Junea nickte auf Takjins Frage hin. „Es ist kein großer Plan, aber wir haben viele Ideen. Unser vorrangigstes Ziel sollte es sein, die restlichen Artefakte der Weltenwanderer zu bekommen. Wenn der Spiegelmeister sie alle hätte, wäre jede Hoffnung verloren. Zum Glück wurde die Endertruhe in Takjins Welt zerstört, doch der Inhalt der Kiste befindet sich auch noch in allen anderen Truhen. Wir müssen nur eine davon finden.“
Die Versammelten nickten ernst. Menakurr setzte sich wieder und Aleé griff nach seiner Hand. Sie hatte Angst davor, was ihnen möglicherweise bevorstand.
„Weiter müssen wir einen Ort finden, wo Soregrats Tiere überleben können“, sagte Junea. „Und wir müssen auch Dokarestmus finden und befreien.“
„Und wie stellen wir das an?“, fragte Merin in die Stille.
„Für alles müssen wir in die niederen Welten gelangen“, sagte Junea und sah Mosa an. „Hast du dein … Projekt … fertig?“
Alle sahen die dunkelhaarige Mosa an. Aleé hielt den Atem an.
Mosa nickte. „Ich konnte drei Rahmen nach Dokarestmus‘ Anweisungen bauen. Alles, was wir brauchen, ist der Enderstab. Dann haben wir drei Portale in die drei niederen Welten.“
Takjin riss die Augen auf. „Wir haben Portale?!“
Mosa grinste selbstsicher. Sie genoss den Auftritt mit Sicherheit. „Ihr werdet in eure Welten gehen. Sucht dort für uns nach den Truhen, Dokarestmus und einem Platz für unsere Tiere. Wir werden derweil Soregrat verteidigen.“
„Ich soll auch gehen?“, fragte Takjin.
Junea nickte. „Dokarestmus ist verschwunden, als er dich holen wollte. Vielleicht befindet er sich in deiner Heimatwelt.“
Takjin schüttelte den Kopf. „Ich will euch hier helfen!“
„Du bist der einzige, der deine Heimat kennt“, widersprach Junea sanft. „Und wir kommen hier auch ohne dich zurecht.“
Takjin seufzte, offenbar nicht völlig überzeugt. Aleé fragte sich, ob der arme Junge ganz alleine war. Sollte er sich auch allein auf die Suche begeben?
Plötzlich drückte Menakurr ihre Hand, zerquetschte sie förmlich. Aleé wandte sich zu ihm um. „Was ist mit dir?“
Er hielt ihr das Buch hin und brachte nur ein Wort heraus: „Lies!“
Ihr kurzer Wortwechsel war nicht unbemerkt geblieben. Alle sahen sie an. Noch ehe Aleé mehr als einige Worte entziffert hatte, sprach Menakurr auch schon weiter, mit einer Stimme, die sich vor Aufregung überschlug: „Hier wird beschrieben, was die Weltenwanderer nach der Versiegelung von Celes Hedian taten. Dokarestmus blieb hier auf Soregrat. Der Spiegelmeister schuf die sieben Ritter und sucht die Artefakte. Aber jetzt geht es um Senethika: ‚Inika aber, unsere zarte Schwester im Geiste, litt sehr unter dem Wissen, ihre Heimat nie wieder zu sehen. Während ich den Kampf aufnahm, zog sie sich immer mehr zurück. Eines Tages brach sie ohne jede Erklärung zu einer Reise durch die Welten auf und kehrte erst nach drei Jahren wieder. Da war sie nichts weiter als ein Schatten ihrer Selbst. Sie starb wenig später, doch sie ließ mich ein letztes Versprechen abgeben: Ich sollte mich um ihre Söhne kümmern.‘“
Menakurr brach ab. Junea, Olar und Mosa starrten einander an. „Senethika hatte Kinder?“, fragte Mosa.
„Davon hat Dokarestmus nie etwas gesagt!“, hauchte Junea erschüttert.
Menakurr las stockend weiter: „Hier steht: ‚Ich weiß nicht, wo ihre Söhne sind. Irgendwo in den niederen Welten. Sie konnte mir nicht viel sagen, doch wurde deutlich, dass sie alle drei von Herzen liebte und ihre Hoffnungen darin setzt, dass einer der drei ihr Talent geerbt hat und beenden kann, was sie begonnen hat.‘“
„Drei?“, unterbrach Junea. „Drei Söhne?!“
Olar schüttelte entgeistert den Kopf. „Dokarestmus hat uns vieles nicht erzählt.“
„Hier ...“ Menakurr musste sich räuspern. „Hier stehen ihre Namen.“ Dann sah er in die Runde und platzte heraus: „Ihre Namen! Merin, Takjin und Artreis!“
Alle starrten ihn entgeistert an. Dann sahen sie auf die drei genannten, die blass geworden waren.
„Wir?!“, stieg Takjin schließlich hervor. „Du musst dich täuschen. Das alles ist doch schon Jahre her!“
Mosa und Olar tauschten Blicke.
„Wir haben Inika noch gesehen“, sagte Mosa dann. „Ihre letzten Tage hier, bevor sie loszog, um alleine zu sterben. Und die Portale haben manchmal seltsame Auswirkungen auf den Lauf der Zeit, wenn man das so sagen kann. Es könnte passen.“
„Wir sind unterschiedlich alt“, warf Merin ein. „Es ist unmöglich!“
„Wie gesagt, durch die Portale wäre es möglich“, sagte Mosa. „Sie führen nicht nur von einer Welt in die andere, sondern auch durch die Zeit. Die Welten sind niemals genau … gleichzeitig.“
Takjin, Merin und Artreis sahen einander an. Aleé konnte nicht einmal erraten, was in den Köpfen der drei vorgehen musste. Keiner hatte widersprochen, dass er andere Eltern hatte – waren alle drei Waisen? Jetzt schien es ihr, als ob sie tausende Ähnlichkeiten in den Gesichtern der drei sehen könnte. Das waren Nachkommen der ersten Weltenwanderin? Es schien ihr zu verrückt, um wahr zu sein. Diese wirren Geschichten, die sie seit ihrer Ankunft hier gehört hatte, hatten einen Bezug zu Artreis?
Sie sah Menakurr hilflos an. Nun verstand sie seine Aufregung. Wie sollten sie mit diesem Wissen umgehen?
Wie, um ihnen jede Chance zu nehmen, sich irgendwie damit zu arrangieren, erklang draußen ein schrilles Tröten.
„Kamban!“ Olar sprang auf.
Das panische Wiehern von Pferden erklang und Merin schoss in die Höhe. „Wildfang!“
Die ganze Gesellschaft drängte sich an dem Tisch vorbei und rannte nach draußen. Aleé fasste Menakurrs Hand und zückte mit der anderen ihre Axt. Sie hörte Junea fluchen und dann einen alarmierenden Schrei: „Die grauen Ritter!“
Ihr Feind war schneller eingetroffen als erwartet.