Langsam dämmerte ich aus einem tiefen Schlaf. Da war doch etwas gewesen, etwas ganz Wunderbares. Ja! Die Hochzeit mit Eleaouniaoiuosiu! Oh Gott, hoffentlich hatte ich nicht zu lange geschlafen. Eleaouniaoiuosiu wartete doch in der Verwunschenen Grotte mit einem romantischen Candlelight-Dinner auf mich. Auf einmal machte er sich schon Sorgen!
Ich schlug die Augen auf. Es war so dunkel hier. Seltsam. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass ich in das Boot gestiegen war und Holly, die kleine Zahnfee, mich übers blaue Meer geführt hatte.
Das hier war aber kein Boot. Ich tastete herum. Kalte Steinwände. Das musste schon die Grotte sein. Aber wo war Eleaouniaoiuosiu? Und Holly?
„Holly?“, fragte ich. „Wo bist du, meine liebe kleine Freundin?“ Keine Antwort.
„Eleaouniaoiuosiu?“
Ich stand auf und tastete mich vor.
„Bell!“, rief eine begeisterte Stimme. Sie klang irgendwie nicht nach Eleaouniaoiuosiu. Und auch nicht nach Holly.
„Eleaouniaoiuosiu?“, fragte ich unsicher.
„Was für ’n Ding?“
Dann erschien eine Fackel und tauchte eine Gestalt ins Licht.
Mit einem entsetzten Schrei stolperte ich und fiel hin.
....
Ich tat mir am Gesäß weh, aber ich spürte es kaum. Ich habe ein sehr zartes, empfindliches (und übrigens auch sehr attraktives!) Gesäß und spüre normalerweise jeden Windhauch dort, doch in diesem Moment war der Schock so groß, dass ich die Verletzung gar nicht wahrnahm.
Die Gestalt beugte sich zu mir herunter. Gruselige verrotzte Augen blickten mir aus einem Gesicht entgegen, das eine einzige Landschaft aus Pickeln und Narben war.
„Eh, Bell, ich bin so froh, dass wir dich von den doofen Albis befreien konnten. Jetzt können wir endlich heiraten.“
„Eddy“, hauchte ich entsetzt. „Das ist ein Irrtum. Ich bin bereits verlobt.“
Er grinste nur noch breiter. Oh Gott, ich hatte vergessen, wie furchtbar seine Zähne waren! Eine Wolke aus Gestank trat aus seinem Mund, als er sprach.
„Ja, klar bist du schon verlobt.“
„Du verstehst das falsch. Ich bin nicht mit dir verlobt, sondern mit Eleaouniaoiuosiu, dem Prinzen der Alawari.“
„Was, der Albernheini hat dir das erzählt? Aber der ist doch doof.“
„Er ist nicht doof. Er ist mein Ein und Alles. Er ist die Liebe meines Lebens.“
„Quatsch.“
Was sollte ich tun? Eddy weigerte sich, es zu verstehen.
„Ich bin auch Prinz un bei uns isses viel schöner als bei den Albernheinis. Und wenn wir verheiratet sind, bist du die Königin der Trolle.“
Das hatte keinen Sinn. Ich musste mir eine andere Strategie überlegen.
„Warum warten wir nicht noch ein bisschen mit der Hochzeit? Wir sind doch noch so jung.“
„Aber warum denn? Ich find dich toll, ich will dich heiraten und du hast auch gesagt, dass du mich heiraten willst.“
„Das war doch ein Missverständnis, Eddy“, versuchte ich es auf die einfühlsame Art – ich bin übrigens sehr einfühlsam – „stell dir mal vor, du heiratest mich und dann stellst du später fest, dass ich dir nicht mehr gefalle. Was tust du dann?“
„Aber das passiert nicht. Du siehst so toll aus. Du hast überhaupt kein Karies, keine Narben und keine Hasenscharte.“
Natürlich nicht! Was war das denn für ein Kompliment?
„Aber nun stell dir mal vor, du siehst später eine Frau, die dir noch besser gefällt.“ Natürlich glaubte ich nicht, dass es so etwas gab, aber das konnte Eddy ja nicht wissen.
