~ Genre: Beziehung, Slice of Life ~
Manchmal wünsche ich mich dann doch in eine Vergangenheit zurück, in der wir noch eine Zukunft hatten.
„Weißt du“, sagt sie, schiebt mir ihr Gesicht entgegen und wartet auf eine Reaktion meinerseits: „Weißt du, was ich manchmal denke?“
Das Sonnenlicht, einfallend durch die schmalen Schlitze zwischen den Fensterläden, hat mich müde gemacht. Und ich will nicht wissen, was sie manchmal denkt.
„Hmmh?“, mache ich.
„Ich denke, wir tun einander nicht gut“, sagt sie, nackt in meinem Arm.
„Hey!“, sage ich zu der hübschen jungen Frau auf der Straße.
Sie hebt den Blick, blinzelt mich unter einem breitkrempigen Hut heraus an. „Hey“, erwidert sie langsam, fast zögerlich. Ich kann es ihr nicht verdenken. Immerhin habe ich sie gerade einfach so angesprochen.
„Ähm. Ich habe mich gefragt, ob ich dich ein Stück begleiten darf.“
Sie sieht mich an, mustert mich und schätzt mich ein. Dann hakt sie sich in meinen Arm: „Sicher, warum nicht?“
Wir gehen ein Stück über die belebte Einkaufsstraße. Sie trägt zwei voluminöse Plastiktaschen in der linken Hand, ihre rechte liegt auf meinem Arm.
„Soll ich dir die Taschen abnehmen?“
„Nein. Es geht schon“, sagt sie: „Da sind nur leichte Sachen drin.“
Wir schweigen. Ihre Haare streichen über meinen Arm, wo ihn das T-Shirt nicht mehr bedeckt.
„Und? Wie heißt du?“
„Ich glaube, wir brauchen mal eine Pause ... sowas wie Urlaub voneinander.“
Ich sehe sie an, wie sie unruhig in der kleinen Küche auf und ab läuft: „Du machst Schluss?“
Sie bleibt vor dem Küchentisch stehen und stützt die Hände darauf, um mir in die Augen zu sehen: „Nein. Ich sagte, wir brauchen eine Pause. Kein Ende.“
Sie fährt sich mit der Hand durch die Haare und beginnt wieder, auf dem gefliesten Boden im Kreis zu laufen.
Ich betrachte meine Hände, die auf meinen Knien liegen: „Und wie lang soll die Pause sein?“
Sie bleibt stehen und spielt mit dem Magneten am Kühlschrank herum. Der Elchkopf scheint sehr viel interessanter als meine Augen zu sein. Der Kaffee vor mir wird kalt.
„Ein oder zwei Wochen?“
„Oder wir machen einen Bruch“, sage ich.
Sie dreht sich um: „Willst du mich nicht mehr?“
„Doch“, sage ich: „Aber ich will nicht mehr ich sein. Lass uns einen Deal machen: Wir trennen uns, für eine Woche. Und dann treffen wir uns in der Stadt, vor dem Geschäft, wo du deinen Hut her hast.“
Sie zieht die Stirn in Falten und guckt ungehalten: „Und dann?“
„Dann tun wir so, als kennen wir uns nicht“, schlage ich vor: „Und fangen noch mal von vorne an.“
„Warum packst du?“
Sie dreht sich erschrocken um: „Ich habe dich nicht bemerkt.“
„Ich weiß“, sage ich grimmig und stoße mich von dem Türrahmen ab, in dem ich gelehnt habe: „Warum packst du?“
Sie wirft einen Blick auf den großen Koffer, der umringt von Kleidungsstücken auf dem Bett liegt: „Ich werde ausziehen.“
„Du gehst?“
„Ich gehe.“
Wir schweigen uns an.
„Und was ist mit den Kindern?“, frage ich.
Sie lacht trocken: „Guter Witz.“ Dann wirft sie weiter Unterwäsche in den Koffer, klappt schließlich den Deckel mit einem Knall zu und setzte sich neben das Gepäckstück auf das Bett.
„Wo gehst du hin?“, frage ich leise.
„Ich weiß es nicht“, antwortet sie. Ihre Unterlippe zittert. „Irgendwohin, schätze ich. Vielleicht nach Australien.“
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr: „Es ist vier Uhr morgens. Soll ich uns vielleicht erst einen Kaffee machen?“
Sie sieht mich entgeistert an.
„Wir könnten auch gucken, wann ein Flug nach Australien geht.“
„Ja. Danke.“
„Zahlen, bitte!“, rufe ich dem Kellner zu. Er nickt, schnappt sich sein Klemmbrett und kommt zu unserem Tisch gelaufen: „Das waren dann...“, er begutachtet die Teller auf unserem Tisch.
