„Onkel Merkanto!“
Der alte Zauberer ging lachend in die Knie, fing den heranstürmenden Vampir ab und wirbelte ihn durch die Luft.
„Du bist groß geworden, Junge, lange können wir das nicht mehr machen!“ Er setzte den blonden Vampir auf den Boden.
Iljan grinste breit, dann wurde er ernst. „Darf ich diesmal mit?“
Merkanto seufzte und sah kurz über die Schulter. Der Rappe, auf dem er angekommen war, wurde von einem Diener in den Stall geführt. Der Magier hatte nicht einmal Zeit gehabt, den Schnee von den Schultern zu klopfen.
Er fuhr Iljan durch die Haare. „Tut mir leid, mein Junge.“
Enttäuscht verdüsterte sich Iljans Gesicht. „Aber ich bin alt genug! Ich will euch begleiten.“
„Dein Vater würde das niemals erlauben“, widersprach Merkanto. „Ich weiß, du möchtest unbedingt raus aus diesem Schloss, aber im Palast der Königin ist es einfach zu gefährlich.“
„Aber ich will die Königin sehen!“, platzte Iljan heraus. „Ich will nicht immer nur Geschichten hören. Mein Vater könnte mir alles erzählen. Ich will die Wahrheit!“
„Ach, Iljan.“ Merkanto sah sich auf dem verschneiten Hof um. „Die Königin wirst du nicht sehen, selbst wenn wir dich mitnähmen. Im Palast herrschen Sicherheitsvorschriften, von denen du nicht einmal träumen würdest. Die Etikette ist und der kleinste Fehler kann zum Todesurteil führen.“
„Das sagst du doch nur!“ Iljan verschränkte die Arme vor der Brust.
„Keineswegs.“ Merkanto sah den Vampir eindringlich an. „Bis heute habe ich selbst die Königin noch kein einziges Mal gesehen. Nur deinem Vater ist es erlaubt, den Thronsaal zu betreten. Ich bin angehalten, auf dem Flur zu warten.“
„Unmöglich!“, behauptete Iljan entsetzt.
Merkanto lächelte schief. „Komm, Iljan, mein Junge. Lass uns reingehen, ja? Meine alten Knochen spüren die Kälte.“
Iljan zuckte zusammen. „Entschuldige, Merkanto!“ Zuvorkommend nahm er den Koffer des Zauberers auf und trug ihn in die Eingangshalle, wo er ihn einem Diener übergab. Ein zweiter Bediensteter half Merkanto aus dem schweren Pelzmantel. Der Magier trat den Schnee aus den Stiefel und folgte Iljan dann in ein schmales, hohes Zimmer, in dessen Kamin ein wärmendes Feuer flackerte.
„Wo ist dein Vater?“, erkundigte sich Merkanto.
„Oben.“ Iljan schmollte und sah stur aus dem Fenster. „Er bereitet noch einen Bericht vor.“
Seufzend ließ Merkanto sich in den Sessel vor dem Kamin sinken. Er wärmte die Hände am Feuer.
„Als ich in deinem Alter war“, begann der Zauberer, „wollte ich auch unbedingt in den Palast. Ich arbeitete Tag und Nacht, um ein guter Stratege zu werden.“
Iljan drehte sich überrascht um und kam ein paar Schritte näher.
„Und ich wurde gut. Der Zweitbeste meiner Klasse. Nur ein anderer Junge war besser als ich. Ein Vampir. Ein Grafensohn.“
„Vater.“ Iljan setzte sich in den Sessel gegenüber.
Merkanto nickte. „Als die Auswahl näher kam, versuchte ich alles, um Nepumuk irgendwie zu übertrumpfen. Ich arbeitete Tag und Nacht, ich wälzte Bücher, lernte den Verlauf uralter Schlachten auswendig … sogar mancher Schlachten aus den Zeiten vor Umira, vor den Reichen von Licht und Schatten.“
Wie gebannt lauschte Iljan der Rede des Zauberers. Der Feuerschein malte rötliche Schatten auf ihre Gesichter.
„Aber dein Vater war immer noch besser als ich“, erklärte Merkanto mit einem traurigen Seufzen. „Was ich auch versuchte, er übertrumpfte mich in allem.“
„Was hast du dann gemacht?“, fragte der junge Vampir neugierig. Iljan kletterte in den Sessel Merkanto gegenüber und schlug die Beine übereinander, sodass er im Schneidersitz saß.
Der Zauberer grinste schief. „Ich hab deinen Vater ausgeschaltet.“
„Ausge -“ Iljan riss die Augen weit auf. Mit der Wendung hatte er nicht gerechnet – und er hatte auch nicht geglaubt, dass irgendjemand Nepumuk schaden könnte.
„Ich mischte Knoblauch in sein morgendliches Blut und überdeckte den Geruch mit einigen Kräutern“, fuhr Merkanto fort. „Er wäre fast gestorben.“
Iljan lauschte ungläubig.
