~ Genre: Slice of Life, Nachdenklich ~
Es geht die Rolltreppe herab.
Aus dem Gedränge des Erdgeschosses entkommen, gibt es eine kleine Atempause, durch die Steinwände von allen Geräuschen außer den Unmittelbaren ausgeschlossen, bevor das Gedränge der U-Bahnhaltestelle sie wieder aufnimmt.
Gesichtslose Menschen gleiten vorüber, monoton in der Geschwindigkeit der Rolltreppe. An deren Fuß warten weitere Massen; die Glücklicheren – oder Furchtloseren – sitzen auf den wenigen Sitzplätzen, heruntergekommenen Metallkonstruktionen in ungefährer Sesselform.
An vielen der Sitze blättert die Farbe ab, und das Metall zeigt deutliche Abnutzungsspuren. Man kann auf den Zentimeter genau aufzeigen, wo Generationen von U-Bahnfahrern gesessen haben.
Wie gesagt, es sind die Mutigeren, die sich auf den Sitzen niederlassen.
Alle anderen stehen an den Schienen, mal näher, mal weiter entfernt, aber immer hinter den weißen Sicherheitslinien. Bis auf den heruntergekommenen Mann in dem braunen Mantel, der leicht schwankt, als wäre er betrunken. Vielleicht ist er es auch. Niemand steht in seiner Nähe, um eine eindeutige Antwort zu geben.
In der unterirdischen Höhle ist es laut und stickig. Zwar machen ein paar lustige Plakate den verzweifelten Versuch, die nackten weißen Kacheln ein bisschen aufmunternd wirken zu lassen, doch das Gefühl der Enge lässt sich nicht vertreiben. Wie eine stumme Drohung hängt die Decke über allem, schwer und nur von wenigen Säulen gestützt. Sie könnte herabfallen, immerhin fahren dort oben auch Züge, dort sind Menschen und Geschäfte. Irgendwann ist das alles doch zu schwer für eine Decke.
Man verdrängt den Gedanken, sonst wird die Wartezeit noch länger. Es stinkt. Zwar ist überall auf den Bahnsteigen Rauchverbot, und erst recht hier unter der Erde, doch irgendjemanden scheint das nicht zu kümmern. Man kann es riechen, doch der Übeltäter bleibt gesichtslos. Was für ein Schwein. Nein, ihn zu suchen wäre albern. Und sinnlos noch dazu, diese Menschen hören doch nie.
Ein lautes Rattern eilt der U-Bahn voraus. Schon sieht man das Licht am Ende des Tunnels. Das Licht sagt U57. Wer jetzt noch auf der Rolltreppe steht, muss rennen und wird um seine Atempause gebracht. Die Bremsen quietschen ohrenbetäubend, das Geräusch wird in der ganzen Höhle zurückgeworfen und tausendfach verstärkt. Die drei Jugendlichen mit ihren Kopfhörern bekommen davon nichts mit. Ein älterer Herr hat das Pech, zwischen die drei Einzelnen zu geraten, als sich an den Türen Menschentrauben bilden.
„Umzz...umzz...umzz“ kommt es aus den drei Kopfhörern, alle in unterschiedlichem Takt. Die Menschen bilden einen Gang zu der Tür, flankieren beide Seiten, um die Menschen aus dem Bauch der Bahn herauszulassen. Der alte Mann fragte sich, wie die Leute heutzutage so etwas hören können, das ist doch keine Musik mehr, das ist Lärm. Und dann auch noch so laut! Unerhört. Er wirft den Jugendlichen giftige Blicke zu.
Keiner der drei bemerkt ihn. Sie kommen von der gleichen Schule, aus unterschiedlichen Klassen, und sie haben einen langen Tag hinter sich. Sie merken nicht, dass ihre Musik viel zu laut ist. Sie wollen nicht leiser hören, sie brauchen endlich eine Pause von der Welt. Und wer weiß schon, was sie hören. Von der falschen Seite der Kopfhörer würde selbst Mozart wie Krach klingen.
Die Aussteiger sind fertig, jetzt drängeln die anderen hinein, stoßen sich gegenseitig und treten auf fremde Füße, in dem Versuch, den sich schließenden Türen zuvorzukommen. Wie zuvor von außen, drängt sich auch jetzt alles an den Türen, nur von innen. Die Zwischenbereiche in der U-Bahn sind fast menschenleer, abgesehen von den Sitzplätzen, die restlos besetzt sind.
Eine alte Frau mit Rollator möchte ebenfalls in die Bahn. Sie steht vor der Tür, vor einer dichten Wand aus lebenden Körpern. Wer nah an der Tür steht, sieht die Frau und möchte rücken. Es ist ein Naturgesetz, dass immer die freundlichen Menschen als letzte in die Bahn steigen. Doch sie haben kaum Platz zum Atmen, geschweige denn, um ein paar Schritte zurückzugehen. Irgendwo steht jemand im Weg, der einen guten Griff an den Haltestangen gefunden hat und diesen nicht los geben will. Und nicht nur das. Auf dem Sitz neben ihm sitzt seine Frau, es geht ihr nicht gut. Er weicht nicht von ihrer Seite, und es ist zu eng, dass jemand an ihm vorbei könnte. Ein paar Leute schimpfen. Die Türen piepsen, gehen zu.
Jemand sehr optimistisches hält die Hand dazwischen, doch es kommt kein Platz auf. Die Bahnfahrerin macht eine Durchsage und keift die Verzögerer zusammen, sie sollen aus der Lichtschranke gehen. Die Fahrerin hat schlechte Laune.
