Der Rest des Tages verlief so ähnlich wie der Anfang. Die Gefangenschaft setzte sich fort, nur an einem anderen Ort. Am Telefon schilderte ich meiner Mutter mein Elend, aber sie schien es nicht zu begreifen. Sie gab mir nur nutzlose mütterliche Ratschläge wie „Wird schon nicht zu schlimm sein“ und „Das schaffst du schon“. Ich weiß, was das Problem war: Meine Mutter überschätzte mich ein wenig, weil ich zugegebenermaßen sehr intelligent und zäh war. Sie konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass ich mit der Situation nicht klarkam.
Da ich die Hausaufgaben innerhalb von drei Minuten erledigt hatte, in weiteren zwei Minuten das Haus geputzt und meinem Vater das Essen gekocht hatte, blieb mir den Rest des Tages nichts mehr zu tun, da ich ja nicht raus durfte. Mein Vater hat nur circa 100 Bücher im Haus und ich hatte nur meine 500, die ich allesamt schon gelesen hatte, mitgebracht. Natürlich hätte ich es wie mein Vater machen können und mir die Zeit mit Fernsehen vertreiben können, aber zu so etwas Ordinärem wie Fernsehen wollte ich selbst jetzt nicht zurückgreifen. Ich bin der Ansicht, dass Fernsehgucken die Gehirnzellen abbaut, und ich brauchte sie alle, um mir einen Fluchtplan zu überlegen.
Ich war fast erleichtert, als mein Vater mich am nächsten Morgen vor der Schule absetzte. Wenigstens konnte ich mir hier Eddys Handy leihen. Er wartete schon am Schultor auf mich und strahlte über sein ganzes hässliches Gesicht, so dass sogar seine schrecklichen Zähne zum Vorschein kamen.
„Hi, Bell“, sagte er. „Trinkst du mit mir einen Kaffee?“
„Oh, liebend gern …“, fing ich an, aber Mrs Gartenzwerg war schon hinter einer Ecke hervorgetaucht. „Das könnt ihr mal bis zur Pause verschieben, ja?“, sagte sie gehässig. Je öfter ich sie sah und je näher ich sie betrachtete, desto hässlicher fand ich sie. Es war nicht nur ihr ordinäres Aussehen und der Mangel jeglicher Körperpflege, sondern vor allem ihre herzlose, böse Art.
„Sie ist eine richtige Hexe“, sagte ich, als sie sich abgewandt hatte.
Eddy riss seine Augen auf. Ich kniff meine schnell zusammen, denn Eddys Augen sind sehr hässlich. „Ehrlich?“, fragte er. „Aber sie hat keine spitzen Eckzähne.“
„Wieso sollte sie spitze Eckzähne haben?“
„Hexen haben spitze Eckzähne.“
Ich seufzte. Der gute Eddy warf mal wieder alles durcheinander. Abgesehen davon, dass es natürlich in Wirklichkeit keine Hexen gab – Mrs Gartenzwerg war einfach eine bösartige, widerwärtige Frau – verwechselte er auch noch Hexen und Vampire.
„Ich meinte nicht wirklich Hexe. Das war nur eine Metapher für eine sehr böse, hässliche Frau. In Wahrheit gibt es keine Hexen.“ Wenn er nicht so hässlich ausgesehen und so scheußlich gerochen hätte, hätte ich ihm gern den Arm getätschelt. „Die mit den spitzen Zähnen sind übrigens die Vampire. Das sind Untote, die den Menschen das Blut aussaugen. Aber keine Angst, sie gibt es auch nicht.“
„Doch, die gibt es. Aber Hexen haben auch spitze Zähne. Und sie sabbern.“
Er WIDERSPRACH mir? Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Glaubte der etwa, er wäre besser als ich? Ich war doch viel, viel hübscher! Na ja, aber er war eben noch sehr kindisch. Ich jedenfalls hatte jetzt keine Zeit mehr, es ihm zu erklären, denn es läutete bereits. Sollte sich ein Lehrer um ihn kümmern, die waren ja dafür da.
Ich ertrug zwei Stunden Unterricht völlig klaglos. Ich schrieb sogar ein paar Wörter mit, damit sie mir nichts tun konnten, obwohl es völliger Unsinn war. Ich hätte den Unterricht selbst halten können, besser als die Lehrer war ich allemal.
Nach diesen zwei Stunden faltete ich mein Heft zu einem Fächer und wedelte mir Luft zu. Eddy stand bereits vor der Tür und wartete auf mich.
„Oh, Eddy, kannst du bitte schon mal den Kaffee besorgen? Und wenn du so lieb wärst, nach einer guten Psychiatrie zu suchen, wär echt toll. Für meinen Vater. Ich hab gerade keine Zeit, muss mich frisch machen.“
Ich ging in die Mädchentoilette. Es war eine Zumutung, es stank und die Türen waren beschmiert mit niveaulosen kryptischen Sprüchen wie „L und M“ und „I <3 you“ und „bmaw“. Außerdem roch es nach Zigaretten.
