»Forget the horror here. Forget the horror here. Leave it all down here. It's future rust and then it's future dust.« ~ Spanish Sahara, Foals
Kassia taumelte allein und verloren durch den Wald. Sie stieß gegen Baumstämme, stolperte über Äste auf dem Boden und verfing sich in den Dornen fremdartiger Gewächse.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, gelangte sie auf eine Wiese hinaus. Über ihr am Himmel leuchteten Sterne und in dem schwachen Licht wirkte die Fläche vor ihr friedlich. Nichts bewegte sich über das Gras, keine Monster, keine Dinosaurier, keine Feinde.
Keine Freunde.
Kassia war allein. Sie hatte die anderen auf der Flucht verloren. Jetzt, im Nachhinein, kam sie sich äußerst feige vor. Sie hätte doch darauf achten können, wohin die anderen liefen. Doch da waren die riesigen Dinosaurier gewesen, wie gewaltige Krokodile oder etwas noch Schlimmeres. Kassia zitterte. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und ging weiter. Sie durfte nicht anhalten. Sie brauchte einen sicheren Platz, Schutz vor der Kälte, vielleicht sogar eine Waffe.
Sie brauchte die anderen. Das war ihr zuvor nicht derartig klar gewesen. Doch auf sich allein gestellt hatte sie wohl kaum eine Chance in dieser lebensfeindlichen Umgebung.
Sie ging auf die Wiese hinaus, weil sie hier weit sehen konnte. Dann fiel ihr auf, dass sie selbst dann ebenfalls gut zu sehen war.
Sie wollte keinen weiteren Angriff heraufbeschwören. Am liebsten würde sie woanders sein. Ihre Erinnerung reichte nicht weit, doch in ihrem Gedächtnis spukten schemenhafte Schatten, die ihr etwas von einem „Früher“ vorgaukelten.
Ein Zuhause, ohne Gefahren. Kassia wünschte sich nichts sehnlicher, als dorthin zurückzukehren. Wenn es einen Weg gab, musste sie ihn finden. Sie gehörte nicht an diesen Ort. Sie war keine Kriegerin, keine Wilde. Sie war … einfach nur Kassia.
Mit einem leisen Seufzen riss sie sich zusammen. Alles Jammern half auch nicht. Sie musste einen sicheren Ort finden. Während sie ging, bürstete sie sich mit den Fingern Blätter und Zweige aus den langen Haaren. Sie überlegte, wie sie die anderen finden sollte. Sie hatten sich vielleicht in alle Himmelsrichtungen verteilt – wenn sie den Angriff überlebt hatten. Kassia wollte sich lieber nicht ausmalen, wie es wäre, nur noch die Leichen der anderen zu finden. Trotzdem drängten sich die Bilder ihr auf, und zwar so heftig, dass sie beinahe einen kleinen Hang hinab stürzte. Sie fing sich im letzten Moment ab und starrte in die Tiefe. Bestimmt fünf Meter. Nein. Sicherlich mehr.
Sie taumelte zurück, als ihr schwindelig wurde.
„Es ist nur ein Hang!“, redete sie sich ein, laut, damit die Angst ihre Stimme nicht übertönen konnte. „Nur ein kleiner Hang.“
Zitternd suchte sie einen Weg hinunter und fand einen steilen Weg. Sie kletterte nach unten, während ihre Muskeln nicht nur vor Anstrengung zitterten. Ihre Knie wurden immer weicher, bis sie sich schließlich auf den Hosenboden setzte und das letzte Stück nicht sehr elegant, dafür aber sicher hinunter rutschte. Am Fuß der Klippe setzte sie sich eine Weile in den kalten Sand und atmete tief durch. Der Schreck und die Angst waren ihr in die Glieder gefahren. Sie hatte das Gefühl, nie wieder vernünftig atmen zu können.
Von unten war die Klippe nicht mehr so hoch. Drei Meter, schätzte Kassia und kam sich albern vor. Sie stand auf und ging unsicher weiter. Nicht weit entfernt hörte sie Wasser. Nah an der Klippe lagen Steine verstreut, zwischen denen sich alles mögliche verstecken konnte. Allerdings konnte sich hier auch eine Kassia verstecken. Es dauerte nicht lange, bis sie eine Art Höhle fand, ein kleines Rondell aus Steinen, das nur einen einzigen, versteckten Eingang hatte. Außerdem ragte die Klippe weit genug über den Felsen, dass es hier relativ trocken war. Und windgeschützt.
