Lucy schob sich geduckt durch das hohe Gebüsch. Es regnete und sie fror, mit all dem Wasser, das über ihre Haut lief. Aber sie genoss die Möglichkeit, von den Anderen weg zu kommen, die hitzig über diverse Pläne von Mikail diskutierten.
Da Lucy die Jüngste in der Gruppe war, wurden ihre Vorschläge von den meisten nicht ernst genommen, besonders Thanatos musste immer wieder darauf hinweisen, wie unüberlegt sie redete. Zudem hatte Lucy wenig Lust, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie groß ihr Haus werden sollte, konnte und musste. Ihr schwirrte der Kopf so sehr, dass sie begann, die Bedeutungen der verschiedenen Wörter durcheinander zu werfen, und es interessierte sie nicht groß.
Also hatte sie beschlossen, jagen zu gehen. Ashley, die sich in der großen Gruppe nicht wohl zu fühlen schien, hatte sich ihr angeschlossen. Die andere war schweigsam und hielt ihre Umgebung im Auge, zwei Eigenschaften, die Lucy sehr zu schätzen wusste. Ashley war gerade erst erwachsen oder vielleicht noch jünger, und somit vielleicht am nächsten an Lucys Alter. Die junge Frau mit dem Tattoo auf dem Rippenbogen folgte Lucy in einigem Abstand und reckte den Kopf, um eine Gefahr möglichst früh zu erkennen.
Kassia hatte sie gebeten, ein paar Beeren zu pflücken, denn ihre Vorräte gingen schneller zur Neige, je größer die Gruppe wurde. Halbherzig fuhr Lucy mit den Fingern durch die dürren Sträucher zu beiden Seiten und stopfte sich ziemlich wahllos die bunten Beeren in die Tasche. Nur die schwarzen Narcobeeren sortierte sie in die andere Tasche.
„Lucy, geh nicht so schnell!“
Ashleys Stimme war hell und sanft, ein bisschen wie eine Feder und wurde bei den Diskussionen viel zu selten gehört. Lucy überlegte, ob sie eine patzige Antwort geben und weiter stapfen sollte, aber im Grunde mochte sie die schüchterne Jugendliche und bewunderte die abstrakten Tattoowierungen. Also wartete sie, bis Ashley sie eingeholt hatte.
Die Größere trug einen Speer, den Thanatos ihr geliehen hatte: „Das Gelände ist zu unübersichtlich.“
Lucy seufzte. Ashley war bestimmt einen Kopf größer als sie. Die Farne überragten Lucy ein ganzes Stück. Für sie war so ziemlich jedes Gelände unübersichtlich.
„Wir können ja wieder zurück gehen“, seufzte sie. Ihr taten die Füße langsam weh und sie hätte ein kleines Königreich gegeben – wenn sie eines besessen hätte – um ein Paar Schuhe zu erhalten.
Ashley sah sich wieder um: „Das ist vielleicht besser.“
Lucy stöhnte, während sie umdrehte: „Dann wieder zurück zu den Diskussionen!“
„Immerhin ist es dort trocken“, meinte Ashley schulterzuckend.
Sie waren nicht weit gegangen, als die Jugendliche Lucy an der Schulter fasste: „Da vorne!“
Die Braunhaarige deutete auf etwas vor ihnen. Lucy stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, doch sie konnte nichts erkennen: „Was ist da?“
„Leise!“, zischte Ashley, dann fluchte sie: „Er kommt direkt auf uns zu! Lauf!“
Das Mädchen stürmte los und Lucy folgte ihr langsamer. Als sie einen Blick über die Schulter warf, sah sie die Farne hinter sich rascheln. Etwas verfolgte sie! War man in diesem Land denn niemals sicher?
Ihr blieb keine Zeit, weiter düsteren Gedanken nachzuhängen, denn der Verfolger war schneller als sie. Ein ziemlich hässliches Gesicht mit einem doppelten Kamm auf der Echsennase tauchte zwischen den Büschen auf und schnappte nach Lucy.
Sie schrie und sprang zur Seite. Die Zähne kratzen über ihren Unterarm und zogen blutige Striemen.
„Lucy!“, rief Ashley und hielt an, den Speer vor sich gerichtet.