„Einmal der Hähnchensalat, einmal das Zigeunerschnitzel und sechs Gläser Rotwein“, zählt sie alles schnell auf.
Der Kellner macht sich Notizen und betrachtet die unberührten Portionen: „Hat es Ihnen nicht geschmeckt?“
„Doch, doch, es war sehr lecker“, sage ich tonlos.
Mit einem Gesichtsausdruck, der nicht zu deuten ist, räumt der Kellner die Gläser und Teller auf ein Tablett: „Rechnung kommt sofort.“
Er geht. Wir starren uns an.
„Soll ich zahlen?“, frage ich.
„Getrennt“, erwidert sie.
„Ich möchte Kinder“, sagt sie.
„Was?“, frage ich. Bis gerade haben wir darüber gesprochen, wo wir essen gehen wollen.
„Ich möchte Kinder. Zwei. Ein Mädchen und einen Jungen.“
Ich sehe sie an: „Du bist noch in der Probezeit.“
„Was hat denn der Supermarkt damit zu tun?“, fragt sie bissig.
Ich lege den Flyer des Restaurants zur Seite. Es ist eines meiner Lieblingslokale, und ich wollte es ihr endlich mal zeigen.
„Wenn du direkt nach der Probezeit in Mutterschaftsurlaub gehst, verlierst du vielleicht den Job. Und ich verdiene nicht genug...“
„Du willst also keine Kinder?“
„Ich möchte noch ein wenig warten“, sage ich und versuche, mich an die Vorstellung von einer kleineren Ausgabe von ihr zu gewöhnen.
Sie verschränkt die Arme: „Und wie lange möchtest du bitteschön warten?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Hey, Liebling“, flötet sie mir zu. Ich schließe die Tür hinter mir. In der Wohnung ist es dunkel, nur aus dem Schlafzimmer kommt Licht. Langsam setze ich die schwere Tasche ab und folge ihrer Stimme: „Ja, Schatz?“
Ich reibe mir im Gehen die Augen und versuche, mein Gesicht zu entspannen. Meine Hände riechen nach Schweiß und Staub.
Sie steht nur in Unterwäsche im Schlafzimmer. Auf allen waagerechten Flächen hat sie Kerzen angezündet. Sie lächelt, als sie mich sieht: „Herzlichen Glückwunsch zum Valentinstag!“
Ich bleibe in der Tür stehen: „Hast du … ich dachte, wir hätten gesagt, dass wir uns nichts schenken“, stammele ich: „Ich habe überhaupt nichts für dich.“
„Das ist in Ordnung“, säuselt sie und legt mir die Arme um den Hals. Ich küsse sie und sie zieht mir die schwere Jacke aus: „Dafür habe ich umso mehr für dich!“
Während sie mich auf das Bett zieht, kann ich mir im letzten Moment noch ein Kondom aus der Schublade der Kommode schnappen.
„Mach die Augen zu“, sage ich.
Sie gehorcht mir. Die Vögel zwitschern und es ist warm, während ich mich neben sie auf die Parkbank setze. Langsam beuge ich mich vor und küsse sie. Wir drücken unsere Lippen aufeinander, ich spüre, wie sie ihre zu einem Lächeln verzieht.
Mit der Hand, die ich bis gerade hinter meinem Rücken gehalten habe, setze ich ihr den Strohhut auf.
„Augen auf“, sage ich.
Sie betrachtet den Hut mit großen Augen.
„Alles Gute zum Valentinstag.“
„Und wo wohnst du jetzt?“, frage ich.
Sie zuckt mit den Schultern. „Mal sehen.“
Mit beiden Händen umklammert sie den Pappbecher mit Kaffee in ihren Händen: „Ich hoffe, dass ich bald einen Job finde, und dann eine Wohnung.“
„Ohne feste Adresse bekommst du aber nichts“, erinnere ich sie.
Sie wendet den Blick ab und verschließt ihre Gefühle hinter einer eisigen Maske. „Ich werde schon einen Weg finden“, knurrt sie in ihren Kaffee.
Ich sehe mich in dem billigen Shop um, in dem ich sie unverhofft entdeckt habe.
„Du siehst genauso aus wie früher“, sage ich.