Eddy machte große Augen. Gut, dass es dunkel war, da sah ich sie nicht so genau.
„Nee. Ich hab bis jetzt noch nie so eine schöne Frau wie dich gesehn.“
Das war ja auch nicht zu erwarten gewesen, dachte ich. Unter den Menschen war ich eine Schönheit, selbst unter den Attraktiven stach ich hervor wie die Lotusblüte aus dem unreinen Gewässer. Wie musste ich erst auf jemanden wie Eddy wirken, der gewiss nur Verkehr mit den Hässlichsten der Hässlichen hatte.
Also versuchte ich es anders: „Aber ich hab doch gar kein Brautkleid.“
„Aber dein Kleid ist voll cool. Total schön.“
Es war zum Verrücktwerden. „Weißt du, Eddy, das geht mir alles ein wenig zu schnell. Warum lassen wir uns nicht noch ein bisschen Zeit? Dann können wir das Fest in aller Ruhe planen und es wird noch viel schöner.“
Eddy schien einen Moment nachzudenken. „Aber ich hab schon so lange gewartet, weil dich die blöden Albernheinis verschleppt haben.“
„Sie haben mich nicht verschleppt. Sie haben … Sie haben mich befreit, sie haben sich um gesorgt, mich ge-liebt.“ Mir kamen die Tränen, als ich an Eleaouniaoiuosiu, Aleratiroanouleionala, Orileiaoulaioleonalauloeor, Iraeliat’o’eilpat’ra und alle meine lieben Freunde dachte. „Sie sind meine Familie.“ Wo waren sie? Eleaouniaoiuosiu war sicher schon krank vor Sorge. Wann würde er mich retten? Er hatte mich schon einmal vor Eddy gerettet, er würde es wieder tun. Ich musste Eddy nur so lange hinhalten.
„Eh schon gut“, sagte Eddy tröstend und versuchte meine Hand zu tätscheln. Ich zuckte erschrocken zurück. „Ich bin ja jetzt deine Familie.“
Was für eine katastrophale Vorstellung! Meine Familie waren die Alawari. Mit ihnen hatte ich eine Verbundenheit gespürt, die ich mit meiner angeblichen Menschenfamilie nie gehabt hatte. Meine Menschenfamilie! Ich hatte ewig nicht mehr an sie gedacht. An meinen irren, dementen Vater und meine manisch-depressive Mutter. Moment. Das war die Idee! Wieder mal hatte ich mich ein Geistesblitz durchzuckt!
„Eddy“, sagte ich. „Ich würde gern meine Eltern zur Hochzeit einladen. Könntest du mir vielleicht dein Handy leihen, damit ich sie anrufen kann?“
„Oh klar! Dein Vater war voll nett zu mir. Frag ihn, ob er Chips mitbringt.“
Ich lächelte Eddy an. Es war ein echtes Lächeln. Jetzt würde alles gut werden.
......
Eddy gab mir sein Smartphone und blickte mich erwartungsvoll an.
„Oh, wo kann ich mich denn hier mal wa… Wo ist denn hier die Toilette?“, fragte ich mit einem peinlich berührten Lächeln. Eddy durfte keinesfalls mitbekommen, was ich wirklich machte.
„Ah, du musst Pipi. Komm mit.“ Er führte mich durch irgendeine völlig düstere Höhle, durch lauter verschlungene Gänge und Treppen hinab. Es war gut, dass ich so wenig sah, denn das Wenige, was ich erkennen konnte, war schlimm genug. Der Weg war gesäumt von Bierdosen.
„Hier“, sagte Eddy und blieb vor einer Nische stehen. Die Fackel steckte er in eine Halterung.
Ängstlich blickte ich in die Nische.
„Was soll das sein?“, fragte ich.
Eddy strahlte mich voller Stolz an. „Die Toilette.“
Ich sah genauer hin. Tatsächlich, da war ein Loch im Boden. Aber ein Loch im Boden ist keine Toilette. Eddy dachte wohl, er könne mich veräppeln. Die Leute wollen immer ihre Späße mit mir treiben, aber da kommen sie nicht weit, ich bin nämlich viel zu intelligent und belesen, um auf so etwas hereinzufallen.
