Sie lag in einem luxuriösen Bett, dessen runde Fläche mit goldbraunem Stoff bezogen war, das mit schweren, orangen Vorhängen bedeckt war und überquoll von Kissen und kleinen Decken. Diese waren zu klein für einen Menschen, Jackys Körper war mit mehreren einander überlappenden Stoffen bedeckt. Doch darunter trug sie nichts.
Auch die Kissen waren klein, sodass ihr Kopf auf einem Berg von ihnen ruhte. Fast sofort wusste sie, dass das Bett nichts weiter als ein sehr edles Hundekörbchen war, nicht für menschliche Bedürfnisse zugeschnitten, sondern eben … für Werwölfe.
„Wie geht es dir?“, fragte Roiden zaghaft und half ihr, sich aufzusetzen und mit dem Rücken an den Kissenberg zu lehnen. Er stand auf und brachte ihr ein Hemd, half ihr, es überzustreifen. Dann reichte er ihr eine große Decke aus dunkelgrünem Stoff.
Jacky zitterte, obwohl sie nun sehen konnte, dass das Bett in einem kleinen Zimmer stand, das von einem Kamin erhellt wurde. Es gab keine Fenster – sie war im unterirdischen Wolfsbau, doch diesmal in dem Bereich, der den Werwölfen vorbehalten war.
Sie hob die Hände vor das Gesicht: „Was … hast du getan?“
„Ich musste dich retten … ich musste einfach“, flüsterte Roiden.
Jacky starrte weiterhin auf ihre Hände. „Was hast du getan?!“, wiederholte sie hysterisch.
Roiden ergriff ihre Hände. „Du bist nun Teil des Rudels. Du bist ein Werwolf.“
Jacky brach in Tränen aus. „Louise! Was ist mit Louise?“
Roiden wandte den Blick ab. Das war alles, was sie als Antwort brauchte.
Später waren ihre Tränen ausgetrocknet.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon regungslos auf dem Bett gesessen hatte, nur mit dem Leinenhemd und der grünen Decke bekleidet. Ihr Magen grummelte, doch sie konnte einfach nicht die Energie aufbringen und sich auf die Suche nach etwas Essbarem begeben. Sie hatte ja nicht einmal genug Kraft, um sich anders hinzusetzen, obwohl das unter ihr eingeklemmte Bein schon eingeschlafen war. Selbst die Decke auf ihren Schultern kam ihr unendlich schwer vor, erdrückend.
Louise war tot. Alles, wofür sie gekämpft hatte, wofür sie gelebt hatte, war verloren. Dieser Gedanke kreiste endlos durch ihren Kopf. Lähmte ihren ganzen Körper.
In ihrem Inneren herrschte Dunkelheit, hallende, leere Dunkelheit. Jacky konnte nicht einmal wirklich atmen und sie war müde … so unendlich müde, sogar zu müde, um sich hinzulegen, denn sie wusste, dass sie nicht würde schlafen können.
Irgendwann kehrte Roiden zurück. Er erstarrte in der Tür, als er sie auf dem Bett sitzen sah.
„Wie geht es dir?“
„Gut“, murmelte Jacky automatisch. Sie war sogar zu müde, um zu reden.
Roiden trug zwei Teller in der einen Hand, zwei Gläser in der anderen und hatte einen Krug im Arm klemmen.
„Das ist eine Lüge, Jacky“, sagte er sanft und stellte die Teller ab. Der Duft von gebratenem Fleisch waberte durch den Raum und Jacky rümpfte die Nase.
Doch in ihrem Inneren regte sich etwas anderes, fremdes … ihr Herz raste und sie keuchte auf. Ihr Magen knurrte.
„Ich habe uns etwas zu essen geholt“, berichtete Roiden, während er die Gläser mit dem Inhalt des Krugs füllte. Jacky konnte frisches, klares Wasser riechen, vielleicht frisch geschmolzener Schnee. Sie erschrak auch vor ihren plötzlich geschärften Sinnen.
Roiden drehte sich um, lehnte sich an den Tisch und sah sie an. Sein Blick war nachdenklich und mitleidig. „Du wirst merken, dass sich vieles verändert hat“, sagte er ruhig. „Ich weiß auch, dass du mich belogen hast – du empfindest nichts für mich.“
Seine Augen waren hart und kalt. Jacky musste den Blick abwenden und spürte, wie sich Hitze in ihrem Gesicht ausbreitete.
„Es ist in Ordnung“, sagte Roiden sanft. „Ich werde dir trotzdem helfen, dich in deinem neuen Leben zurecht zu finden. Du bist nun Teil des Rudels – und ich wusste schon, dass du lügst, bevor ich dich verwandelt habe. Ich denke, ich wusste es die ganze Zeit.“
Jacky konnte ihn nicht ansehen. Sie fühlte sich furchtbar. Doch hatte sie eine andere Wahl gehabt, als Roiden Liebe vorzuspielen, um Louise zu retten?
Louise …
Wieder knurrte ihr Magen. Roiden trat zum Bett und reichte ihr eine Hand. „Komm. Iss erst einmal was.“
Sie ließ sich zum Tisch führen. Beide aßen schweigend. Das Fleisch schmeckte nach nichts, jedenfalls nicht für Jacky. Doch sie konnte spüren, wie etwas in ihr sich gierig auf das Essen stürzen wollte, sogar die Bratensoße vom Teller lecken wollte und am liebsten immer weiter gefressen hätte. Sie spürte einen Schmerz an ihren Zähnen, die reißen und zerfetzen und schneiden wollten. Angewidert zwang sie sich, langsam zu essen.
