„Was ist das?“, fragte Merin, als Takjin ihm und den vier anderen jeweils einen Glaskolben mit einer rosa Flüssigkeit vor die Nasen stellte.
„Ein Heiltrank“, antwortete der Junge und grinste aufgeregt. „Junea hat mir heute gezeigt, wie man sie herstellt!“
„Na, dann Prost!“, sagte der blonde Zwerg mit krächzender Stimme und stieß mit der Zwergin an, die Merin inzwischen für dessen Freundin hielt.
Aleé und Menakurr tranken die Flaschen unbesorgt in einem Zug aus. Der junge Artreis trank langsam, offenbar in Gedanken versunken. Auch Peki setzte das Getränk an.
„Und woher wissen wir, dass das kein Gift ist?“, fragte Merin scharf, mit der Absicht, Peki rechtzeitig am Trinken zu hindern. Tatsächlich setzte sie den Trank sofort wieder ab.
„Klar, Gifttränke gibt es auch, aber wir haben Melonen reingetan, die entfalten die Heilwirkung des Tranks“, plapperte Takjin. Der in Echsenhaut gekleidete Junge hatte die Schwere von Merins Vorwurf nicht begriffen und erzählte ihm irgendetwas über Magie und Zutaten, die bestimmte Wirkungen hervorriefen.
Merin warf einen Blick zu Peki. Die zuckte die Schultern und trank ihre Flasche mit provokativem Blick leer.
Merin seufzte. „Schon gut“, unterbrach er Takjins Redefluss und trank seinen eigenen Heiltrank. Er horchte in sich hinein. Fühlte er eine Wirkung? Ja, da war ein warmes Kribbeln in seinem Magen – ein Gift, dass die Schleimhäute auflöste?
Er sah zu den drei Kleineren, die zuerst getrunken hatten. Ihnen würde er die Wirkung zuerst ansehen können, vielleicht bliebe ihm dann noch genug Zeit, um sich selbst zu retten.
Staunend beobachtete er, wie die roten Linien, die über den Kehlen der drei verliefen, verblassten. Artreis, Menakurr und Aleé trugen schon keine Verbände mehr, nun konnte Merin zusehen, wie ihre Verletzungen spurlos verschwanden.
Was für eine Zauberei! Er selbst fühlte sich jünger, voller Energie. Offenbar hatte Takjin nicht gelogen. So ein Trank wäre äußerst hilfreich, um Chirogan zu retten. Oh, Chirogan … hoffentlich lebte er noch!
Widerwillig musste Merin sich eingestehen, dass er zu misstrauisch gewesen war. Er fühlte, wie die heitere Stimmung ihn ansteckte. Diese Junea brachte ihnen Fleisch, Brot und gebackene Kartoffeln und dazu frische Milch und ein mit Kräutern versetztes Metgetränk. Außerdem hatte sie Aleé und Artreis kurz zuvor deren Waffen wiedergegeben, die offenbar am Strand angespült worden waren – ebenso wie eine recht durchnässte Ledertasche, deren Inhalt Menakurr zum Trocknen aufgehängt hatte: Schwarzpulver und Notizen, hauptsächlich.
So verhielt sich niemand, der sie alle tot sehen wollte.
Menakurr und Aleé zeigten der Gesellschaft Dreifad, ein Zwergenspiel, bei dem man sich einen langen Faden um die Finger schlang und gemeinsam mit anderen versuchte, komplexe Muster zu bilden. Alle wurden mit eingebunden, selbst Merin, und eine Weile versuchten sie, ein großes Muster zu erschaffen. Es scheiterte – die Zwerge waren miserabel im Erklären.
Doch während der Abend sich über das Land senkte, wurden die Gespräche ebenso düsterer wie der Himmel über ihnen. Junea sprach die Bedrohung durch den Spiegelmeister an und betonte erneut, dass dieser gesichtslose Widersacher niemals nach Soregrat gelangen durfte, denn sonst würde er nach Celes Hedian kommen, den Enderdrachen in seine Gewalt bringen und die Herrschaft über alle Welten fordern.
„Ich muss ihn finden“, sagte Merin. „Er hat meinen Freund in seiner Gewalt. Chirogan.“
Zuerst zögerlich, dann beherzter berichtete er von Chirogans Verschwinden und der ganzen verrückten Geschichte, die sich angeschlossen hatte, bis er schließlich durch ein magisches Portal geritten war.
„Ich muss herausfinden, wohin dieses Portal zuerst führte“, beendete er seinen Bericht. Inzwischen glaubte er die Theorie, dass der Spiegelmeister auf dessen anderer Seite gewesen war und das Portal beim Anblick des toten Verräters geschlossen hatte.
