~ Genre: Krankheit, Schmerz/Trost ~
Ich sehe an die weiße Zimmerdecke. In meine Ohren dringen die allgegenwärtigen Geräusche. Ich versuche, sie wegzudenken.
Das ist schwierig. Seit ich denken kann, seit ich lebe, begleitet mich das Piepsen, Surren und Schnaufen der Geräte. Sie gehören zu mir wie Atem und Herzschlag – sie sind mein Atem und mein Herzschlag. Wären nicht diese unzähligen weißen Kästen, die für mich atmen und Blut pumpen, gäbe es mich nicht. Aber wäre das unbedingt schlecht?
Im Moment bereitet mir dieser Gedanke Sorgen. Die Frage, ob ich mir das wirklich länger antun muss, ob ich es will. Die Schmerzen. Jeder Atemzug ist, als würde ich Nägel einatmen. Sogar einen einzigen Muskel zu bewegen, ist ein Kraftakt. Dazu permanentes Fieber.
Ich habe diese neumodische, degenerative Erkrankung, SSIV – Schleichend sklerodermierendes interstellares Virus. Die meisten nennen es das Mars-Virus oder die Alien-Pest. Sie wird durch Erreger hervorgerufen, die man auf dem Mars entdeckt hatte – leider hat die NASA zu spät gemerkt, dass die Viren über die Raumkapseln mit auf die Erde gekommen sind. Sie arbeiteten sich in die DNA der Astronauten ein und wurden vererbbar, zusätzlich zu der unglaublich hohen Ansteckungsgefahr. Jetzt werden jährlich etwa 1000 Kinder mit dieser Krankheit geboren. Ein Heilmittel gibt es bislang nicht. Wir können Krebs heilen und Alzheimer umkehren, aber bei dem Mars-Virus gelingt es der Wissenschaft nur, Menschen wie mich 20, 25 Jahre alt werden zu lassen. Dann kommt der Punkt, wo alle Technik versagt, wo mein Körper innerhalb kürzester Zeit so stark geschwächt wird, dass es keine Rettung mehr gibt.
Dieser Punkt kann nicht mehr allzu fern sein. Und deshalb wünsche ich mir nichts sehnlicher, als diesen verfluchten Stecker zu ziehen und allem ein Ende zu setzen. Das habe ich sogar meinem persönlichen Arzt bei der Visite gesagt. Er erklärte mir, dass es keinen Stecker mehr gäbe, und die Geräte wertvoller als mein Leben – und teurer als meine Wünsche – seien. Schließlich werden die Maschinen speziell für mich angefertigt.
Das war vor ein paar Wochen. Aber es spielt keine Rolle. In diesem geschlossenen Raum ohne Fenster spielt Zeit keine Rolle.
Und plötzlich stehen zwei Gestalten mitten im Zimmer. Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie tragen keine Schutzkleidung. Dann fällt mir die Stille auf – die Geräte sind verstummt! Panik lähmt mich. Bin ich jetzt gestorben? Es könnte jeden Moment passieren, wenn ich nicht weiter beatmet werde. Warum nur ertönt der Alarm noch nicht?
„Fürchte dich nicht“, sagt einer der Männer, der Größere von ihnen, mit ausgreifenden Bewegungen. Er trägt einen Anzug und hat schulterlange blonde Haare. Der Zweite, ebenfalls mit Anzug, aber deutlich kleiner, stößt seinem Begleiter einen Ellbogen in die Seite: „Jetzt nimm mal den Stock aus dem Arsch!“
Dann grinst mich der Kleinere freundlich an: „Keine Panik. Wir haben die Zeit angehalten, also kannst du nicht sterben. Zu mindestens nicht im Moment.“
Ich blinzele mehrmals dümmlich, dann räuspere ich mich: „W-wer sind Sie?“
„Ich bin Mach, und das hier ist Onayepheton. Du kannst ruhig Ona sagen“, erklärt mir der Kleinere wieder. Sein Begleiter scheint über den Spitznamen nicht sehr erfreut.
„Was machen Sie in meinem Zimmer?“, frage ich. Nebenbei bemerke ich, dass ich offenbar wirklich ohne die Geräte atmen kann, wenigstens momentan. Vielleicht träume ich ja? Während Mach als Antwort auf meine Frage in einer Aktentasche wühlt, die er an einem Riemen über der Schulter trägt, zwicke ich mich unauffällig in den Arm. Es tut weh. Aber die beiden Männer in Anzügen bleiben, wo sie sind.