Sie sieht hoch und macht ein ungehaltenes Gesicht: „Du auch. Na und?“
Ich zucke mit den Schultern: „Schon komisch. Als wäre von Anfang an bestimmt, wer du später sein wirst.“
Sie schnaubt und nimmt einen Schluck Kaffee. Sie ist bleich und sieht müde aus. Ihre Haare hängen in unordentlichen Strähnen. Vermutlich hat sie sich lange nicht mehr gekämmt oder gewaschen.
„Du kannst bei mir wohnen. Bis du was Eigenes hast“, sage ich und füge schnell hinzu: „Wenn du willst.“
„Werden wir uns wiedersehen?“, frage ich kleinlaut. Plötzlich ging alles ganz schnell.
„Bestimmt“, sagt sie und setzt ein falsches Lächeln auf: „Ich bin ja bald achtzehn, dann komme ich wieder zurück und ziehe ganz in der Nähe ein.“
„Das sind noch fast zwei Jahre!“, sage ich: „Werde ich dich überhaupt erkennen?“
„Natürlich“, schnaubt sie: „Ich werde doch immer noch ich sein. Du erkennst mich an dem großen Strohhut, den ich tragen werde! So einen, wie Miss Margaret hat.“
Sie deutet auf ihre alte Puppe, die vorne auf dem Armaturenbrett liegt. Tatsächlich sitzt ein breiter, alter Strohhut auf der noch älteren Stoffpuppe.
„Warum hast du sie noch?“, frage ich.
„Damit mir was bleibt. Von Dad“, murmelt sie und sieht für einen Moment ganz traurig aus. Ich habe sie noch nie über ihren Vater sprechen hören.
„Aber du kommst wieder?“, frage ich ängstlich.
„Ja, verdammt nochmal!“, faucht sie mich an. Ihre Augen blitzen: „Aber wenn du mich nochmal fragst, wandere ich lieber nach Australien aus.“
„Oh mein Gott, ich habe eine drei!“, ruft sie schon von Weitem und stürmt auf mich zu. Am ausgestrecktem Arm wedelt sie mit dem schwarzen Klassenarbeitsheft. Der Reißverschluss ihres Rucksacks öffnet sich beim Laufen und all ihre Bücher und Hefte und Stifte purzeln auf die Straße.
Doch sie kümmert sich nicht darum. Bei mir angekommen, zieht sie mich in eine feste Umarmung, dass es mir beinahe alle Knochen bricht.
Als ich nach Luft schnappen will, sind plötzlich ihre Lippen auf meinen.
Für einen ganz langen Herzschlag lang hält die Welt den Atem an.
Sie löst sich von meinen Lippen, aber ihre Hände sind noch auf meinen Schultern: „Danke.“
„Siehst du: Ist doch ganz einfach!“, sage ich stolz. Sie guckt angestrengt auf das Blatt Papier vor sich, als würden die Zahlen immer noch ein Geheimnis vor ihr verbergen. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie ihre eigene Schrift schon nicht mehr entziffern kann.
„Häh? Bin ich fertig?“
„Ja, du hast alles richtig!“, sage ich und nehme den grünen Filzstift, um einen großen Haken unter ihre Rechnung zu malen: „Du hast Bruchrechnen verstanden. Jetzt ist das große Einmaleins dran.“
Sie stöhnt und wirft den Stift von sich: „Ich will nicht mehr!“
„Ach, komm schon“, sage ich hilflos: „Die Arbeit ist in zwei Tagen.“
„Aber Mathe ist doof! Das große Einmaleins ist doch dritte Klasse!“
Ich seufze: „Aber du hast gesagt, du kannst es nicht.“
Jetzt vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen und fängt plötzlich an zu weinen: „Nein! Und ich werde es nie können! Mathe konnte ich noch nie! Und Deutsch und Englisch kann ich auch nicht! Und Bio ist ganz scheiße!“
Ich streichele nervös ihren Arm, voller Angst, dass sie meine Hand weg schlagen könnte: „Aber du bist doch gut in Sport“, sage ich. „Du hast eine zwei. Und in Religion stehst du immer eins.“
„In Religion steht jeder eins!“, schnieft sie wütend: „Was soll ich denn damit werden, Wanderpredigerin?“
„Sportnonne“, sage ich wie aus der Pistole geschossen.
Sie muss grinsen, obwohl sie es zu vermeiden versucht: „Was ist das denn?“
„Na, bevor du los rennst, betest du, und mitten im Rennen noch dreimal und am Ende behauptest du, alle, die schneller waren, hätten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.“
Sie muss lachen, während ihr noch Tränen aus den verquollenen Augen laufen.
„Hast du vielleicht ein Taschentuch?“, fragt sie dann leise.