„Das ist keine Toilette, Eddy. Das ist nur ein Loch im Boden.“
Er grinste immer noch. „Yeah.“
Ich seufzte tief und lang. „Eddy. Du hast doch schon Toiletten gesehen, oder? Das ist so eine Art … Stuhl, auf den man sich draufsetzt.“ Ich war stolz auf diese Erklärung. Ich kann unheimlich gut erklären. Viel besser als die Lehrer. Wie oft habe ich den Lehrern den Unterrichtsstoff erklärt, den sie selbst nicht richtig verstanden hatten!
„Ja, bei euch. Bei uns sehen die so aus.“
Oh.
Was sollte ich tun? Ich konnte ja nicht da hinein meine Notdurft verrichten. Andererseits wollte ich ja eigentlich nur einen ruhigen Ort, wo mich niemand beobachten konnte, aber mittlerweile war mir aufgefallen, dass ich tatsächlich einen Drang zur Notdurft verspürte. Vielleicht konnte ich ja anhalten?
„Ähm“, sagte ich und blickte Eddy bedeutungsschwer an, als er mich immer noch offen angrinste.
„Toll, nicht?“
„Äh, na ja. Äh.“ Ein weiterer bedeutungsvoller Blick.
Er grinste immer noch.
Ich räusperte mich ungeduldig. „Könntest du dich vielleicht bitte umdrehen?“, fragte ich betont.
„Aber wieso, wir sind doch verlobt!“
Oh Himmelherrgott nochmal!
„Eddy, ich möchte nicht, dass du mir dabei zuguckst. Das ist etwas sehr Unappetitliches und du würdest mich dann vielleicht nicht mehr heiraten wollen.“
„Oh. Aber ich mach das auch.“
„Bei uns Menschen ist es üblich, so etwas ohne Zuschauer zu machen.“
„Ah. Deswegen hab ich das nie gesehn. Gut, dann warte ich da drüben auf dich.“
Ich wartete, bis er sich ein Stück entfernt hatte, dann zog ich hastig das Smartphone hervor. Ich würde sämtliche Polizisten dieser Welt anrufen und einen Hilferuf über meinen Blog aussenden. Eleaouniaoiuosiu würde es sehen und er würde sofort zu meiner Rettung kommen, so wie er es bereits einmal getan hatte. Fiebrig schaltete ich das Handy ein.
Kein Netz.
Ich starrte sekunden-, minuten-, tagelang auf das Display. Nichts.
„Du verdammtes Handy“, fauchte ich das Ding an. „Mach Netz. Ich brauche es doch.“ Normalerweise gehe ich freundlicher mit den Dingen um, aber ich hatte keine Nerven mehr, mit einem so einfachen Wesen wie einem Handy freundlich zu sprechen.
„Bist du bald fertig?“, fragte eine Stimme. Eddy.
„Dauert noch einen Moment.“ Vielleicht war es ja nur hier unten so. Sicher gab es irgendwo Netz.
Zu allem Elend war nun auch noch der Druck auf meiner Blase gestiegen und ich hatte keine andere Wahl mehr, als etwas völlig Schreckliches zu machen. Lieber Leser, vielleicht wird es Entsetzen bei dir hervorrufen, aber man muss bedenken, dass ich mir bis dahin noch nie etwas zuschulden hatte kommen lassen. Gott würde meine Notlage verstehen und mir verzeihen, dass ich unter diesen unhygienischen Umständen die Notdurft verrichtete.
.....
„Eddy“, sagte ich, nachdem ich getan hatte, was ich tun musste und danach noch eine Weile geweint hatte. „Es gibt hier kein Netz. Weißt du, wo hier Empfang ist?“
„Oh, keine Ahnung, hab’s nie ausprobiert. Aber wir können auch Colgi zu deinen Eltern schicken.“
„Colgi?“, fragte ich verwirrt.
„Die Zahnfee, die dich hergebracht hat. Die bringen uns immer die Post.“
Zahnfee? Ach ja natürlich, Holly, meine liebe kleine Freundin! Was erzählte Eddy da?
