Niemand wird je ermessen können, wie sehr ich an diesem Tag zu leiden hatte. Es war grausam, es war die reinste Folter. Mrs Gartenzwerg hatte alle Lehrer dazu angestiftet, mich genau zu bewachen. Ich war gezwungen, den ganzen Unterricht abzusitzen, mit nur gelegentlichen lächerlichen Pausen von höchstens 15 Minuten, in denen ich noch nicht einmal rüber in die Bäckerei durfte. Kein vernünftiges Essen, keine Torte, keine Massage, keine Sauna, kein Schwimmbad. Ich hatte kaum Gelegenheit, mich ein wenig zu schminken und Entspannungsübungen zu machen, als ich schon wieder in den Unterricht musste. Dabei war der Unterricht für mich völlig überflüssig, ich wusste ja schon alles. Aber die Lehrer teilten diese Meinung nicht. Alle hatten sich gegen mich verschworen; sogar die Mitschüler, die nur über mich lachten. Wo war ich da gelandet? Was für ein asoziales Pack war das?
Ich wusste, wo das Problem lag, warum sie so gemein zu mir waren: Ich war einfach zu gut. Ich war besser als die Lehrer, hübscher als die Schülerinnen, und die Jungs hielten mich wahrscheinlich für ein Phantom, ein Traumbild. Vielleicht dachten sie auch, dass ich mich selbst wehren konnte, da ich wirklich stark und gewitzt bin, aber manchmal wäre auch ich für ein wenig Hilfe dankbar. Es war der Fluch des Perfektseins, der mich verfolgte.
Der Einzige, der sich um mich bemühte, war ausgerechnet Eddy. Er kaufte mir einen Kaffee und ein Stück Kuchen, das ich dankbar annahm, doch für die Konversation, die mir so dringend fehlte, war er nicht geeignet. Staunend beobachtete er meine Gymnastikübungen. Dass er mich so bewunderte, lag wahrscheinlich daran, dass er zu dumm war, um eifersüchtig sein zu können.
Endlich kam mir die Idee, den netten Polizisten von gestern anzurufen. „Ja, guten Tag, hier ist Grazielle Anastasia Belle Amelie Aurelia Mary Rose Sue de Cygne von Undzu. Sie haben mich gestern so nett aufs Revier eingeladen, erinnern Sie sich?“
„Was? Ach …“ Schweigen. Offenbar war er ganz baff, dass ich mich tatsächlich noch mal meldete. „Du bist das?“
Ich lachte herzlich. „Ja, genau. Ich möchte mich gerne noch einmal bei Ihnen für die Gastfreundschaft bedanken. Leider bin ich in eine schreckliche Situation geraten, man hat mich eingesperrt.“
„Ach ja? Wo denn, wer denn?“
„In der Schule. Meine Klassenlehrerin hat alle gegen mich aufgehetzt. Ich darf das Schulgelände nicht verlassen, muss in jede einzelne Unterrichtsstunde gehen, noch nicht einmal eine Pause bekomme ich!“
„Äh, ihr habt keine Pausen?“
„Nun ja, es gibt da so kurze Unterbrechungen, die sie so nennen, aber die sind lächerlich. Bitte, bitte, helfen Sie mir! Ich gehe hier zugrunde!“ Ich weinte ein bisschen. Schade, dass er nicht sehen konnte, wie malerisch schön und zugleich unendlich tragisch die Tränen von meiner zarten Nase herabtropften.
„Ah ja. Sicher, ich schicke gleich jemanden vorbei.“
Mir fiel ein ganzes Gebirge vom Herzen. „Oh danke, danke, ich stehe für immer in Ihrer Schuld!“
„Keine Ursache.“ Er klang ein wenig erstickt, bevor er auflegte. Wahrscheinlich musste er auch weinen.
Sicher dauerte es nicht lange, bis ein ganzes Polizeikommando zu meiner Rettung einschreiten würde. Journalisten würden sich meiner annehmen und schon morgen würde ein Bericht in der Zeitung erscheinen: „Schülerin unschuldig gefangen gehalten – Verantwortliche in Gefängnis“. Die Lehrer und ihre Mithelfer würden ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, und die Welt insgesamt wurde eine Spur besser, so dass ich meinem Traum, der Welt den Frieden und das Glück zu bringen, ein ganzes Stück näher kam. Die Schule würde von guten Menschen übernommen werden, die weniger Wert auf Mathematik und Rechtschreibung und dafür umso mehr auf die wirklich wichtigen Dinge wie Nächstenliebe und Gesundheit und Umweltschutz legten.
