~ Genre: Superhelden, Beziehung ~
In dem Moment, bevor er klingelte, wäre er beinahe wieder abgedreht. Er konnte das nicht, schoss es ihm durch den Kopf. Er würde etwas falsch machen, und dann wäre alles nur noch schlimmer. Es war schon albern, dass er hier stand, ohne selbst zu wissen, was er wollte.
Er wollte sie, das stimmte. Aber er wusste, dass das nicht funktionieren würde. Und trotzdem wollte er ihr alles erklären.
Er wollte ihr die Wahrheit sagen.
Ehe er sich aufhalten konnte, hatte er geklingelt. Der melodische Ton war auch im Vorgarten zu hören. Er drehte den Hut in den Händen. Hoffentlich war sie nicht zuhause. Oder sie sah ihn durch den Türspion, den heruntergekommenen Landstreicher auf den Stufen zur Tür, und jagte ihn fort.
Sie öffnete und sah ihn irritiert an: „Ja?“
„Ähm. Hi“, sagte er. Sie war wunderschön. Der Wahnsinn. Er starrte sie an wie einen wilden, kastanienbraun gelockten Engel, der plötzlich in seiner persönlichen Hölle gelandet war.
Ihr Blick war immer noch kalt. Ungeduldig. Sie wollte ihn nicht hier haben, war aber zu höflich, um ihn einfach zu verjagen.
„Hab ich noch was von dir?“, sie war trotzdem kurz davor, die Tür zu schließen.
„Nein, ich – ich wollte mit dir reden. Mich entschuldigen.“
Sie wartete.
Er schluckte: „Du – du musst mir nicht verzeihen. Ich – ich dachte mir, ich erkläre dir, was passiert ist. Wer ich bin. Damit – damit du das Warum verstehst.“
Sie öffnete die Tür und verschränkte die Arme vor der Brust: „Ich hoffe, du willst nicht auf einen Kaffee reinkommen – da muss ich dich enttäuschen.“
„Ich brauche nicht lange“, sagte er schnell. Was tat er hier? Er atmete tief durch: „Ich – ich habe das noch Niemandem gesagt. Aber ich habe ein … Talent. Eine Superkraft. Nur, dass sie nicht super ist. Überhaupt nicht.“
Sie schwieg. Wartete darauf, dass er weiter redete.
„Ich kann Dinge zerstören“, sagte er frei heraus. Er sah in ihre Augen, konnte ihre Meinung nicht lesen.
„Das ist … wie ein Schub oder ein Wahn. Wenn ich wütend bin, bin ich stark.“
Wie zur Demonstration ballte er die Faust, öffnete sie wieder, starrte auf seine gekrümmten Finger.
„Ich – ich kann fast alles zerstören. Nur ganz selten traf ich auf Metall, das zu stark war. Oder – oder manche Steine. Aber es funktioniert fast immer. Ich – ich kann es nur nicht kontrollieren. Wenn ich wütend bin, geht eigentlich immer etwas kaputt. Und da ist … so viel … Aggression in mir.“
„Deswegen die wenigen Möbel, ja?“, fragte sie. Kühl. Distanziert.
Er nickte: „Es geht alles kaputt. Ich kann alles zerstören, ob ich will oder nicht. Tassen, technische Geräte, Pflanzen. Und – und Beziehungen.“
Sie hob eine Augenbraue.
„Ich kann nicht auf die Gefühle anderer Menschen reagieren. Ich fühle keinen Schmerz, aber auch kein Mitleid, keine Sorgen. Und … und auch keine Liebe. Niemand hat es lange mit mir ausgehalten. Ich bin einfach ein tauber Lehmklumpen. Das Gespräch hier – ich musste mir alles vorher überlegen. Wenn du wüsstest, wie viele Bücher ich gewälzt habe, damit ich nichts Falsches sage! Ich kann nicht spontan sein.“
Er konnte auch ihre Reaktion nicht lesen. Es war verwirrend. Ihr Gesichtsausdruck schien wie eine neue, fremde Sprache zu sein, irgendwas zwischen allem, was ihm bekannt war.
„Ich … ich bin ein schrecklicher Mensch. Ich will nur nicht, dass du dich meinetwegen schlecht fühlst. Ich habe ein Talent dazu, Menschen kaputt zu machen, weißt du?“
Sie trat auf ihn zu. Er rechnete damit, dass sie ihn schlagen würde und zuckte zurück, als ihre Hand sich seinem Gesicht näherte.
Doch sie strich bloß über seine Wange, so sacht, dass er es nicht wahrnehmen konnte und nur wusste.
Dann sah er eine Träne, die sie weinte.
Sie küsste ihn. Und von einem Moment auf dem anderen war da so viel, Farben und Licht, das er niemals gekannt hatte. Auf einmal merkte er, wie sein Herz schlug, er roch den Frühling und den gemähten Rasen.
Als sie zurück trat, blieb er im Himmel. Sie weinte.
„Warum bist du verzweifelt?“, fragte er. Dann berührte er seine Brust: „Was hast du getan?“
Sie lächelte unglücklich: „Ich habe auch eine Kraft. Ich kann Menschen fühlen lassen, was ich fühle. Es tut mir leid. Es wird in ein paar Stunden vorbei sein.“
Er lauschte in sich hinein. Ja, das waren Gefühle. Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, gefühlt zu haben. Damals. Vor seiner Gabe.
Er fühlte Trauer. Ein wenig Mitleid. Und Liebe. Eine große, starke Liebe.
Er sah auf: „Ich liebe dich!“
Sie trat zurück: „Das sind meine Gefühle. Es tut mir leid, ich hatte kein Recht – du kannst in ein paar Stunden zurück kommen. Wenn du weißt, was du wirklich für mich empfindest.“
Sie wich hinter die Tür zurück, ängstlich, hoffnungsvoll, reuig.
„Verzeih mir.“
Er griff ihre Hand: „Nein. Ich weiß, dass ich dich liebe. Deswegen bin ich hier. Ich bin keinem anderen Menschen je hinterhergelaufen. Ich habe niemals für Jemanden gekämpft, nur für dich. Ich – ich wollte, das du glücklich bist. Will es immer noch. Das sind meine Gefühle!“
Plötzlich kamen die Worte ganz natürlich, intuitiv, über seine Lippen. Ohne, dass er sie planen musste.
Plötzlich sprach er die Sprache richtig, denn zum Sprechen gehörte Gefühl.
„Ich liebe dich“, wiederholte er, ihre Hand loslassend: „Ich werde tun, was immer du sagst, aber ich weiß, dass ich dich liebe.“
Er sah sie an. Der Gedanke, sie verlassen zu müssen, wollte seine Brust schier zerspringen lassen. Er lauschte ihrem Gefühlschaos nach, bevor es verblasste und ihn vielleicht für immer verließ. Angst, Enttäuschung, Liebe, Bitternis, so vieles, das durcheinander wirbelte. Sie fürchtete sich davor, verletzt zu werden. Und sie war verletzlich, weil sie ihn liebte. Genauso stark hatte er sie geliebt, doch ohne die Liebe fühlen zu können, hatte er sie nicht in Worte fassen können.
Sie trat auf ihn zu: „Geh nirgendwo hin.“
Sie fiel um seinen Hals. Weinte. Er schloss sie in die Arme.
Er hatte seinen Engel gefunden. Nein, niemals würde er sie verlassen.