~ Genre: Slice of Life, Nachdenklich ~
Dies ist meine Geschichte. Sie ist lang, sogar sehr lang. Das Meiste würde niemanden interessieren, deshalb erzähle ich nur das Interessante. Doch ich will vorne anfangen. Es begann, wie so vieles, im Herbst:
Ein Same fiel vom Baum. Der Wind riss ihn mit sich, schüttelte ihn. In diesem Moment erwachte sein Bewusstsein als Individuum.
Allein gelassen trudelte er im Wind, wurde von Regen fortgespült und schaffte es schließlich, sich in die Erde zu wühlen. Dort blieb er verborgen, genoss die Wärme einer Schicht aus Blättern. Doch dann kam der Frühling. Dazu muss ich sagen, für mich ist jeder Frühling gleich. Deshalb weiß ich nie, wie alt ich bin. Doch das war mein erster Frühling. Ich spürte den Drang des Lebens in mir und bildete eine kleine grüne Wurzel. Bald wuchs ein junger Baum an dieser Stelle. Viele Jahre, wie ihr es nennt, vergingen. Es fiel Regen und es schien die Sonne. Ich kämpfte die ganze Zeit über, ich kämpfte um Licht, um Platz. Ich kämpfte gegen Käfer, gegen andere Bäume und gegen mich selbst. Das Leben eines Baumes ist ein hartes Leben.
Doch schließlich war ich größer und stärker, als ich es mir je erträumt hatte. Ich trotzte den Stürmen, die im Winter das Land verwüsteten. Ich lebte und starb, denn jeder Baum stirbt im Winter, und manche wachen im Frühling nicht mehr auf. Doch das war nicht meine Sorge. Es war natürlich. Bäume haben keine Angst vor dem Tod, doch sie fürchten die Sägen. Manchmal höre ich Bäume schreien, die gefällt werden. Ich kann es nicht sehen, wohl aber spüren. Sie sterben nicht, nicht in dem Sinne. Sie werden anders.
Doch hier sind wir noch nicht. Wir sind im Frühling, als ich zum ersten Mal andere Gedanken aufnahm:
Lukas machte einen Spaziergang im Wald. Er hatte ein langes Gespräch mit seiner Mutter geführt, wobei sie die meiste Zeit redete. Diesmal ging es um Bäume. Lukas war vierzehn, ein eher unauffälliger Junge mit braunem Haar und Sommersprossen.
Sein Vater und seine Mutter hatten zu viele Bücher über okkulte Rituale gelesen. Doch Lukas war sein ganzes Leben von Amuletten, Naturheilkundebüchern und seltsamen Gedanken umgeben gewesen. Auch war er noch nicht in dem Alter, um seine Eltern in Frage zu stellen. Also machte er einen Spaziergang, versuchte mit Waldgeistern Kontakt aufzunehmen und betrachtete die Bäume aus neuem Blickwinkel.
Seine Mutter hatte ihm von einer Möglichkeit erzählt, mit einem Baum Zwiesprache abzuhalten. Auch hatte sie ihm Bäume als Säulen des Himmels vorgestellt. Lukas glaubte ihr.
Er suchte sich einen hübschen Baum. Er war grade gewachsen, schlank, mit glatter Rinde. Lukas verneigte sich vor dem Baum und trat dann an ihn heran und umarmte ihn. Ganz sacht. Der Baum vermittelte Stärke. Leise sprach Lukas Worte in die Rinde. Angeblich weckten Worte das Bewusstsein des Baumes, und er nahm andere Wesen war. Lukas glaubte bedingungslos daran.
Nach einer Weile ließ er den Baum zurück und traf sich mit anderen Jungen zum Fußballspiel.
Hunger war alles, was er denken konnte. Hunger, Hunger, Hunger. Die Beine krabbelten von alleine. Da, Futter! Es lag vor ihm, ein Land aus Futter. Er konnte dort wohnen! Sechs Beine tasteten nach Halt. Er kletterte senkrecht. Er war schnell.
Hunger! Gierig fraß er. Dann krabbelte er weiter. Schutz! Eine Höhle. Er kletterte hinein. Nicht groß. Groß genug.
Ausruhen.
Geräusche! Futter oder Feind? Nachsehen. Er krabbelte nach draußen. Etwas Großes. Dunkel. Laufen! In die Höhle. Der Eingang: Drinnen! Sicher? Ja.
Dunkles vor dem Eingang. Eingang weg. Eingang weg? Er krabbelte zurück.
Plötzlich wieder hell. Etwas packte ihn. Tot stellen! Nicht bewegen!
Es ließ los. Er fiel. Boden. Er lag auf dem Rücken. Zappelte. Etwas dunkles, über ihm. Es packte ihm. Kämpfen. Feind ist zu groß. Kurzer Schmerz. Nichts.