„Das ist gefährlich“, warnte Junea. „Der Spiegelmeister könnte mitbekommen, dass sich jemand an den Portalen zu schaffen macht. Und dann würde er es sicherlich schaffen, das Portal nach Soregrat zu öffnen!“
„Aber ich kann Chiro nicht im Stich lassen!“
„Wir finden einen Weg“, sagte Takjin mit kindlichem Mut.
„Wir müssen es vermutlich sogar tun“, sagte Junea. „Wenn der Spiegelmeister deinen Freund Chirogan haben will, müssen wir ihn unter allen Umständen retten. Wenn unser Feind ihn braucht …“
„Ist das alles, worum es dir geht?“, fuhr Merin sie an. „Wenn jemand anderes ihn entführt hätte, wäre er dir egal?“
Junea sah ihn einen Moment sprachlos an. Dann zischte sie: „Er ist mir nicht egal. Aber wir sind im Krieg. Man kann nicht alle retten, Merin. Also ja, wenn er nicht von Wert für den Spiegelmeister wäre, müssten wir sein Verschwinden hinnehmen. Es steht zu viel auf dem Spiel, für mich genauso wie für alle anderen.“
Merin öffnete den Mund, aber Junea warf ihm einen Blick zu, der ihm alle Worte im Halse stecken bleiben ließ. „Ich weiß, was du durchmachst. Ich habe meine Eltern an die grauen Ritter verloren. Deswegen müssen wir den Spiegelmeister aufhalten. Und das schaffen wir nicht, wenn wir uns die ganze Zeit auf Einzelschicksale konzentrieren.“
Schweigen kehrte ein. Artreis, Menakurr und Aleé tauschten Blicke, die Merin deutlich machten, dass sie Juneas Ansichten nicht teilten. Doch niemand sagte ein Wort. Mit einem Schnauben erhob sich die junge Frau und verließ die Hütte.
„Wie … besiegen wir den Spiegelmeister denn?“, fragte Aleé vorsichtig.
„Vermutlich nicht mit einer goldenen Axt.“ Menakurr lachte trocken. „Hat irgendjemand ihn schon einmal gesehen?“
Allgemeines Kopfschütteln. Gegenseitig berichteten sie von ihren spärlichen Erfahrungen mit ihrem Gegner. Merin lauschte den Berichten von Stimmen aus Spiegeln und grauen Rittern.
„Ihr Anführer heißt General Pralikov“, sagte Takjin und ein Schatten der Furcht lag in seinen Augen und seiner Stimme. „Zwei andere sind Kith und Naru.“
„Irgendwie seltsam … dass sie Namen haben, meine ich“, murmelte Peki. „Sie wirken so unheimlich, geradezu übermenschlich!“
Merin konnte seiner jungen Freundin nur zustimmen. Die Ritter waren eine gesichts- und namenlose Bedrohung gewesen.
Menakurr räusperte sich: „Sag mal, Takjin. Glaubst du, dieser Dokarestmus wusste mehr über die Ritter? Oder weiß Junea etwas?“
„Junea würde ich jetzt nicht fragen.“ Takjin grinste schief. „Aber in Dokarestmus‘ Zimmer gibt es viele alte Bücher. Die, die ich gesehen habe, sind in seiner Handschrift verfasst. Vielleicht hat er etwas über sie geschrieben.“
„Denkst du, ich kann mir die Bücher mal ansehen?“, fragte Menakurr und bekam freudig leuchtende Augen.
Takjin überlegte. „Klar, warum nicht? Ich werde nur Junea Bescheid geben, dass du sie liest. Ich hoffe, sie hat nichts dagegen.“
Menakurr musste sich sichtlich zurückhalten, um nicht auf der Stelle in die Studierstube zu rennen. Ungeduldig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, was Aleé und Artreis in Gelächter ausbrechen ließ.
„Takjin, wie viele Tiere habt ihr hier?“, fragte Peki. „Und kann man alle reiten?“
„Ich kenne gar nicht alle“, antwortete Takjin. „Es gibt natürlich die Großkatzen und die Delfine. Aber auch Haie, Rochen, Riesenskorpione. Es soll Pferde geben und Schlangen – die kann man wohl nicht reiten – und Elefanten! Natürlich gibt es auch die Wyvern, oben auf dem höchsten Berg.“
Hingerissen hörte das Mädchen Takjins Erzählung zu. Merin lehnte sich schweigend zurück.
Seine Gedanken schweiften ab zu Chirogan. Wie ging es seinem Freund nun? Seitdem Chirogans Familie ihn aufgenommen hatte, waren sie wie Brüder gewesen. Sie hatten sich selten getrennt, auch nicht bei der Flucht vor Ashram. In welche Schwierigkeiten sie sich gegenseitig gebracht hatten! Damals, als sie beide noch jung gewesen waren. Merin konnte nicht beschreiben, wie sehr er Chirogan vermisste. Es war ein Gefühl, als ob er nie wieder atmen können würde.