„Ihr wisst schon, dass ihr nicht rauchen dürft? Packt die Zigaretten weg, das ist ungesund und schlecht für die Haut“, ermahnte ich die beiden Mädchen, die vor dem Waschbecken hingen.
Sie kicherten idiotisch und tuschelten etwas miteinander.
„Könntet ihr das bitte lauter sagen, damit ich es auch höre? Ich finde es sehr ungerecht, hinter dem Rücken eines anderen zu lästern, wenn es das ist, was ihr tut. Wenn ihr etwas Freundliches sagt, könnt ihr mir es gerne so sagen, dass ich es verstehe.“
„Du hast es nötig“, sagte das eine Mädchen. Rotzfreche Göre.
„Wie meinst du das? Warum, glaubst du, habe ich so einen schönen, makellosen Teint?“ Ich warf einen Blick in den Spiegel und erschrak. „Wobei du recht hast, ich muss dringend mein Make-up erneuern.“ Ich schob sie freundlich zur Seite und packte meine Schminksachen aus.
„Es wäre mir sehr recht, wenn ihr nicht rauchen würdet. Das schadet meinem Wohlbefinden und meiner Gesundheit.“
Sie kicherten nur. Wütend packte ich meine Sachen und suchte mir einen anderen Ort. Was für Verhältnisse herrschten hier nur! Heruntergekommene, Asoziale, Randalierer, Kriminelle!
Die Toiletten waren alle besetzt. Am Ende setzte ich mich auf den Schulhof und schminkte mich nur mithilfe meines kleinen Handspiegels. Ich sah wirklich scheußlich aus. Für meine Verhältnisse, versteht sich. Für andere ist das immer noch sehr attraktiv, aber wer mich kannte, wusste, dass ich ziemlich heruntergekommen war. Plötzlich sah ich im Spiegel etwas, was mich von meinem verhärmten Gesicht ablenkte. Ich drehte mich blitzschnell herum, aber er war schon wieder weg. Stattdessen blickte ich in Eddys Fratze.
„Äh, Belle“, fing er an.
Ich schob ihn ungeduldig zur Seite und sprintete dem schönen jungen Mann, den ich gesehen hatte, hinterher. Ich suchte alles ab, aber er war weg. Dabei war ich mir sicher, dass ER es gewesen war. Der Traumprinz, den ich im Massagesalon gesehen hatte. Wie konnte er weg sein? Immer, kurz bevor ich ihn persönlich traf. Konnte er sich in Luft auflösen? Und sah er mich denn nicht?
„Wo liegt denn Thailand?“, fragte eine Stimme hinter mir. Eine unangenehme Stimme. Ich seufzte. Eddy würde ich wohl nicht mehr loswerden.
„Thailand liegt in Südostasien. Aber es muss nicht Thailand sein, es kann auch Vietnam oder Sibirien oder was auch immer sein.“ Warum nicht Sibirien? Da war es zwar nicht so warm, aber die Natur war gewaltig und es gab alle möglichen wilden Tiere. Mein Vater würde es mögen.
„Hä? Wo isn das?“
Ich seufzte abermals. „Weit weg.“ Da war wahrscheinlich das Einzige, was er verstehen würde. Ich glaubte mittlerweile nicht mehr, dass Eddy irgendeine Vorstellung von der Erde hatte. Er wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, dass sie eine Kugel war und dass sich die Sonne um die Erde drehte statt umgekehrt.
„Echt?“, fragte er. „Ich komm auch von weit weg.“
Ja, offensichtlich vom Mond.
„Da, wo ich herkomme, sind ganz hohe Berge und es ist kalt“, redete Eddy ungefragt weiter.
„Ja, sicher, Eddy“, sagte ich. Er brauchte auch einen Psychiater. Oder auch nicht, es hatte sowieso keinen Sinn. Gottlob läutete es und mir blieben weitere Ausführungen erspart.
In den nächsten Stunden überlegte ich, wer mein mysteriöser Traumprinz war. Wenn er auf diese Schule ging, musste ich ihn doch irgendwo irgendwann noch einmal sehen? War er noch Schüler? So wie er aussah, hatte er das Zeug zum Direktor. Aber er konnte nicht der Direktor sein, denn das war ein alter, unsympathischer Mann. Vielleicht ein Vertrauenslehrer oder ein Sportlehrer? Vielleicht hatte er mich ja auch im Massagesalon gesehen und war mir nachgegangen. Er traute mich nur nicht anzusprechen, sondern beobachtete mich im Stillen. Ich lächelte selig. Er war ohne Zweifel ein schöner Mann, aber ich war ja genauso schön. Und vielleicht war er auch so bescheiden wie ich und war sich seiner Schönheit gar nicht bewusst. Wir waren uns beide so ähnlich und fanden nicht zueinander. Süß.