„Hier: Wir kommen – naja, aus der Zukunft, sozusagen. Du hast uns geschickt, beziehungsweise du wirst uns schicken, oder genauer gesagt, geschickt haben … tja, hier ist der Beweis.“
Ich nehme ein Blatt Papier aus den Händen von Mach entgegen. Es ist mit zittriger Hand beschrieben, aber schon auf den ersten Blick erkenne ich die Unterschrift: Jezi Mayfever. Mein Name! Die Unterschrift wirkt krakelig, aber der Brief trägt trotzdem unverkennbar meine Handschrift.
Außer meinem Namen stehen nur zwei Worte auf dem Papier: Beende es!
„W-was bedeutet das?“, frage ich, und eine dunkle Vorahnung ergreift Besitz von mir. Ich sehe das Datum auf dem Brief – der Tag ist in knapp einem Jahr! Das ist auf zwei Arten unheimlich.
„Nun ja“, beginnt Mach, als wäre es ihm unangenehm, „Du hast diese Krankheit, wie du ja weißt. Und nun, in Zukunft wird es ein bisschen schlimmer werden.“
Ich sehe den Mann entgeistert an. Noch schlimmer? Wie soll das alles noch schlimmer werden? Täglich Schmerzen, die ständige Angst vor dem Herzversagen, die Isolation?
„Du möchtest halt in der Zukunft Selbstmord begehen. Leider wirst du dazu nicht mehr fähig sein. In der Zukunft, meine ich. Also müssen wir dich heute fragen, ob du deinen eigenen Wunsch erfüllen möchtest.“
„M-meinen Wunsch? Z-zu sterben?“, frage ich unsicher nach.
Mach nickt freundlich: „Du wirst es dir in ein paar Monaten wünschen. Also fragen wir dich jetzt.“
„Ich wünsche es mir jetzt schon!“, entfährt es mir: „Ich will sterben! Was muss ich tun?“
Ich habe mich im Bett aufgesetzt und zucke plötzlich mit einem Schmerzlaut zusammen.
„Vorsicht!“, warnt Mach: „Du brauchst zwar die Geräte im Augenblick nicht, aber dein Körper ist immer noch geschwächt.“
Ich nicke ihm zu – das habe ich selbst gemerkt! – und sinke zurück in meine Kissen.
„Dein Problem ist, dass du nicht sterben darfst, weil es für die Ärzte zu teuer wäre“, fasst Mach meine Situation zusammen: „Schließlich hängt die ganze Pharmaindustrie mit drin. Ganz zu schweigen von dem Versorgungsvertrag und dem ganzen Papierkram. Die Lösung wäre, in die Vergangenheit zu reisen und zu verhindern, dass die Maschinen an dich angeschlossen werden.“
Ich reiße die Augen auf: „Also soll ich die Schwangerschaft meiner Mutter abbrechen? Oder meine Eltern vom Sex abhalten? Oder verhindern, dass sie sich überhaupt treffen?“
Mach schüttelt den Kopf: „Denk nicht so kompliziert. Du sollt das Baby töten, dass einmal dein Leben führen wird.“
Ich versuche, mir die Situation vorzustellen. Ich schüttele ein wehrloses Kind zu Tode oder ersteche es. Mir ist nicht so schlecht dabei, wie mir vielleicht sein sollte.
Der große Mann mit dem langen Namen – die Kurzform war Ona, glaube ich – bewegt sich und hebt einen Gegenstand ins Licht. Es ist eine Spritze mit einer blauen Flüssigkeit darin. Mach folgt meinem Blick und erklärt: „Das ist ein spezielles Gift. Es ist sehr selten, und wir konnten nur eine kleine Menge davon mitnehmen. Einem erwachsenen Menschen wird sie nur Magenschmerzen bereiten, doch ein Kind wird daran sterben. Das ist der zweite Grund, warum du so weit zurück musst, denn noch mehr von dem Gift können wir dir nicht geben.“
Langsam realisiere ich, dass ich tatsächlich überlege, mich selbst in der Vergangenheit zu töten. Ich strecke meine Hand aus und nehme die Spritze langsam entgegen. Meine Finger zittern.
„Wie soll ich denn in die Vergangenheit reisen?“, frage ich.
„Das übernehmen wir“, erklärt Mach lächelnd: „Erst einmal musst du dir sicher sein, dass du es wirklich willst. Du kannst gerne Bedenkzeit bekommen, solange du brauchst.“
Ich stelle mir noch einmal vor, wie ich mich selbst töte. Jetzt ist aus der Vision auch das Blut gewichen, stattdessen sehe ich das Baby friedlich einschlafen.
Mir ist überhaupt nicht mehr schlecht.