Tom war auf dem Weg nach Hause. Sein Weg führte durch ein Wäldchen. Der Schulranzen schlug bei jedem Schritt auf seine Rücken. Mathe war doof, ganz klar. Und Frau Einen sowieso. Blöde Hausaufgaben!
Da stand ein Baum. Zwar recht hoch, doch Tom war sportlich. Er legte den Toni ab. Er hatte noch Zeit. Bald saß er oben in den Ästen. Eine wunderschöne Aussicht. Vielleicht könnte er mit einigen Freunden ein Baumhaus bauen? Wenn sie sich Bretter besorgten und Felix durfte bestimmt schon Nägel haben... Vorfreude erfasste ihn. Ein Baumhaus. Gleich Morgen!
Doch er musste nach Hause. Mami sah immer so wütend aus, wenn er zu spät kam. Er sprang zu Boden und hob den Toni auf. Ab nach Hause! Bald war das Baumhaus vergessen.
Alice lief lachend durch das kleine Wäldchen. Max folgte ihr auf den Fuß, ohne sie aus den Augen zu lassen. Alice sah immer wieder über die Schulter. Schließlich blieb sich keuchend an einen Baum gelehnt stehen.
„Ich kann nicht mehr!“ japste sie.
Max legte ihr einen Arm um die Schulter, und sie umarmte und küsste ihn. Beide hielten sich ganz, ganz fest, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Sie taten es doch.
Hand in Hand gingen sie schließlich den Weg zurück. Da blieb Alice vor einem Baum stehen, der ihr gefiel. Er war schlank und hoch, und die Blätter ließen das Sonnenlicht durch, das ein leuchtendes Muster auf den Boden malte.
Max lächelte und zückte dann sein Taschenmesser. Er ritzte ein A in den Stamm. Alice lachte. Dann nahm sie Max das Messer aus der Hand und ritzte ein M daneben. Zwischen die beiden Buchstaben setzte sie ein + .
Max drückte sie an sich und zog dann ein Herz um die drei Zeichen. Lachend, und sich immer wieder küssend, gingen beide weiter.
Torsten stapfte über den matschigen Weg. Der verdammte Regen machte alles nicht besser. zusammen mit Thomas und Björn musste er die markierten Bäume in diesem Wald fällen. Scheiß Job. Nichts als Holzsplitter und Erkältungen. Aber er hatte nichts Besseres. Musste schließlich eine Familie ernähren. Scheiße!
Ein rotes Kreuz war an einem Baum angebracht, unter einem verwachsenem, kindlichem Herzen.
„Den da noch!“ grummelte Björn.
„Dann machen wir Feierabend!“
Thomas und Torsten zogen ihre Sägen auf. Das Knattern hallte durch den stillen Wald. Sonst war ja niemand da, der Geräuschen machte, alle hockten in ihren Buden. Nicht mal einen Hund setzte man bei sonem Scheißwetter vor die Tür.
Die Sägen fraßen sich in das Holz. Mit eintöniger Routine schnitten die Männer in den Stamm. Ein Krachen kündigte Erfolg an.
„Baum fällt!“ rief Thomas, aus Gewohnheit. Mit lauten Krachen fiel der Baum zu Boden und verschüttete Tropfen in alle Richtungen. Zweige brachen mit lauten Knacken.
Der Stamm wurde in die Einzelteile zerlegt und dann abtransportiert. Torsten verabschiedete sich von seinen Kameraden.
„Nen verdammt jutes Wochenende wünsch ich euch!“ rief er, dann stapfte er durch den Regen zu seinem Auto.
Tja, was gibt es schon zu sagen? Ich hatte keine Einfluss auf das Geschehen, doch alle haben mich in gewisser Weise berührt. Wobei ich sagen muss, dass der Käfer mich schon nervös gemacht hatte. Ein Käfer kann einem Baum ganz schön zusetzten.
Aber was solls? Ich will euch nur noch eine Geschichte erzählen, doch es ist nicht mehr die Geschichte eines Baumes. Sie ist eher die Geschichte eines Stuhls:
Albert ließ sich in den Stuhl fallen. Er knarzte nicht einmal! Der Stuhl war ja noch neu. Eigentlich hatte er gedacht, es lohne sich nicht, neues anzuschaffen, aber als der alte Stuhl kaputt gegangen war, hatte sich Albert noch einmal einen Stuhl gegönnt. Er war jetzt 79, und da machte man keine großen Neuanschaffungen mehr.
Aber der Stuhl war gut! Er schien sich sofort dem Rücken anzupassen. Albert steckte sich genießerisch eine Pfeife an und lehnte sich zurück.
Ah, diese Ruhe! Er paffte friedlich. Schließlich klopfte er die Pfeife aus und legte sie auf ein kleines Tischchen neben sich.
Albert schloss entspannt die Augen und schlief ein.