an diese wirre Geschichte mit den vielen Welten, doch ging die bedrückte Stimmung nicht an ihm vorbei. Die meisten dieser Menschen waren so viel jünger als er, insbesondere Peki und Takjin, doch hatten sie einen Ernst im Gesicht, wie Merin ihn nur von Veteranen des Krieges gegen Ashram kannte. So jung, und schon Soldaten … das erinnerte ihn an Chirogan und sich selbst damals. Er wünschte den anderen, dass sie es wie Chiro schaffen könnten, ihren Optimismus zu behalten, und nicht zu neuen Merins heranwachsen würden.
„Und nun zur jüngsten Geschichte.“ Junea wandte sich Mosa und Olar zu. „Dass Takjin durch ein Portal hier landete, wisst ihr ja. Wellenstürmer sah ihn im Wasser zappeln, das hat sein Leben gerettet. Ich war anfangs misstrauisch, doch Takjin ist ein Freund Dokarestmus‘. Er sagt die Wahrheit.“ Sie warf dem Jungen einen warmen Blick zu, ehe sie fortfuhr: „Etwas später schlugen unsere Delfine Alarm. Insgesamt fanden wir sieben weitere Lebewesen im Meer, etwa an der gleichen Stelle: Das waren Artreis, Menakurr und Aleé, mit tiefen Wunden in den Kehlen, und Merin und Peki mit zwei Pferden.“
Junea hatte auf jeden der Genannten gedeutet. Mit kurzen Worten und zurückhaltend unterstützt von Menakurr erzählte sie von deren Gefangenschaft und der rituellen Hinrichtung.
„Der Zwergenkönig bekam Anweisungen von einer Stimme aus einem Spiegel“, berichtete Menakurr mit einem Schaudern. „Das muss der Spiegelmeister gewesen sein.“
Junea kaute auf ihrer Unterlippe. „Das heißt, er hat es schließlich geschafft. Der Zwergenkönig hat für ihn ein Portal gebaut, und es führt hierher – nach Soregrat!“
Mosa und Olar wechselten einen alarmierten Blick. Takjin pustete leise Luft aus den Wangen.
„Glaubt ihr, er ist schon hier?“, fragte Olar nach einer Pause.
„Vielleicht. Dann sucht er die Insel sicherlich. Vor kurzem kamen die Waffen der drei Verletzten an. Sie hatten sie bei der Hinrichtung nicht bei sich und doch ist die Ausrüstung nun hier.“
„Und es wurde noch mehr angespült“, meldete sich Olar. „Hauptsächlich Müll. Aber auch leere Glasflaschen und tote Fische.“
„Das Gift im Regen?“, fragte Takjin.
„Und die Überreste der Tränke, die jemand zu sich nimmt“, fügte Junea hinzu. „Nicht Dokarestmus, er würde die Flaschen nie einfach ins Meer werfen.“
Niedergeschlagen senkte sie den Blick.
„Was für ein Gift im Regen?“, fragte Aleé leise.
Takjin regte sich und rief damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. „Diese Welt wurde beim Kampf der Weltenwanderer vergiftet. Soregrat ist die einzige Insel, auf der man noch leben kann, aber das Gift verbreitet sich langsam ins Wasser und kommt immer näher. Regen verstärkt das Vorrücken noch. Ich … ich glaube, ich habe es falsch formuliert, bisher ist noch kein Gift im Regen. Doch eines Tages wird es kommen, dann müssen wir diese Insel verlassen.“
„Und sehen, wo wir die ganzen Tiere unterbringen können“, fügte Junea hinzu.
„Was sollen wir tun?“, fragte Mosa in die erneut aufkommende Stille hinein, während alle diese neue Gefahr kalkulierten.
„Ich wünschte, Dokarestmus wäre hier. Er wüsste, was zu tun ist!“ Junea seufzte.
„Er ist vielleicht der Grund, warum der Spiegelmeister kommt“, knurrte Olar und warf den vorwurfsvollen Blicken der beiden Frauen ein trotziges Schnauben entgegen. „Er wurde vermutlich gefangen. Der Spiegelmeister foltert ihn oder hat einen anderen Weg gefunden, an sein Wissen zu gelangen.“
Das Schweigen wurde mit jedem Mal bedrückter.
„Können wir die Portale nicht selbst nutzen?“, fragte Merin in die Runde. „Wir können doch bestimmt zurück in unsere Welt reisen.“
„Dazu müssten wir selbst die Portale verstehen“, antwortete Junea. „Und was bringt es uns?“
„Das könnte ein kluger Schachzug sein“, überlegte Takjin. „Wir evakuieren die Tiere in eine der anderen Welten, vorerst, und überlassen dem Spiegelmeister Soregrat. Er muss immer noch einen Weg nach Celes Hedian finden. Wie will er das machen in einer vom Gift überrannten Welt?“
Junea spitzte die Lippen und überlegte. „Ich weiß nicht.“
„Das wird vermutlich nicht klappen.“ Menakurr stand auf, drängte sich sanft an Junea vorbei und verließ den Raum. Sie hörten ihn im Nebenzimmer rumoren.