Es zog sich hin, bis die Polizei kam. Ich begann mich zu wundern, was los war. Na ja, vermutlich waren die Polizisten so fertig, dass sie erst noch länger weinen mussten. Ich hatte ja gehört, wie der Beamte geklungen hatte, und auch im Hintergrund hatte ich seltsame Geräusche vernommen. War das zu viel für die Polizei gewesen? Ich bekam fast schon ein schlechtes Gewissen, aber schließlich war es ja die Aufgabe der Polizei, armen Leuten zu helfen. Mir ging es ja viel schlechter als ihnen, denn ich hörte nicht nur von meinem Elend, ich erlebte es.
In der nächsten Pause sprach mich Eddy an: „Äh, alles in Ordnung?“
Ich lächelte ihn mutig an. „Eddy, würdest du mir einen Gefallen tun?“
„Klar.“
„Könntest du mal nachsehen, ob irgendwo in der Nähe ein Polizeiauto steht? Sie müssten eigentlich jeden Moment kommen.“
„Ehrlich?“, fragte er mit großen Augen. Eddy war so naiv, er hatte noch nie irgendetwas Interessantes gesehen. Ich verzieh ihm daher auch die sexuelle Belästigung. Wahrscheinlich hatte er noch nie eine Frau in Unterwäsche gesehen (geschweige denn natürlich eine so attraktive wie mich). Welche Frau würde ihn denn schon wollen?
„Ja, ehrlich, ich bin gut mit ihnen befreundet. Sie werden mich hier rausholen. Du musst dir keine Angst um mich machen.“
„Aber wenn die dich holen, dann sehn wir uns ja nicht mehr. He, darf ich mitkommen?“
„Äh, also weißt du … die sind da 'n bisschen komisch, die laden nur persönliche Freunde ein.“ Ich wollte ihn ja nicht vor den Kopf stoßen, aber so war es nun mal.
„Oh, verstehe. Du bist berühmt und so, nicht?“
Ich lächelte ihn liebevoll an. „Ja.“
Eddy war beeindruckt. Er stapfte weg, auf den Ausgang zu. In die Freiheit, die mir verwehrt wurde.
Ich stand da, verlassen von allen. Ich musterte die Schüler um mich herum. Niemand schenkte mir einen bewundernden Blick. Das war seltsam.
Ich zog den Spiegel aus der Tasche. Ja, ich sah nicht so gut aus wie sonst. Die mangelnden Gelegenheiten zur Körperpflege waren deutlich sichtbar. Die Gefangenschaft hatte ihre Spuren in mein Gesicht gegraben.
Eddy kam zurück. „Niemand da.“
Was war nur los? Was war denn wichtiger, als mir zu helfen?
„Eddy?“, fragte ich. „Hättest du Lust, mir einen Anwalt zu bezahlen?“
„Was fürn Ding?“
Herrgott nochmal, kannte der gar nichts?
„Einen Anwalt. Das ist jemand, der sich für die Gerechtigkeit einsetzt. Keine Sorge, ich regele alles, du müsstest nur das Geld borgen.“
„Oh. Klar, mach ich.“
Das war einfach. Er fragte nicht einmal nach den Kosten. Wenn Eddy nicht so dumm und so hässlich gewesen wäre, wäre er wirklich eine gute Partie. Er bewunderte mich. Natürlich war ich freundlich zu ihm, wie ich es zu allen bin, aber dass er so roch und so hässlich aussah, machte es mir schwer, seine Gegenwart zu ertragen.
Eddy telefonierte mit verschiedenen Anwälten und beschrieb ihnen den Fall. Sie lehnten ab. Da er mein Problem offenbar nicht ernst genug geschildert hatte, nahm ich ihm den Hörer ab und erzählte es ihnen selbst. Leider wurden sämtliche Verbindungen unterbrochen.
Auch das noch! Jetzt herrschte auch noch Stromausfall!