„Das ist der Wolf“, sagte Roiden, der sie beobachtete. „Das Tier ist jetzt ein Teil von dir. Du wirst ihn immer spüren. Und er ist immer hungrig, dürstet immer nach Blut.“
Jacky schob den Teller mit dem halb gegessenen Fleisch von sich. Einem anderen Teil von ihr war übel, weil sie wusste, dass das auf dem Teller mal ein Tier gewesen war, das sicherlich kein gutes Leben gehabt hatte.
„Nein, du solltest essen“, sagte Roiden leise. „Du kannst den Wolf nicht verhungern lassen. Wenn er merkt, dass du es versuchst, übernimmt er gewaltsam die Kontrolle.“
Jacky sah ihn nun doch erschrocken an. In Roidens Blick lag sanfte, stille Liebe. Das erschütterte sie stärker als alles zuvor. Sie konnte seine Zuneigung sogar riechen. Trotz allem, was sie getan hatte, trotz aller Lügen mochte er sie noch immer. Und die Trauer in seinem Blick, diese Abwesenheit jeglicher Aggression, machte ihr klar, dass er sie nicht festhalten würde. Er wollte sie nicht an seiner Seite haben, solange er nur wusste, dass sie glücklich wäre.
Jacky senkte den Blick auf den Teller. Sie hatte einen Kloß im Hals, der es ihr unmöglich machte, etwas zu essen oder etwas zu sagen. Ihr Nacken brannte und kribbelte.
„Iss.“ Roiden erhob sich. „Und wenn du so weit bist, zeige ich dir, wie du dich verwandelst.“
Roiden kehrte am nächsten Abend zurück und fand Jacky zusammengerollt auf dem Bett vor.
Er setzte sich auf die Bettkante. Jacky konnte seinen Blick spüren und rollte sich fester zusammen.
„Was ist denn los?“, fragte Roiden.
„Das fragst du noch?“, entgegnete sie wütend. Tränen ließen ihre Stimme zittern.
Roiden fasste ihre Schultern und richtete sie auf. Jacky wandte den Kopf ab und wischte sich die Tränen fort.
„Ich lasse nicht zu, dass du aufgibst“, sagte Roiden leise, aber bestimmt.
„Wofür soll ich denn noch leben?“, fragte Jacky ihn angriffslustig. Sie hasste es, dass sie ihre Schwäche nicht vor ihm verbergen konnte.
Roiden lächelte sie schief an. „Lebe für dich. Für deine Freiheit und deine Träume.“
„Meine Träume?“, fragte sie. „Ich habe keine!“
„Jeder hat Träume. Horch in den Herz, dann weißt du, was du willst.“
Jacky schnaubte abfällig. Roiden griff ihre Handgelenke und zog sie auf die Füße. „Du jedenfalls wurdest zu meinem Traum. Und ich werde dich nicht aufgeben, also …“
Plötzlich stand er in seiner Wolfsform vor ihr und knurrte so wild, dass der Schauer Jacky durch Mark und Bein ging, wie ein gewaltiges Erdbeben, das die Grundfesten der Welt erschütterte. Die plötzliche, unvermittelte Todesangst riss sie auch aus der Paralyse.
Ein Kribbeln breitete sich über ihren Körper aus, heiß wie Feuer, wild und unwiderstehlich.
Für einen Moment war ihr Schwarz vor Augen. Als sie dann blinzelte, war die Welt verändert.
Die Farben waren blasser geworden. Die Formen verschwommener. An ihre Stelle traten Gerüche, unzählige Nuancen und Dufte, als hätte Jacky einen ganzen Regenbogen neuer Farben entdeckt.
Der Wolf ihr gegenüber hatte sich entspannt und strömte nun nichts weiter als Freundlichkeit aus. Sie spürte das Band sofort: Rudel. Sie waren ein Rudel, Jagdgefährte, Familie.
Roiden trottete voraus und öffnete die Tür geschickt mit der Schnauze. Jacky folgte ihm, einen langen Gang hinauf und durch eine Pforte.
Hinaus in die Wälder.
Ihre Schritte waren federnd und kräftig. Im ersten Moment hatte sie kaum bemerkt, dass sie auf vier Pfoten lief. Es fühlte sich natürlich an. Vertraut.
Roiden lief an ihrer Seite und zeigte ihr alles. Ohne Worte. Er lief voraus, sie folgte ihm und nahm die Welt in sich auf: Gerüche und Geräusche, Gefühle …
Sie lernte, indem sie Roidens Verhalten kopierte. Gemeinsam stöberten sie einen Schneehasen auf, hetzten ihn eine Zeitlang und ließen ihn dann laufen. Dann kletterten sie über ein Geröllfeld und überquerten eine windumtoste Schneeebene. Die Kälte strich durch Jackys Fell, effektiver als eine Dusche. Alle Gedanken ihres menschlichen Ichs wurden nach und nach verdrängt. Der Instinkt übernahm die Kontrolle. Die Welt beschränkte sich auf Gerüche, Kälte, Roiden an ihrer Seite. Eine kleine, überschaubare Welt … doch hier war auch kein Platz für das überwältigende Gefühl, das sie niedergedrückt hatte.
Es war eine Freiheit, die Jacky noch nie zuvor gekannt hatte. Ein Frieden, in dem sie für immer versinken könnte.
Als sie schließlich im Morgengrauen in den Bau zurückkehrten, war sie müde. Die Rückverwandlung lief fast von selbst, als sie im Schlafzimmer waren. Erstaunt stellte sie fest, dass sie ihre Kleidung nicht länger trug – die lag auf dem Boden des Gemachs. Hatte sie sie als Wolf abgestreift? Sie konnte sich nicht erinnern.
Roiden ging, und Jacky fiel in einen tiefen, friedlichen Schlaf.
Am nächsten Morgen sah die Welt anders aus. Nicht unbedingt besser … aber weniger dunkel.