Takjin spürte, wie ihm das Blut in den Adern zu gefrieren schien. Sieben hochgewachsene Gestalten standen auf dem sonnigen Strand von Soregrat. Sie waren so dunkel, dass sie wie Löcher in der sichtbaren Welt aussahen. Bis auf einen schmalen Sehschlitz in ihren Helmen waren sie ausnahmslos von der dunklen Rüstung bedeckt. Trotzdem konnte Takjin sie unterscheiden: General Pralikov, ihr Anführer, war der größte der Ritter. Sein Helm war zudem mit Hörnern und Dornen verziert. Der Ritter zu Pralikovs rechter Seite musste Nemis sein, dem zwei kurze Stierhörner auf dem Helm geschmiedet worden waren. Wie Pralikov trug Nemis ein mächtiges Schwert an der Seite. Die Waffen glichen einander bis zum letzten Detail, nur war Nemis‘ Schwert kleiner und schmaler: Ein Anderthalbhänder, erriet Takjin, während Pralikov einen Beidhänder führte.
Auch Kith und Naru erkannte er wieder. Kith an dessen Bogen, eine Waffe, die keiner der anderen Ritter gewählt hatte, und Naru an einem schwarzen, grob geschmiedeten Morgenstern, der aussah, als hätte man ihn aus Metallschrott zusammengesetzt.
Zwei der Ritter trugen jeweils ein gezacktes Kurzschwert und einen Dolch mit vier kleinen, krallenartigen Parierstangen, die sich wie Blütenblätter um die dünne Klinge gruppierten. Der eine hielt das Schwert in der rechten, den Dolch in der linken Hand, bei dem anderen verhielt es sich spiegelbildlich. Beide traten auch wie ein Spiegelbild nach vorne, um den Angriff zu beginnen. Der siebte Ritter hielt zwei Bumerangs aus glänzendem Metall in der Hand und stützte sich auf einen schwarzen Gehstock.
Die Ritter waren gekommen, um zu töten. Ihnen gegenüber standen neun vollkommen überrumpelte Menschen und Zwerge, die kaum Zeit gehabt hatten, ihre Waffen zu ziehen.
Takjin packte den Enderstab fester, während ihm unzählige Gedanken durch den Kopf rasten. Pralikovs Blick hatte sich sofort auf das magische Artefakt gerichtet. Takjin machte sich Vorwürfe, dass er den Stab mit sich genommen hatte, statt ihn irgendwo auf Soregrat zu verstecken. Er fragte sich auch, ob er die Macht des Stabes nutzen sollte, um zu fliehen. Der Enderstab konnte ihn an jeden beliebigen Ort in Sichtweite teleportieren. Doch die grauen Ritter hatten es schon einmal geschafft, ihn trotz des Stabes zu verfolgen, und Soregrat war zu klein, um hier lange zu fliehen.
Pralikov hob sein schweres Schwert mit einer Hand und deutete mit dessen Spitze auf Takjin. „Holt euch den Stab!“
Instinktiv, obwohl er wusste, dass es blödsinnig war, verbarg Takjin die lange Waffe hinter seinem Rücken.
Junea stellte sich mit erhobenen Fäusten vor ihn. An Takjins Seite spannte Merin einen Kurzbogen und zielte auf Kith. Die Gruppe drängte sich eng zusammen, bis Takjin der Blick auf die Ritter durch die vielen größeren Menschen versperrt wurde. Er spürte eine Hand an seinem Arm, jemand zog sanft an seinem Ärmel.
Er wandte den Blick zur Seite und erkannte Peki. Sie legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihm mit einem Wink, ihr zu folgen.
Das Klirren von Stahl auf Stahl ließ Takjin zusammenfahren. Pralikov hatte angegriffen, doch offenbar hatte Aleé den ersten Schlag abgewehrt. Merins Bogensehne sang und der Pfeil traf offenbar Kith, der wütend aufbrüllte.
Takjin folgte Peki fort von dem Kampf, durch die anderen Freunde vor den Blicken der Ritter geschützt. Sie rannten um das Haus und blieben auf dessen Rückseite keuchend stehen.