„Was habt ihr ihr angetan?“, fragte ich entsetzt, mit klammem Gefühl im Magen.
„Wir haben ihr einen schönen großen Backenzahn von Betty gegeben, weil sie dich von den Albernen befreit hat.“
„Das ist nicht wahr!“, rief ich entrüstet. „Sie hat mich nicht von den Alawari entführt! Holly ist meine Freundin. Sie will meine Zofe werden!“
„Echt? Toll.“
Sie hätte mich nie von dort entführt, wo ich glücklich war. Holly liebte und verehrte mich wie alle Zahnfeen. Sie liebten es, des Morgens durch meine Zähne zu fliegen. Eddy musste Holly etwas angetan haben. Holly konnte nichts mit meiner Entführung zu tun haben, sie war genau wie ich ein Opfer von Eddy. Oh, wie sehr vermisste ich Eleaouniaoiuosiu! Wie es ihm wohl ging?
„Komm, ich stell dich meiner Familie vor“, sagte Eddy.
Ich schluckte.
Schicksalsergeben lief ich Eddy hinterher durch die dunkeln Gänge. Ich bin tapfer und belastbar, aber dies war auch für mich zu viel.
Eddy führte mich in eine größere Halle. Lärm schlug uns entgegen. Grölen, Hicksen, niveauloser Gesang und lautstarkes Rülpsen. Bei den Menschen war es mir schon schwergefallen, solche Niveaulosigkeiten zu ertragen. Nun, da ich so lange bei den Alawari geweilt hatte, war es noch schlimmer für mich, zumal es hier noch zehnmal schlimmer als bei den Menschen war.
„Eh, alle mal hören“, rief Eddy laut. Unzählige Köpfe richteten sich auf mich.
„Das ist die Belle, die wo ich heiraten will.“
Auch das noch. Jedes Kind weiß, dass man nicht „die wo“ sagt. Die Gestalten – es waren wohl wirklich Trolle, zumindest erklärte das, warum sie so entsetztlich waren – blickten mich begeistert an. Es fiel mir schwer, diesen Blick zu erwidern. Eddy anzusehen war schon schwer gewesen, aber so viele Leute, die alle mindestens genau so hässlich waren, das brachte ich nur noch mit stark zusammengekniffenen Augen fertig.
Ich lächelte schwach und hob grüßend meine zarte Hand, die hier so fehl am Platz wirkte wie eine duftende Rose in einer Klärgrube.
Und dann brach der Lärm los.
„Bell!“
Eine tobende, stinkende Menge stürzte sich auf mich. Und daneben brabbelte Eddy durchgehend:
„Das is Freddy, das ist Debbie, das is Jerry, das is Berdi, das is Nicki, das is Micki …“
Sie alle schüttelten mir die Hand, als wollten sie meinen Arm ausreißen, oder – noch schlimmer – sie schlugen mir auf Rücken und Schulter und quetschen mich ganz an ihren dreckigen, stinkigen Körper.
Ich erlitt zahlreiche Frakturen.
„Du bist also die Belle“, sagte eine ausgesprochen scheußliche Trollfrau. „Ich bin Eddys Mutter Hedi, deine zukünftige Schwiegermutter. Ich bin ja so glücklich, dass er so eine gute Frau gefunden hat.“
Sie presste mich mitsamt meinem wunderschönen Seidenkleid, das mit Gold bestickt war, an den alten Sack, den sie trug und an dem die Essensreste von drei Monaten und wer weiß was noch alles hingen.
„Ich bin Gerry, Eddys Vater“, sagte jemand hinter mir und malträtierte meinen Rücken.
Ich überlegte, ob ich in Ohnmacht fallen sollte. Ich hatte Anleitungen gelesen, wie man das edel und anmutig machte. Aber es war so eng, dass ich gar nicht wusste, wie ich das nach der Anleitung machen sollte, ohne dabei auf einen Troll zu fallen.
Eddy stellte mir noch seine drei Brüder Perry, Jerry und Pupsi sowie seine Schwester Penny vor.