„Wäre er nicht ein Graf gewesen, hätte er nicht die besten Heiler bekommen und wäre jetzt tot. Noch toter als ohnehin. An der Prüfung konnte er so nicht mehr teilnehmen. Und ich – ich war Klassenbester.“
„Dann bist du zur Königin!“, rief Iljan aus und zappelte.
„Das dachte ich, ja.“ Merkanto lehnte sich zurück und streckte die Füße zum Feuer. „Doch es dauerte einige Wochen, bis ich aufbrechen sollte. In der Zeit kam Nepumuk wieder zu sich. Obwohl wir nie gesprochen hatten, wusste er alles über mich. Ihm war sofort klar, wer ihn vergiftet hatte und er schwärzte mich an.“ Der alte Zauberer atmete tief durch. „Ich weiß noch, wie sie in mein Zimmer kamen … ich wusste sofort, dass mein Traum nun ausgeträumt war. Mein Betrug durfte nicht unbestraft bleiben und die Strafe war, dass Nepumuk ohne jede Prüfung zugelassen wurde. Tja, wie das Schicksal so spielt.“
Iljan machte ein enttäuschtes Gesicht und sank in den Sessel.
„Ich war am Boden zerstört“, fuhr Merkanto leise fort. „Aber dann, am Abend vor seiner Abreise, kam Nepumuk zu mir. Ich dachte, er wäre gekommen, um mich zu verhöhnen, aber er überraschte mich …“
Merkanto sah nachdenklich in die Flammen. So lange, dass Iljan schließlich unruhig wurde. „Onkel Merkanto?“
Der Zauberer wurde aus seinen Erinnerungen gerissen. „Ah, ja. Nun, du wirst es nicht glauben, aber dein Vater bedankte sich bei mir.“
„Was?“ Iljan starrte Merkanto an.
„So habe ich auch geguckt.“ Der Zauberer lachte. „Nepumuk war bekannt dafür, dass er niemals auch nur lächelte. Er war hart, grausam und strafte jedes Vergehen gegen seine Person so furchtbar, dass bald niemand es wagte, sich gegen ihn zu stellen. Er war rachsüchtig, ein Einzelgänger und hatte immer irgendwelche Beleidigungen parat – wenn er dich nicht ignorierte, heißt das. Aber damals, in meiner kleinen Kammer, die als Gefängniszelle fungierte, war er wie ausgewechselt. Er sprach auf Augenhöhe mit mir. Dankte mir für die Lektion, die ich ihm erteilt hatte. Er sagte, ich wäre ihm nahezu ebenbürtig und dass er nicht aufbrechen könnte, ohne mich mitzunehmen.“
„Was … Vater?!“, stammelte Iljan.
„Er hatte schon damals einen äußerst kuriosen Sinn für Gerechtigkeit, unser Nepumuk“, sinnierte Merkanto. „Er nahm mich als … wie soll ich es sagen? Es war, als wäre ich als Freund eingestellt worden.“ Der Zauberer lachte. „So seltsam das klingen mag – ich erfüllte alle Kriterien. Er vertraute mir bedingungslos. Wieso auch nicht? Er hatte mir meinen Lebenstraum erfüllt oder war dabei, das zu versuchen. Ich wäre für ihn ins Feuer gegangen. Ich unterhielt ihn, wir redeten lange zusammen, lernten zusammen … und als Nepumuk zum Grafen wurde, wurde ich sein Zauberer.“
Wieder sah Merkanto lange in die Flammen. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen. „Die Königin habe ich bis heute nie gesehen. Vielleicht erachtet sie mich eines Tages als würdig, in ihren Thronsaal zu treten. Und Nepumuk gewann unseren Kampf im Ende doch. Er gewinnt immer … aber ich kann nicht behaupten, dass er ungerecht wäre.“
Iljan tat es dem Zauberer gleich und beobachtete die tanzenden Flammen. „Das heißt … du wartest schon dein ganzes Leben auf eine Chance, die Königin zu sehen?“
„Alle 600 Jahre.“ Merkanto nickte. „Ach, irgendwann findet man sich damit ab, dass man sie vermutlich niemals sehen wird.“
„Ich nehme an, die Märchenstunde ist vorbei?“
Iljan und Merkanto sprangen beide aus ihren Sesseln auf. Nepumuk stand in der Tür, schmal und hoch, die langen Haare umspielten seine dunkel gekleidete Figur. Auf seinen Lippen lag ein blasses Lächeln und seine roten Augen glühten schwach.
„Seid Ihr bereit, aufzubrechen?“, fragte Merkanto höflich.
Der Vampir neigte leicht den Kopf, dann trat er jedoch noch einmal in den Raum. Er glitt zu Iljan, ohne dass er die Beine zu bewegen schien.
„Ich hoffe, du verzeihst mir, mein Sohn“, sagte der Graf. „Ich würde dich mitnehmen, doch ich fürchte um dich. Später wird deine Zeit gekommen sein.“
Iljan sah zu Merkanto, dann nickte er. „Ich verstehe das, Vater. Ich werde nie wieder fragen.“
Nepumuk lächelte.