„Was tun wir?“, wollte Takjin wissen.
„Mosa sagte, wir sollen den Stab fortschaffen.“ Peki sah ihn mit angstvoll geweiteten Augen an. Offenbar hatte sie nur diese knappe Anweisung erhalten, ehe der Kampf ausgebrochen war.
Ein Trompeten ertönte. Kamban mischte sich in den Kampf ein.
Takjin starrte auf den Stab. Er sollte fliehen und alle anderen im Stich lassen? Der Gedanke widerstrebte ihm, doch nicht so sehr, wie er es sich gewünscht hatte. Seine Angst vor den Rittern saß tief. Er wusste, dass er nichts gegen sie ausrichten konnte.
Sollte er den Stab nutzen? Nein, entschied er. Er war sich schon während seiner Flucht sicher gewesen, dass die Ritter die Spur des Stabes aufnehmen konnten. Hatte nicht Junea davon erzählt, dass jede Magie eine Art Leuchtspur hinterließ, die manche Wesen sehen konnten? Überhaupt, wohin sollte er fliehen? Auf Soregrat gab es kein Versteck, wo er sich lange genug verbergen konnte.
„Die Tore!“, rief er plötzlich. „Peki, die Weltenportale! Wir bringen den Stab in eine andere Welt!“
Sie sah ihn an und grinste plötzlich breit: „Genau das tun wir! Weißt du, wo die Portale sind?“
„Nein“, gestand Takjin, während er fieberhaft überlegte. „Mosa hat sie gebaut, also sind sie hoffentlich im Norden. Nur, wie kommen wir dorthin?“
Peki grinste noch breiter. „Die Pferde!“
„Ich bin noch nie geritten!“, wehrte Takjin ab, doch Peki zog ihn bereits mit sich zu der Koppel.
„Jen kann uns beide tragen.“
Das schwarze Pferd mit den weißen Flecken war nicht gesattelt. Peki warf ihr eine Trense über den Kopf, mit schnellen, geübten Bewegungen. Takjin starrte hinüber zu dem Kampf. Seine Freunde hielten sich gut: Sie kämpften Seite an Seite und gaben den anderen Deckung. Merin stand im Hintergrund und schoss Pfeil um Pfeil ab. Menakurr hatte sich hinter einem Busch versteckt und bastelte fieberhaft an einem länglichen, rotweißen Gegenstand. Die anderen wehrten sich mit Äxten (im Falle von Aleé und Olar), Schwertern (Artreis und Mosa) und einer Peitsche mit Krallen an den Enden (Junea). Trotzdem … jeder Treffer konnte die Ritter zwar ausbremsen, doch nicht wirklich verletzen. Es war ein hoffnungsloser Kampf.
„Los!“
Peki saß bereits auf dem bloßen Pferderücken und reichte Takjin eine Hand, um ihn hinaufzuziehen. Er krabbelte mit einiger Mühe auf den Platz hinter ihr und schlang die Arme um das Mädchen. Mit einem wilden Schrei trieb Peki ihr Pferd vorwärts. Jen stieß das Gatter auf und galoppierte nach vorne.
Takjins Herz raste. Der Boden lag weit unter ihm und flog rasend schnell an ihm vorbei. Auf dem glatten Pferderücken hatte er keinen Halt und wurde von einer Seite auf die andere geworfen. Es war ein Alptraum.
„Wohin müssen wir?“, rief Peki ihm zu.
„Auf die Brücke.“ Takjin konnte nur raten, dass die wackeligen Stege und Wege aus Holz, die sich durch die schmale Schlucht wanden, sie irgendwann nach Norden bringen würden. Schon donnerten Jens Hufe auf dem Holz und das Pferd erklomm die Treppen. Takjin hörte einen hohen Schrei hinter sich.
„Der Junge! Er flieht mit dem Stab!“
„Verflixt!“, rief Peki.
Ihre Flucht war bemerkt worden.