„Ich will es tun“, sage ich heiser: „Wenn mein Zustand sogar noch schlimmer wird und wenn ich es selbst wünschen werde – dann muss ich es tun.“
Ona wirft mir einen düsteren Blick zu, aber Mach nickt verständnisvoll: „Keine Bedenkzeit?“
Ich schüttele den Kopf: „Jetzt sofort.“
Mach und Ona treten zu beiden Seiten neben mein Bett und legen jeweils eine Hand auf meine Schulter. Ihre Hände sind erstaunlich warm.
„Wir werden dafür sorgen, dass du laufen kannst und keine Schmerzen spürst“, erklärt Mach: „Wir schicken dich in das Krankenhaus, drei Stunden nach deiner Geburt. Du hast ungefähr eine halbe Stunde.“
Ich nicke.
„Das heißt nicht, dass du nicht nochmal nachdenken solltest“, fügt Ona mit grimmiger Stimme hinzu.
Ich nicke erneut.
Dann wird es plötzlich hell um mich.
Als ich die Augen öffne, stehe ich in einem langen, weißen Flur. Durch abgedunkelte Fenster fallen dünne Streifen Sonnenlicht. Hier ist es still. Ich sehe auf einen Kalender an der Wand, der die trostlose Atmosphäre aufhellen soll: Es ist mein Geburtsjahr.
Aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass ich bereits auf der Intensivstation liege, und dass mein Vater in wenigen Tagen in diesem Krankenhaus an der gleichen Krankheit sterben wird, mit der ich jetzt lebe. Meine Mutter liegt jetzt in Zimmer 13. Die Nummer kam ihr wie eine Warnung vor, damals – heute. Doch ich habe nicht vor, sie zu treffen. Ich vermisse sie, sicher. Aber es soll ungesund für die Trauerbewältigung sein, der Vergangenheit zu sehr anzuhängen. Außerdem habe ich wenig Zeit, und ich möchte auf keinen Fall zu spät kommen und weiterleben müssen. Auch jetzt noch spüre ich meine Schmerzen, die nur wie durch Morphine gedämpft sind.
Ich öffne lautlos die Tür direkt vor mir. Hier liegt nur ein Kind, und der Glaskasten ist bereits von einem Pulsoximeter, EKG-Gerät und Beatmungsmaschinen umgeben. Es sind noch nicht die Geräte, die mich mein Leben lang begleiten werden, sondern die Standardausrüstung des Krankenhauses. Trotzdem schon das gleiche Piepen, Schnaufen und Surren.
Ich bin ein bisschen überrascht, einen Mann neben dem Kind vorzufinden. Er trägt keine Arztkleidung, sondern scheint selbst ein Patient zu sein. Er hängt an einem Tropf und trägt eine Atemmaske. Dumpf höre ich die Pumpgeräusche eines mechanischen Herzens.
Ich nähere mich dem Mann, bis er mich bemerkt und sich umdreht. Das ist also mein Vater. Er sieht müder aus als auf den Fotos, die ich von ihm gesehen habe. Und er weint.
„Das ist mein Sohn“, erklärt er mir und deutet auf mich als Baby. Ich werfe einen kurzen Blick auf meine geschlossenen Augen. Ich habe einen verkniffenen Gesichtsausdruck. Schon jetzt ist es anstrengend für mich, zu atmen. Warum kämpfst du noch, Kleiner?, möchte ich fragen.
„Er hat meine Krankheit geerbt“, erzählt mein Vater weiter: „Ich war so glücklich, dass ich Vater werde. Jetzt weiß ich, dass er sein Leben lang genauso leiden wird wie ich. Vielleicht auch mehr.“
Ich trete schweigend neben den gebrochenen Mann, der das Kind betrachtet: „Es ist ungerecht, dass die Erreger vererbbar sein können“, sage ich leise.
„Gegen die Natur“, sagt mein Vater mit einem trockenen Lachen: „Ich sehe, du kennst dich aus. Ich denke, es ist die Strafe dafür, dass unsere Neugier uns weiter ins Weltall trieb.“
Mein Vater war ein Astronaut. Einer der ersten, die diese Krankheit bekamen. Deshalb sind ihm auch unzählige Organe entnommen worden, in dem Versuch, die Krankheit einzudämmen. Erst später wurde klar, dass das vollkommen sinnlos ist, denn das Virus arbeitet sich schnell in die DNA ein.
Mein Vater legt die Hand an die Glasscheibe: „Hätte ich das gewusst, hätte ich niemals ein Kind gezeugt“, sagt er voller Reue: „Ich würde mir so gerne vorstellen, dass er einmal glücklich wird. Doch so … sein ganzes Leben wird eine einzige Qual sein.“
Er spricht nicht weiter. Ich spüre einen dicken Klos im Hals. Der Raum ist durch kaltes Neonlicht und die Lampen der Maschinen erhellt. Wir sehen beide auf dieses Kind, dass um jeden Atemzug ringt. Ich spüre den Druck auf der Lunge, den ich niemals verlieren werde. Jeder Atemzug ein Kraftakt. Ein Kampf. Ich habe sogar versucht, einfach aufzuhören, doch ein Mensch kann sich nicht selbst ersticken. Meine dummen Reflexe retten mir jedes Mal das Leben.