In meiner tapferen Art biss ich meine schönen, symmetrischen Zähne zusammen und ertrug zwei weitere Unterrichtsstunden klaglos. Irgendwann musste doch das Telefon wieder gehen, die Polizei musste ihre eigenen, sicher weniger wichtigen Probleme in den Griff kriegen und sich um mich kümmern.
Am Nachmittag packte ich erleichtert zusammen, aber die Folter ging noch weiter, denn Mrs Gartenzwerg, die böse Hexe, hatte angeordnet, dass ich nachsitzen sollte. Diese Frau sah schon so überaus ordinär aus und dazu strahlte sie eine Bösartigkeit aus, die einem sanften Wesen wie mir noch nie begegnet war und die mich fertigmachte, denn ich kann solcher Bösartigkeit nichts entgegensetzen. Es ist mir unbegreiflich, warum die Menschen so gemein zueinander sind. Warum gibt es Kriege? Warum gibt es Schönheitswettbewerbe und Castingshows? Geht es immer nur um Äußerlichkeiten? Warum können wir nicht alle friedlich miteinander leben? Es ist der Neid, der die Herzen der Menschen so sehr verdirbt. Sobald sie einen schönen Menschen sehen, sind sie böse gegen ihn. Dabei war es mir doch völlig gleichgültig, wie hässlich sie waren und wie niedrig ihr IQ war. Nur weil ich so schön und klug und stark und schlagfertig war, war ich doch nicht oberflächlich!
Die Schule verging, ohne dass die Polizei zu meiner Rettung kam. Dafür konfiszierte die alte Hexe auch noch mein Handy. Glücklicherweise besaß Eddy noch eins. Eddy stand mir den ganzen Tag über treu zur Seite. Dabei hätte ich doch ganz andere Freunde verdient, ich bin doch hübsch und liebevoll und intelligent und schlagfertig!
Eddy versprach, sich für mich einzusetzen und die Anwaltsbüros einzeln abzuklappern. Als wir die Schule verließen – ich war mehr tot als lebendig und sah schrecklich aus, weil ich keine Zeit zur Schönheitspflege gehabt hatte – stand mein Vater bereits vor der Tür.
„Daad!“, rief ich heroisch und warf mich in seine Arme. Sicher, wir hatten gestritten, er hatte sich mit den Lehrern gegen mich verbündet, aber wenn er erfuhr, was mir angetan worden war, würde er doch zu mir halten! Er war schließlich mein Vater und er musste mich lieben und bewundern!
„Na?“, sagte er.
„Daad, du ahnst nicht, was man mir angetan hat! Sie haben mich gefangen gehalten, gefoltert, beraubt, misshandelt, versucht zu manipulieren und mich der Gehirnwäsche zu unterziehen …“
Er machte sich von mir los. „Wenn du meinst, dass du das Schulgelände nicht mehr verlassen darfst, nun, das hast du dir selbst zuzuschreiben. Und was meinst du mit beraubt?“
Ich sah ihn entsetzt an. Ich riss meine wunderschönen Augen weit auf, was sie sicher noch schöner werden ließ, und blickte ihn mit wahrem Entsetzen an.
„Du willst doch nicht etwa sagen, dass du mit ihnen verbündet bist? Du hast sie angestiftet, mich zu foltern?“
Er verdrehte die Augen. Ich sagte ja, dass er hin und wieder wahnsinnig ist.
„Ich bin sicher, dass dich niemand gefoltert hat. Nun stell dich nicht so an, wenn du den Morgen in der Schule statt im Schönheitssalon verbringen musst.“
Das war es also. Mein eigener Vater war gegen mich. Doch mein Entsetzen wich bald dem Mitleid, denn ich wusste, dass er nichts dafür konnte. Er war ein armer, verwirrter Mann. Ich musste eine gute Psychiatrie für ihn suchen, am besten eine in Thailand, da war es schön warm. Natürlich konnte sich niemand besser um ihn kümmern als seine eigene Tochter, doch ich hatte mit Schönheitspflege, Intelligenzförderung und sozialem Engagement bereits sehr viel zu tun. Aber natürlich würde ich ihn regelmäßig besuchen. Mindestens einmal im Jahr. Und an den Feiertagen natürlich sowieso.