Sie trieb das Pony an, das mit den Hufen über die Holzplanken rutschte. Takjin klammerte sich an dem Mädchen fest und kniff die Augen zusammen. Er hörte die Schreie hinter sich, das Trommeln der Hufe und das Schnauben des Pferdes. Und … Juneas Schrei: „Der Felsüberhang!“
Takjin riss die Augen wieder auf. Er wusste, von welchem Ort Junea sprach. Es gab einen weit vorspringenden Felsen am Fuß der hohen Klippe, auf der sich die Wyvernställe befanden. In dem dunklen Schatten des Vorsprungs war eine Art offener Höhle entstanden, obwohl Takjin sich unsicher war, ob die Bezeichnung zutreffend war. Es gab nur eine Felswand, die restlichen drei Seiten waren offen, doch der Platz war vor Wind und Wetter geschützt.
Junea wollte, dass er dorthin ritt, da war er sich sicher. Nur waren sie jetzt in der falschen Richtung unterwegs. Er wagte es, sich nach hinten zu drehen und einen Blick auf die Verfolger zu werfen. Die sieben Ritter folgten dem Pferd zu Fuß. Sie hatten keine Reittiere bei sich, waren aber trotzdem übernatürlich schnell. Takjin sah auf den Stab in seiner Hand, dann zu dem hohen, zerklüfteten Felsen in der Mitte von Soregrat.
In seinem Kopf reifte ein Plan. Er konzentrierte sich auf den Weg. Sobald Peki hinter einen Felsen bog und sie damit außer Sicht der Ritter waren …
Takjin visierte ein Ziel an. Er packte Peki fest und betete, dass sein Plan klappen würde, dann schwang er den Stab.
Ein schrilles Wiehern. Das Gefühl der Teleportation war Takjin zwar inzwischen bekannt, doch immer noch unangenehm. Für einen Moment verlor es jedes Gefühl, er konzentrierte sich nur darauf, Peki festzuhalten, die er nicht länger fühlen konnte.
Dann konnte er wieder sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. Es war noch immer wie ein Schlag ins Gesicht.
Die Welt bewegte sich. Erst nach einer Weile erkannte Takjin, dass er noch immer auf Jens Rücken saß – hinter Peki – und das Pferd seine Schritte erschrocken verlangsamte und sich dann panisch im Kreis drehte.
„Was war das?“, schrie Peki.
„Alles gut“, beruhigte Takjin sie. „Tut mir leid, ich hätte dich vorwarnen sollen.“
Peki brachte das Pferd mit wenigen Worten und Berührungen zur Ruhe. Sie sah sich um und Takjin tat es ihr gleich.
Sie waren unter dem Felsvorsprung, ganz, wie er es geplant hatte. Er lächelte stolz.
„Wie sind wir hierher gekommen?“
„Der Enderstab.“ Takjin sprang von Jens Rücken und lief zur hinteren Wand der offenen Höhle.
Da befanden sich drei Ovale aus dunklem Stein, jeweils eingefasst von gefärbter Wolle. Grün, Blau und Rot. Takjin trat vor die Ovale.
„Weltenportale!“ Er staunte nicht schlecht. Mosa hatte es offenbar geschafft, eigene Portale zu bauen. Der Stein, aus dem die Tore waren, war kalt und schier unnachgiebig kalt.
Peki berührte einen der Rahmen. „Das … das ist Obsidian, nicht wahr? Den gibt es doch nur in den Tiefen!“
„Ich frage mich, wie Mosa ihn abbauen konnte.“ Takjin trat einen Schritt zurück und sah auf den Weg, der hierher führte. Sie konnten das ganze, schmale Tal einsehen, und den Weg nah an den steilen Klippen, der bis zum fernen Strand führte. Junea führte die anderen gerade über den Pfad und eilte auf sie zu. Die Ritter waren nicht zu sehen. Takjin überlegte, ob er den Stab nutzen sollte, um den restlichen Sieben entgegen zu kommen, entschied sich aber dagegen. Jede Magie konnte die Ritter auf seine Spur führen.