Ich bemühte mich, sie alle trotz meiner unmenschlichen Schmerzen anzulächeln. Dann versuchte ich mich zurückzuziehen, um mich mit meinen Schmerzen zu befassen, einen Fluchtplan zu schmieden, zu Gott und Eleaouniaoiuosiu zu beten und mich ausgiebig zu bemitleiden (ich hatte es wirklich nötig und sonst machte es hier ja keiner) und um mein verlorenes Glück zu weinen. Doch ich hatte keine Chance, sie waren noch nicht fertig mit mir.
„Du hast sicher Hunger, Liebes.“
Obwohl ich lange nicht mehr gegessen hatte, würde ich keinen Bissen runterbringen. Ich schüttelte den Kopf und wehrte freundlich ab. „Nein danke, das ist wirklich nicht nötig.“
„Aber du musst total verhungert sein.“
„Ehrlich, ich bin gerade am Abnehmen.“
„Unsinn, an dir ist ja gar nichts dran. Du musst was essen.“
Eddys Mutter nahm mich am Arm und schob mich zu einem niedrigen Tisch.
„Setz dich, es ist noch Essen von vorvorgestern übrig.“
Sie stellte eine Schale mit einem undefinierbaren Brei vor mich.
„Oh nein, danke“, stotterte ich.
„Iss. Das is wirklich gut. Popeleintopf mit Ohrenschmalz und frischem Berggeröll.“
Mir wurde noch schlechter, als es mir sowieso schon war. „Nein, danke, das ist wirklich nicht nötig. Ich … vertrage keine Popel.“
„Aber die sind guut.“
„Wirklich, ich äh … ich habe eine Popelallergie.“ Das war nicht gelogen. Da ich noch nie Popel gegessen hatte, konnte das durchaus stimmen. Tatsächlich erinnere ich mich, dass ich einmal fast an einem Hamburger von McDonalds gestorben wäre, den ich einem Mitschüler zuliebe essen wollte. Ich vertrage kein minderwertiges Essen.
Hedis Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig in betroffen. „Oh nein, nein, du armes Kind!“, rief sie. „Wie furchtbar! Aber warte, ich habe noch ein wenig puren Ohrenschmalz.“
Als sie mir eine neue Schale hinstellte, würgte ich fast. Dabei habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht erbrochen. Der Hamburger damals war operativ entfernt worden.
„Ähm, vielleicht könnte ich ein wenig reines Berggeröll haben?“, fragte ich. „Oder etwas Gras?“
„Oh, was hältst du von ein wenig Getreide? Oder Bierkuchen, der ist sehr gut.“
„Bier… kuchen?“ Bier zum Trinken war ja schon schlimm genug, aber musste man auch noch Kuchen daraus machen?
„Der ist guuut“, erklärte mir Eddy.
„Bier ist unsere Spezialität“, strahlte nun auch Gerry. „Wir haben Bierkuchen, Bierbrot, Bierauflauf, Bierpudding, Biersaft, Biersteak. Schwarzbier, Weißbier, Blaubier, Grünbier …“
Ich hatte Bier immer gehasst. Aber von all dem, was mir hier angeboten wurde, schien es mir das kleinste Übel, also entschied ich mich für ein Glas Weißbier.
Eddy strahlte, weil er mir eine Freude machen konnte, und eilte davon, um das Bier zu holen.
Als er zurückkam, stellte er einen Literkrug vor mir ab.
Da mich alle erwartungsvoll ansahen, hatte ich wohl keine Wahl. Na ja, es schmeckte gar mich mal soooo furchtbar, wenn auch noch schlimm genug. Ich hatte schon Schlimmeres gegessen. Wenn auch nur einmal. Nämlich den Hamburger.
„Schmeckt gut“, würgte ich hervor.
Alle Trolle um mich herum strahlten.
„Siehst du!“, rief Eddys Mutter. „Nimm noch.“
„Oh nein, danke, ich bin satt. Und ich bin müde und schmutzig. Wo ist denn hier das Badezimmer?“
Eddys Mutter sah fragend zu Eddy, der mit den Schultern zuckte.