Die Spritze in meiner Hand ist kalt. Ich möchte nur warten, bis mein Vater gegangen ist. Wie auf ein Zeichen klopft es und eine Schwester sieht in den Raum: „Herr Mayfever? Hier sind Sie! Sie müssen sich auf die OP vorbereiten.“
Mein Vater nickt und steht auf: „Ich komme.“
Die Schwester versteht den Wink und geht. Ein letztes Mal beugt sich mein Vater über seinen Sohn.
Ich weiß, wohin er gleich geht. Die OP ist nur ein Routineeingriff, ihm müssen regelmäßig Stenosen beseitigt werden. Doch diesmal wird er sich nicht erholen. Nach der OP wird sein Herz einfach den Dienst verweigern. Vielleicht aus Trauer darüber, seinen Sohn niemals glücklich zu sehen.
„Viel Glück“, wünsche ich ihm höflich und würde ihn am liebsten in den Arm nehmen. Doch ich bin ja ein Fremder für ihn, eine Zufallsbegegnung.
Dann öffnet mein Vater plötzlich den Deckel an dem Glaskasten. Ich möchte aufschreien, doch ich halte mich zurück. Das Kind ist schon krank, und es gibt keinen Grund, meinen Vater vor der Krankheit zu schützen.
Ich beobachte schweigend, wie der große Mann das Baby, das ich bin, sanft hochhebt und ihm einen Kuss auf die Stirn drückt. Ich glaube sogar, seine feuchten Tränen auf meiner Stirn spüren zu können. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
„Ich liebe dich, mein Sohn“, sagt der todkranke Mann zu dem todkranken Baby.
Und das Kind lacht fröhlich und streckt die Hände nach dem Mann aus, der es kurz an sich drückt, bevor er es zurücklegt. Der Glasdeckel wird leise geschlossen.
Mir wird kalt und warm. Das Lachen hallt in meinen Ohren nach. Plötzlich brennen meine Augen. Ein Gefühl steigt aus meinem Magen nach oben, zwängt sich schmerzhaft durch meinen Hals. Trauer? Eher Glück.
Ich lächele: „Wir sind nicht nur die Krankheit, die unser Leben bestimmt.“
„Was?“, mein Vater wollte schon gehen, doch jetzt dreht er sich um, als würde er mich jetzt erst bemerken: „Kenne ich Sie?“
Ich ignoriere die Frage und schaue ihm tief in die Augen. Er muss mich für wahnsinnig halten. Gleichzeitig laufen mir Tränen aus den Augen und ich grinse: „Ein einziger Moment des Glücks kann ein Leben voller Qual aufwiegen. Tausende Tränen sind vergessen durch ein einziges Lächeln. Wenn ein Kind auch nur eine Stunde glücklich ist, war sein Leben nicht vergebens.“
Mein Vater erstarrt. Ich sehe es auch in seinen Augen verräterisch glitzern. Ich erinnere mich jetzt an viele Momente, die ich verdrängt hatte.
„Ihr Sohn wird glücklich sein. Und dann spielt es keine Rolle, dass er auch leidet.“
Mein Vater sieht mich an wie einen Heiligen: „Danke.“, flüstert er, bevor er geht. Ich habe ihm glatt die Sprache verschlagen. Als die Tür zu fällt, falle ich auf die Knie. Ich weine, und zwar so heftig, dass ich mich für eine Zeit, die endlos erscheint, nicht rühren kann. Nur drei Worte stoße ich immer und immer wieder hervor, als könnte ich sie nicht glauben: „Ich bin glücklich!“
Irgendwann fällt die Spritze mit dem Gift aus meinen Händen und rollt unter eine Maschine und damit außer Sicht.
Dann wache ich in meinem Bett auf. Das Zimmer ist leer. Der Lärm ist wieder da. Schnaufen, Surren und Piepen. Und die Schmerzen sind so allgegenwärtig wie immer.
War es alles nur ein Traum?
Was es auch war, Traum oder Geschenk oder Chance, es hat eine reale Auswirkung auf mich.
Ich weiß, mein Leben ist nicht nur Krankheit. Ich habe die Wahl, ob ich mich von den Schmerzen besiegen lasse, oder ob ich trotzdem kämpfe.
Und ich will dieses Leben.