Sie hat eine lange Woche hinter sich, in der sie hier arbeitet. Ihr erstes Kind hat ihr den Job versaut, von dem sie ein Leben lang geträumt hat. Kaum hatte sie die Stelle, da wurde ihr Bauch dick, und alle Hoffnung war dahin. Ein zweites Mal hatte sie keine Chance. Und der Vater ist weg. Jetzt bleibt ihr nur die Bahn, und das zu einem furchtbaren Lohn in der Probewoche. Ihr Leben ist zerstört, und die Menschen in der Tür bekommen das ab.
Die Türen schließen sich, die Dame mit ihrem Rollator bleibt zurück. Langsam humpelt sie wieder zu ihrem Sitzplatz, um auf die nächste Bahn zu warten. Doch der Platz ist besetzt. Sie bleibt mitten auf dem Bahnsteig stehen.
Die U-Bahn fährt an und rauscht schon bald durch die Tunnel dahin. Nur dieses Rauschen ist zu hören, und das Flackern der Beleuchtung. Eine Lampe ist kaputt. Sie blitzt wie ein sterbendes Glühwürmchen.
Ein junges Mädchen kramt plötzlich hastig einen oft gefalteten Zettel aus ihrer Jackentasche. Im flackernden Licht versucht sie, die unordentliche Schrift zu entziffern.
„Entschuldigung? Ist das hier die U5?“, fragt sie einen Mann neben sich. Das einzige Geräusch im Abteil. Sofort hören alle mit, ob sie wollen, oder nicht. Dem Mädchen ist es peinlich.
Der Mann zuckt mit den Schultern. Es ist der Betrunkene im braunen Mantel vom Sicherheitsstreifen. Im Gewirr beim Einfahren der U-Bahn ist er aus den Gedanken der Menschen verschwunden. Jetzt sitzt er im Abteil.
Er hatte vor, zu springen, und es dann doch nicht getan. Er möchte zu seiner Familie, die nach einem Autounfall unerreichbar weit weg ist. Er ist noch jung. Aber er sieht alt aus. Sein Lebenswille ist in Flammen aufgegangen, durch einen Schwarzfahrer auf einer nächtlichen Autobahn, bei Glatteis. Der Unfallverursacher lebt noch.
„Weiß nich.“, nuschelt er schließlich. Er ist nicht betrunken, nur übermüdet und niedergeschlagen. Jeder andere im Abteil könnte die Frage des Mädchens beantworten. Sie schweigen. Die Bahn verkündet die nächste Haltestelle.
„Bitte, ich muss dringend -“, fängt sie an.
„Du bist in der U57“, antwortete die kranke Frau von den Sitzen aus. Man hört ihr an, dass es sie Kraft kostet, zu antworten. Sie hustet. Ihr Mann klopft ihr hilflos den Rücken. Der alte Mann, der noch immer zwischen den drei Jugendlichen mit Kopfhörern steht, bietet ihr ein Hustenbonbon an. Ein schwaches Lächeln.
Für einen Moment flackert die Lampe nicht mehr ganz so stark sondern leuchtet hell auf, bevor die Birne endgültig durchbrennt und mit einem leisen Seufzen verendet.
Das kleine Mädchen guckt, als würde sie gleich weinen, aber sie beherrscht sich. Sie ist noch zu jung, um zu fluchen, sonst würde sie es tun. Sie arbeitet sich durch die Menschen vor zur Tür.
Sie muss zum Arzt. Zum ersten Mal allein mit der Bahn unterwegs, weil die Mutter arbeiten muss. Das Mädchen ist nicht krank, sie geht zum Arzt, weil es ihrem kleinen Bruder schlecht geht. Er braucht Medizin.
Sie rümpft die Nase. Der Mann neben ihr riecht nach Zigarette. Er hat noch einen rauchenden Stummel in der Hand. Seine Augen liegen tief in den Höhlen und sind von fast schwarzen Ringen untermalt. Sein Blick ist fiebrig, wie bei einem Sterbenden. Sein eingefallenes Gesicht scheint einem Totenkopf zu gehören.
Der Eindruck täuscht nicht. Dieser Mann hat grade sein Testament gemacht. Er kommt nach langem Krankenhausaufenthalt und vielen gescheiterten Entzügen zurück zu seiner Familie.
Er wird bald sterben. Er sieht die Adresse auf dem Zettel, der noch immer in der Hand des Mädchens ist.
Er klopft ihr auf die Schulter.
„Nimm dir ein Taxi. Das ist schneller.“ Die Bahn wird langsamer. Er gibt ihr das Geld passend und noch ein bisschen Trinkgeld.
Das Mädchen starrt ihn an.
Die U-Bahn fährt auf den nächsten Bahnsteig. Das plötzliche Licht blendet die Fahrgäste. Eine neue Höhle unter der Erde, erneut erfüllt von dem unmenschlichem Kreischen der Bremsen. Die Türen gehen auf, durch einen Gang von Menschen gehen der alte Raucher und das Mädchen auf den Bahnsteig, gefolgt von ein paar anderen Menschen.
Geschichten steigen aus, Geschichten steigen ein. Neue Menschen, neue Gefühle, neue Gründe. Wer weiß schon, was hinter jedem Gesicht versteckt ist?
Der Raucher ist schnell im Gedränge verschwunden. Er sucht sich eine freie Ecke und zündet eine neue Zigarette an. Seine Lunge ist so schwarz wie die Ringe unter seinen Augen. Wenn er nicht rauchen würde, dann könnte er nur warten, bis seine Beine amputiert werden und er für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzt. Es war seine Entscheidung. Die U-Bahn fährt an. Mit ihr verschwinden neue und alte Geschichten. Der Mann raucht, blickt dem Zug nach und lächelt.
Dann vergeht der Moment, und alles ist wie zuvor. Eine kurze Atempause zwischen zwei Gedrängen.
Es geht die Rolltreppe hinauf.