„Ich weiß, was sie meint!“, rief plötzlich Eddys Schwester begeistert. „Die Menschen haben extra Zimmer zum Waschen und Pinkeln und um sich anzumalen. Ich hab das mal gesehen, das ist richtig toll.“
„Na, ich weiß nicht“, warf Eddys Mutter in skeptischen Tonfall ein, „kriegt man davon nicht Ausschlag?“
Ich machte meine Augen einen Spalt weiter auf. Ihr Gesicht war ja wohl von Ausschlag überzogen, während meins glatt und rosig war. Oder jedenfalls bis zu diesem Unglück hier gewesen war. Ich musste furchtbar aussehen, es war bestimmt schon mindestens einen halben Tag her, dass ich mich zurechtgemacht hatte. „Aber kuck mal, sie hat doch tolle Haut“, warf Perry ein.
Hedi betrachtete mich eingehend. „Kind, ich weiß nicht, ob Waschen gut ist für die Gesundheit.“
„Liebe Frau äh …“
„Hedi, mein Kind. Aber du kannst auch Mama zu mir sagen, Eddy macht das auch.“
„Frau Hedi. Ich wasche mich seit 17 Jahren und ich bin das gesündeste Wesen weit und breit. Und na ja, außerdem kann man ja nicht behaupten, dass ich hässlich wäre“, untertrieb ich maßlos und ließ ein gütiges Lachen über diesen Scherz erklingen. Ich wusste natürlich, dass ich weit mehr als nur „nicht hässlich“ war.
„Du bist voll schön“, sagte Pupsi andächtig. „Eddy, kann ich sie haben?“
„Nee, ich bin der Älteste und ich werd König. Außerdem hab ich sie mir ausgesucht. Und es steht im Superschlauen Buch.“
„Mann“, motzte Pupsi.
„Such dir doch selbst eine Menschin.“
„Ich zeig dir, wo du dich waschen kannst“, sagte Penny und unterbrach damit diese unwürdige Unterhaltung und meine Selbstmordgedanken.
Es gab also doch eine Waschgelegenheit?
Als ich Penny folgte – immerhin wollte sie mich wahrscheinlich nicht heiraten – kam ich durch viele Gänge. Sie führte mich schließlich in eine kleine Kammer, in der ein paar Fässer mit kaltem Wasser standen.
Ich musterte das Wasser, aber es erschien mir zum Trinken zu schmutzig. Und zum Waschen auch. Selbst den guten Blumen hätte ich das nicht angetan oder den lieben Regenwürmern.
„Das Wasser is besonders gut, wir haben es mit Bier verdünnt“, erklärte mir Penny.
„Ähm, mir ist gerade eingefallen, dass ich doch noch sauber bin“, sagte ich schnell. Geniale Lüge, nicht wahr? Raffiniert. Normalerweise bin ich immer ehrlich, weil ich der Meinung bin, dass sich das so gehört, aber wenn es drauf ankommt, kann ich unheimlich gerissen sein.
„Oh. Ja. Du siehst auch sehr sauber aus. Was schmierst du dir denn so ins Gesicht? Wir Trollfrauen schmieren uns manchmal Schlamm ins Gesicht.“
„Wir haben andere Sachen.“
„Zeigst du es mir mal?“
„Ich habe nichts dabei.“
„Oh schade. Aber vielleicht geht Eddy und du ja mal in die Menschenwelt nach der Hochzeit.“
Ich schielte sie hoffnungsvoll an. Ein Ausflug in die Menschenwelt würde mir eine Möglichkeit zur Flucht bieten. Auf jeden Fall gab es dort Netz. Da fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, ob ich Eleaouniaoiuosiu im Alawariland erreichen konnte. Ich wusste nicht, ob es dort Internet gab. Da ich dort bereits alles hatte, was ich brauchte, hatte ich mir auch nie Gedanken darum gemacht. Doch gewiss suchte Eleaouniaoiuosiu bereits nach mir und überwachte alle möglichen Kommunikationswege.
Ich sagte Penny, dass ich müde sei, und sie brachte mich in eine weitere hässliche unterirdische Kammer, in der nur eine Matratze und eine alte Decke auf dem Boden lagen.
„Ist natürlich nur bis zur Hochzeit dein Zimmer“, erklärte sie. „Dann ziehst du zu Eddy.“
Was für eine Aussicht!