Eine ganze Weile saß Kassia nur mit dem Rücken an der Felswand, atmete und versuchte, die nagende Unsicherheit zu bekämpfen. Sie hatte furchtbare Angst, aber sie musste sich jetzt zusammenreißen. Untätigkeit konnte ihr nicht weiterhelfen. Panik auch nicht. Sie wünschte, es wäre so einfach, wie es in ihren Gedanken klang. Es wurde einfacher, als die Sonne aufging.
Sie fasste einen Plan. Wenn sie die anderen wiederfinden wollte, musste sie sie vielleicht zu sich locken. Sie brauchte etwas Auffälliges, so groß das Risiko auch war.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, und wagte sich wieder aus ihrem Versteck. Es war verlockend, einfach dort zu bleiben. Aber langsam machte sich auch der Hunger bemerkbar, vor dem sie sich nicht verstecken konnte.
Kassia begann, systematisch den Strand abzusuchen. Sie befand sich am Rand eines breiten Flusses. Hier wuchsen viele kleine Bäume. Außerdem lebten hier verschiedene Tiere: Kleine, plumpe Vögel, etwas größere Raubsaurier, die Gift spuken konnten und ab und zu sah sie einen Dino mit drei mächtigen Hörnern. Sie hielt sich von allem fern, während sie Zweige und Äste zusammensuchte. Bald schmerzten ihre Finger von der harten Arbeit und sie schwitzte in der Hitze. Aber sie hatte etwas zu tun. Am Vormittag fand sie einen Beerenbusch, den sie fast sofort leer aß. Zu spät erinnerte sie sich, dass es sich bei den schwarzen Beeren um Narcobeeren handelte. Sie verschlief den halben Tag und fühlte sich danach allerdings weder hungrig noch müde.
Gegen Abend hatte sie viel mehr Holz zusammen, als sie brauchen würde. Sie nahm allen Mut zusammen, um mit einem Bündel davon die Klippe wieder hoch zu klettern. Einmal rutschte sie beinahe ab und hätte ihr Vorhaben am Liebsten abgeblasen. Aber das ging nicht.
Endlich oben baute sie das Holz zu einem Lagerfeuer auf, wie sie es bei Thanatos gesehen hatte. Sie versuchte, mit zwei Steinen Funken zu schlagen. Tatsächlich rauchte der Feuerstein bei jedem Schlag, doch die Funken trafen lieber Kassias Finger, statt sich in dem trockenen Holz festzubeißen. Als die Sonne schon unterging, kam sie auf die Idee mit dem Reisig und lief nochmal los, um trockenes Gras zu suchen. Das brannte tatsächlich besser als die Äste. Nach zwei weiteren Fehlversuchen, in denen sie das Feuer aus Versehen wieder aus gepustet hatte, brannte das Leuchtfeuer endlich.
Kassia gestattete sich ein erleichtertes Seufzen. Der helle Schein würde weithin zu sehen sein. Wenn die Anderen noch lebten, würden sie Kassia finden.
Sie kletterte nochmals nach unten. Am Boden angekommen, schwor sie sich hoch und heilig, nie wieder in ihrem Leben zu klettern, wohl wissend, dass sie das Versprechen wohl kaum einhalten konnte. Sie kroch in ihre behelfsmäßige Höhle zurück und zog die Beine vor die Brust.
Inzwischen hatte sie wieder Hunger. Außerdem war ihr kalt. Das Feuer beleuchtete auch den Strand vor ihr und ließ die Schatten im aufgewühlten Sand unheimlich tanzen. Seltsame Geräusche drangen an ihre Ohren, Kreischen und Keckern, wie von Vögeln, doch ungleich gruseliger.
Irgendwann schlief sie ein. Immer wieder sackte ihr der Kopf auf die Brust und sie wurde wieder wach. Mal schreckte ein Geräusch sie auf, dann wieder ein kalter Windstoß. Die Nacht wurde zu einem Alptraum, und in keinem Moment war sie sich sicher, ob sie wach war oder träumte. Mehr als einmal starrte sie plötzlich in die orangen Augen einer großen, hungrigen Kreatur, nur, damit diese beim nächsten Blinzeln verschwunden war.
Irgendwann übermannte sie die Erschöpfung und sie rollte sich auf dem Strand zusammen. Das Feuer brannte weiter, versprach die Hoffnung auf Hilfe, auf Freunde, die sie finden würden.
Wenn es keine Raubtiere anlockte.