Doch die kleine Echse ignorierte Ashley und sprang Lucy wieder an. Das Mädchen sprang wieder zur Seite, diesmal schnell genug. Ashley warf ihren Speer, doch die Waffe zischte wirkungslos über der Echse durch die Luft. Lucy hatte inzwischen eine Hand zur Faust geballt und prügelte auf die Echse ein. Der Angreifer keckerte und schnatterte. Statt wieder zu beißen, spannte das Tier einen Kragen hinter dem Kiefer auf. Der runde Fächer, der damit entstand, zitterte und etwas traf Lucy brennend in die Augen. Sie zog die Lippen zurück und schlug wieder und wieder zu.
„Lucy! Alles gut?“
Als sie sich den grünen Film von den Augen rieb, sah Lucy das Echsenwesen vor sich liegen, die Schnauze blutig und die Augen geschlossen. Ihre Hände schmerzten.
„Mir geht’s gut“, sagte sie und sah auf den besiegten Gegner. Die Echse atmete noch!
Ashley bemerkte Lucys Blick wohl auch und wich vor dem bewusstlosen Tier zurück.
Lucy wollte schon aufstehen und gehen, als ihr einfiel, dass das Tier vermutlich ihrer Spur folgen konnte. Sie zögerte einen Moment, dann griff sie in die Tasche und zog ein paar Narcobeeren heraus. Nacheinander – sehr vorsichtig – steckte sie die Beeren in das Maul der Echse.
„Die verfolgt uns so schnell nicht mehr!“, knurrte sie und fügte hinzu: „Ich hoffe, die sind in größeren Mengen giftig.“
„Dann wäre Henry schon tot“, meinte Ashley leise und Lucy musste lachen. Ashley lächelte unsicher zurück.
Die Echse schmatzte leise, als sie die erste Beere fraß.
„Glaubst du, wir könnten das Vieh zähmen?“, fragte Lucy nachdenklich.
Ashley starrte sie an.
Lucy zuckte mit den Achseln: „Klappt doch auch mit Straßenhunden. Man hält ihnen ein Steak vor die Nase und sie folgen dir bis in den Tod.“
„Wir haben aber kein Steak“, meinte Ashley.
Lucy dagegen grinste breit: „Hast du deinen Speer noch? Auf den Wiesen gibt es doch haufenweise Urzeithühner.“
„Du meinst Dodos, oder?“
Etwa fünf Minuten später lief Lucy mit dem Speer hinter einer Gruppe der plumpen Vögel her, während Ashley sich wohl lieber die Augen zugehalten hätte. Selbst Lucy taten die Vögel leid, die überhaupt keine Angst vor den Menschen zu haben schienen, und einen Ausdruck verdutzter Unschuld im Gesicht trugen, wenn Lucy sie mit dem Speer durchbohrte. Sie war fast erleichtert, als das trockene Holz nach dem fünften Dodo zersplitterte und sie die Restlichen laufen lassen konnte.
Eilig sackte sie das Fleisch ein und suchte gemeinsam mit Ashley die Stelle, wo der betäubte Fleischfresser noch immer lag.
„Ich glaube, die heißen Dilophosaurier“, meinte Ashley schüchtern, während Lucy dem Wesen das Fleisch vor das Maul legte.
„Viel zu lang“, maulte sie: „Ich nenne ihn Oskar.“
„Oskar?“, wiederholte Ashley zweifelnd, aber Lucy nickte entschlossen und grinste.
Der Saurier regte sich wie im Schlaf. Ashley zuckte zurück und Lucy hob eine Faust, um das Tier im Notfall erneut zu Boden zu schlagen. Aber Oskar träumte friedlich weiter und verschlang dabei einen Streifen köstlichen Dodos.
„Was für eine Fressmaschine!“, staunte Lucy: „Erinnert mich an Jemanden, den ich kannte. Glaube ich.“
Ashley schwieg, als wüsste sie nicht die richtige Frage, die zu stellen sei. Aber Lucy wollte auch nicht über ihre Vergangenheit sprechen, die wie in einem Nebel verschwunden schien.
Sie fuhr zurück, als Oskar plötzlich schnatternd aufsprang. Entsetzt landete sie auf dem Hosenboden, weil sie über einen Stein stolperte und tastete hinter ihrem Rücken nach einer Waffe.
Oskar sprang auf sie zu, schneller, als sie reagieren konnte.
Und rieb seinen schuppigen Kopf an ihrer Schulter.