„Ach so“, sagte Takjin. „Junea, Menakurr wollte die Notizen von Dokarestmus durchforsten. Ich hatte es ihm erlaubt.“
Junea sah Takjin überrascht an.
„Ich hoffe, das war in Ordnung?“ Der Junge sank in sich zusammen.
„Natürlich war es das“, beschwichtigte Junea ihn. „Es überrascht mich nur, dass er das wollte.“
In diesem Moment kam Menakurr mit einem dicken Wälzer zurück, den er auf den Tisch legte. Als der Zwerg etwas ungeschickt wegen der fehlenden Finger hindurchblätterte, sah Merin, dass die meisten Seiten leer waren. Nur vorne waren einige handschriftlich beschrieben.
„Das ist die Geschichte der Weltenreisenden“, erklärte Menakurr, während er die Seite überflog. „Hier steht, dass Dokarestmus, der Spiegelmeister und eine Frau namens Inika alle aus Celes Hedian stammten. Sie sind die Reisenden.“
„Ja, sie können als einzige ohne Portale reisen“, warf Junea ein. „Aber wie bei Portalen müssen sie zunächst den Weg in eine Welt hineinfinden. Dokarestmus konnte Soregrat aber so vor dem Spiegelmeister verschließen, dass dieser nur noch mit einem Portal hineingelangen kann.“
Merin rieb sich die Stirn, die ihn langsam schmerzte. Das alles war ihm etwas zu kompliziert. Er hatte nur erfahren wollen, ob er irgendwie zurück nach Telion, zu Chirogans wachsender Stadt, gelangen konnte.
Menakurr hatte den richtigen Absatz gefunden. „Hier steht, dass die grauen Ritter des Spiegelmeisters unsterblich sind. Es waren Menschen – oder Wesen der drei niederen Welten, womit unsere Heimatwelten gemeint sind – die der Spiegelmeister mit seiner Macht und Bosheit verändert hat.“
Schweigen kehrte erneut ein.
„Dann kann Gift ihnen nichts anhaben“, erkannte Takjin enttäuscht. „Steht da etwas anderes, das uns hilft?“
„Hmm. Hier stehen ihre Namen. Ihr Anführer ist General Pralikov. Er hat eine rechte Hand namens Nemis, die anderen heißen Kith, Minoto, Naru, Yeska und Yeery.“
„Sehr hilfreich!“, bemerkte Mosa spöttisch. „Dann wissen wir, wen wir um unser Leben anflehen können! Bitte, Herr Nemis, verschont mich!“ Sie ließ ihre Stimme hoch und dünn klingen.
„Vielleicht können wir mehr über sie erfahren“, schlug Aleé vor, als ihr Freund so unter Druck geriet. „Wir haben ihre Namen – vielleicht kriegen wir raus, warum sie sich dem Spiegelmeister angeschlossen haben.“
„Ich glaube nicht daran“, sagte Junea. „Das ist schon lange Zeit her. Es gibt niemanden mehr, der sie kannte.“
„Aber vielleicht Aufzeichnungen!“, beharrte Aleé. „Es wäre einen Versuch wert!“
„Ja.“ Junea lenkte ein. „Wir müssen alles versuchen, was wir können. Deswegen wollte ich mit euch sprechen. Wir müssen reagieren. Wir müssen einen Weg finden, den Spiegelmeister aufzuhalten, am besten, indem wir die Artefakte der Weltenwanderer suchen. Den Enderstab haben wir bereits. Den Wyvernstab und das Buch der Wissenden finden wir in einer von Dokarestmus‘ magischen Kisten. Zwei wurden zerstört, doch es muss noch drei weitere geben. Eine befindet sich jeweils in den beiden niederen Welten, aus denen Takjin nicht stammt – hoffentlich kommen Merin und Peki oder Artreis, Menakurr und Aleé aus einer dieser Welten.“
„Gibt es keinen Namen für die Welten?“, fragte Merin gereizt. „Das ist alles sehr kompliziert.“
„Leider geht es nicht anders“, sagte Junea. „Die niederen Welten sind riesig. Es ist unmöglich, dass jemand alle Winkel dieser Orte kennt, sodass wir niemanden, den wir finden, eindeutig einer Welt zuordnen können … überhaupt waren verwirrende Situationen wie diese niemals geplant.“
„Kein Streit, bitte!“ Olar hob die Hände. „Wir vermuten, dass ihr Flüchtlinge aus drei verschiedenen Welten stammt. Das sollte uns zugute kommen.“
Takjin richtete sich auf. „Ihr habt einen Plan, richtig?“