„Traust du dich, dein T-Shirt auszuziehen?“, fragt sie.
„Natürlich“, sage ich, ziehe mir das Shirt über den Kopf und hänge es in den Ast eines Strauches. Wir stehen in dem kleinen Wäldchen, wo unsere Mütter uns immer verboten haben, rein zu gehen.
„Und du?“
Sie beißt sich kurz auf die Unterlippe, dann macht sie es. Frierend stehen wir einander gegenüber.
„Hihi, man sieht deine Knochen!“, kichert sie und deutet auf meine Seite. Ich lege eine Hand darüber: „Bei dir auch!“
Sie atmet mehrmals ganz tief ein und aus, damit ich sehe, wie dünn sie sich dabei machen kann.
Wir haben beide eine Gänsehaut: „Traust du dich auch die Hose?“, fragt sie.
„Nur, wenn du dich auch traust“, sage ich.
„Okay, aber nur zehn Sekunden!“, sagt sie und hält mir die Hand hin.
Ich schüttele ihre Hand und taste nach meinem Gürtel. „Eins! Zwei! ...“
„Halt! Erst, wenn die Hose aus ist!“
„Hör auf, mir nachzulaufen!“
„Aber du rennst doch vor mir weg“, sage ich verwirrt.
„Wir spielen aber nicht fangen.“
„Ich laufe dir nicht mehr nach, wenn du nicht mehr wegrennst.“
„Lass mich doch einfach mal alleine!“
Ich sehe mich um: „Aber ich weiß nicht, wo ich bin.“
„Das kommt davon, wenn du mir immer nachlaufen musst!“
„Ich laufe dir doch gar nicht immer nach!“, jetzt verschränke ich trotzig die Arme vor der Brust.
„Wohl!“
„Gar nicht!“
„Wohl!“
„Gar nicht! Du bist raus gekommen zum Spielen, und jetzt müssen wir spielen“, sage ich.
„Ich will aber nicht mit Babys spielen“, sagt sie.
„Ich bin kein Baby!“
„Wohl!“
„Gar nicht!“
„Wohl!“
„Darf ich mitspielen?“
„Nein.“
„Was machst du da?“
„Geh weg“, das Mädchen dreht mir den Rücken zu.
„Spielst du ganz alleine?“
„Ja.“
„Aber warum?“, das verstehe ich nicht.
Sie dreht sich um und streckt mir die Zunge raus: „Das geht dich nichts an.“
„Möchtest du mit mir Tiere spielen?“, frage ich.
Sie zögert und zerschlägt einen weiteren Sandkuchen, den ich vorher gebacken habe: „Wie geht das?“
„Jeder ist ein Tier, und dann haben wir ein Haus, und müssen gefüttert werden.“
„Was für ein Tier bist du?“, fragt sie.
„Ich bin ein Hund!“, rufe ich aufgeregt: „Mit braunem Fell, aber mit weißen Flecken an den Ohren und um das eine Auge“, ich zeige ihr, welches Auge ich meine, „und an den Pfoten auch!“
„Das geht nicht“, sagt sie.
„Warum nicht?“
„Weil ich eine Katze bin. Und wenn ich eine Katze bin, kannst du kein Hund sein, weil sich Katzen und Hunde immer streiten.“
„Aber nicht, wenn die zusammen groß werden!“, belehrte ich sie: „Dann sind sie nämlich Freunde!“
„Gar nicht.“
„Wohl!“
„Gar nicht!“
„Weißt du“, sagt sie, schiebt mir ihr Gesicht entgegen und wartet auf eine Reaktion meinerseits: „Weißt du, was ich manchmal denke?“
Das Sonnenlicht, einfallend durch die schmalen Schlitze zwischen den Fensterläden, hat mich müde gemacht. Und ich will nicht wissen, was sie manchmal denkt.
„Hmmh?“, mache ich.
„Ich denke, wir tun einander nicht gut“, sagt sie, nackt in meinem Arm.
„Kann sein“, muss ich ihr zustimmen. Ich streichele über ihren Arm und wende den Blick von ihr ab. Ich stelle mir vor, sie wäre jemand anderes. Oder auf eine andere Art sie selbst. Ich stelle mir vor, sie wäre so, dass wir zusammen glücklich werden könnten.
Aber dann wäre sie wohl doch jemand anderes und ich könnte sie nicht lieben. Weil ich ja sie liebe, so wie sie ist.
Ergibt das Sinn? Ich weiß es nicht.
Manchmal würde ich gerne zurück gehen und ein paar Dinge ändern. Aber ich weiß nicht, welche.