Penny verabschiedete sich mit einem fröhlichen Grinsen und wünschte mir eine gute Nacht.
Ich setzte mich vorsichtig auf die ausgeleierte Matratze. Da sah ich plötzlich etwas Kleines in der Luft schweben.
„Holly!“, rief ich, schwach vor Erleichterung. Meine liebe kleine Freundin lebte! Ich streckte die Hand aus, damit sie sich darauf niederlassen konnte, aber sie kam nicht. Sie musste gesehen haben, dass meine Finger gebrochen waren, und wollte mir mit ihrem Gewicht nicht noch weitere Schmerzen hinzufügen.
„Wie geht es dir, meine kleine Freundin?“, fragte ich sie besorgt.
Sie grinste. „Mir geht‘s prima.“
„Die Trolle haben dir nichts getan?“
„Nee, wieso?“
„Oh Holly, es ist so furchtbar, was man uns angetan hat! Stell dir vor, man erwartet von mir, dass ich einen von ihnen heirate. Ist das nicht entsetzlich?“
Holly zuckte die Schultern. „Vieles ist entsetzlich auf der Welt“, sagte sie tapfer. Meine liebe kleine Zahnfee, ich wusste doch, dass sie mich nicht verraten hatte! Mit welch einer Gelassenheit sie das alles ertrug!
„Weißt du denn keinen Ausweg?“
„Für dich? Nee.“
Dann kam mir ein Geistesblitz. Das passiert mir recht häufig. „Holly!“, rief ich. „Du könntest doch eine Nachricht an Eleaouniaoiuosiu überbringen. Eddy will dich fortschicken, um meine Eltern zur Hochzeit einzuladen. Du tust so, als würdest du das machen, doch in Wirklichkeit gehst du zu Eleaouniaoiuosiu. Oh gewiss macht er sich schreckliche Sorgen.“ Oh lieber Gott, was für eine gute Idee!
„Oh ja, bestimmt. Ganz sicher.“
Der Gedanke an meinen Liebsten machte mich einerseits unendlich traurig, doch andererseits gab er mir neue Kraft. Ich durfte mich jetzt nicht aufgeben. Für Eleaouniaoiuosiu würde ich tapfer sein.
„Holly“, fragte ich. „Hat er dir über mich erzählt?“
„Gelegentlich. Er fand’s unheimlich gut, dass du da warst.“
„Oh, ich wusste es! Er liebt mich so sehr, mein Augapfel.“
„Äh, ja.“
Ich wischte mir ein paar Tränen ab. „Es ist doch ein Trost, wenn man jemanden hat, den man bedingungslos liebt, nicht wahr?“
„Ja, bestimmt.“
„Du wirst ihm Bescheid sagen, oh treueste Freundin. Und richtete Aleratiroanouleionala meine tiefe Freundschaft und Liebe aus. Und Orileiaoulaioleonalauloeor. Und Iraeliat’o’eilpat’ra. Und Lohaianorianoseliorior. Und Serenadeliraroeliora und Meliradorodulululu und Leraraliaouialaialaoaoioioiaaaa und all den lieben Tieren und allen deinen Schwestern und all den lieben Fischen und den Möwen und den Libellen, den Kängurus, den Affen, den duftenden Blumen und dem jungfräulich weißen Sand, der meine Zehen so sanft umschmeichelt hat, und den Meereswellen, die meine Haut liebkosten, und …“
„Mach ich alles. Aber jetzt muss ich weg, ich muss noch arbeiten.“ Sie nahm einen großen gelben Zahn, den sie unter der Matratze gefunden hatte, und flog davon, wobei sie mir leicht mit der Hand winkte und sanft lächelte.
Ich sank getröstet auf das Bett. Wie gut, dass ich Holly hatte. Wie sie es schaffte, in dieser Lage immer noch so optimistisch zu sein! Ihr fröhlich-beschwingtes Lachen machte einem doch das Elend um so vieles erträglicher. Wie froh konnte ich mich doch schätzen, solche Freunde zu haben. Getröstet und mit neu erwachter Hoffnung schlief ich ein und träumte von Eleaouniaoiuosiu und all meinen Freunden im Alawariland.