„War ja klar. Merin hat Wildfang mitgenommen!“ Peki war neben ihn getreten und beobachtete die Gruppe ebenfalls.
Olar ritt auf Kamban und hatte, wie es schien, die beiden Zwerge hinter sich auf dem Sattel. Mosas schwarzer Pegasus kreiste über der Gruppe, auch er mit einem zusätzlichen Reiter versehen. Es musste Artreis sein. Merin ritt auf dem kleinen, hellbraunen Pony, allein Junea lief zu Fuß. Vermutlich hatte sie Wellenläufer aber gerufen.
„Sie werden noch eine Weile brauchen“, erkannte Takjin.
Peki hörte nicht zu. Sie betrachtete nachdenklich die Portale. „Ich glaube, die Farben sagen uns, in welche Welt die Portale führen.“
„Meinst du?“, fragte Takjin.
Peki nickte. „Sieh mal: Du trägst Grün, Artreis einen roten Mantel. Und Merin trägt Blau – die Farbe unseres Königs Chirogan. Jedes Portal passt zu einem von euch drei.“
Fast hätte Takjin gefragt, wie Peki sich da so sicher sein konnte. Doch dann erinnerte er sich daran, was sie kurz vor dem Angriff erfahren hatten. Artreis und Merin waren vermutlich seine Brüder – er hatte nie zuvor Brüder gehabt! Es schien, als wäre sein Schicksal enger mit Soregrat verflochten, als er angenommen hatte. War er wirklich auf eine Spur seiner Mutter gestoßen? Ihm schwirrte der Kopf.
Plötzlich packte Peki seine Hand mit eisernem Griff. Er sah sie an und sie legte einen Finger auf die Lippen, um ihn und Jen dann in den Schatten neben einem Felsen zu ziehen.
„Was?“, flüsterte er.
Peki deutete zu dem Pfad, der herführte.
Die grauen Ritter traten auf den düsteren Platz vor den Portalen, nur eine Armlänge von ihrem Versteck entfernt. Wo sie hergekommen waren, wie sie so schnell auf seine Spur und dann auf den Pfad gefunden hatten, war Takjin ein Rätsel. Er starrte die gepanzerten Gestalten erschreckt an. Peki an seiner Seite zitterte.
„Portale!“, rief Kith mit kalter Stimme aus. „Sie haben es geschafft.“
„Fast“, unterbrach Pralikov. „Ihnen fehlt etwas, um die Türen zu öffnen. Blut oder … die Macht des Enderstabs. Wir müssen verhindern, dass dieser Bengel hierhinkommt. Kith, Nemis – ihr übernehmt das rote Portal.“
Pralikov begann, seinem Gefolge Anweisungen zu geben. Takjin riss die Augen auf, als er erkannte: Der General ließ die drei Tore bewachen. Die Ritter platzierten sich davor, sodass niemand die Portale durchschreiten konnte.
Ihm blieben nur Sekunden, um zu handeln, bevor man sie entdecken würde. Denn die Nische bot ihnen kaum Schatten. Takjin sprang verzweifelt nach vorne und stieß einen Schrei aus, während er den Stab schwang.
Instinktiv – denn niemand hatte ihm gesagt, wie er die Tore öffnen konnte, entfachte er die Macht des Enderstabs. In den Rahmen flammten violette Flammen auf. Eine Druckwelle riss zuerst Kith und Nemis durch das mittlere, rote Portal. Die beiden Ritter mit Dolch und Schwert, die wie Spiegelbilder wirkten, wurden durch das blaue Portal gerissen. Pralikov, Naru und den letzten Ritter zog es in den grünen Rahmen, doch Pralikov streckte eine Hand aus und bekam den Enderstab zu packen. Takjin wurde von den Füßen gerissen und in das Portal gezerrt.
Er spürte, wie der Stab seinem Griff entrissen wurde. Als letztes hörte er noch einen schrillen Schrei von Peki: „Takjin!“
Dann umfingen ihn purpurnes Feuer und Dunkelheit.