Kassia blieb fast das Herz stehen, als sie Lucy und Ashley zurückkommen sah. Eine von den fleischfressenden Echsen folgte den Beiden. Sahen sie denn die Gefahr nicht?
Ohne zu überlegen schnappte sich Kassia einen der Speere von dem kleinen Stapel und hetzte den gewundenen Bergpfad hinunter, ihre Höhenangst vergessend.
„Lucy, vorsicht!“, schrie sie.
Zu ihrem Erstaunen wich Lucy nicht aus der Schussbahn.
„Hinter dir!“, rief Kassia und lief auf das Mädchen zu: „Es will euch fressen.“
Lucy grinste: „Kassia, darf ich dir Oskar vorstellen?“
Kassia erstarrte, als das Tier neben Lucy auftauchte und den knochigen Kopf an dem Mädchen rieb. Sie packte Lucy am Handgelenk und riss sie von ihm weg.
„Au! Tu ihm nicht weh!“, rief Lucy schrill und packte Kassias Speer, bevor sie ihn werfen konnte. Kassia war nicht stark genug, um Mädchen und Speer gleichzeitig zu handhaben.
Oskar legte den Kopf schier und trottete dann zu Lucy. Kassia sah schon ein blutiges Gemetzel, aber wieder tat die Echse nichts.
„Was ist passiert?“, fragte sie verwirrt, als keine unmittelbare Gefahr bestand.
„Er hat uns angegriffen“, erklärte Lucy. Sofort zog Kassia das Mädchen wieder aus der Reichweite der etwa hundsgroßen Echse und musterte sie: „Bist du verletzt?“
„Es geht mir gut!“, ungehalten wehrte Lucy Kassias Hände ab: „Er ist zahm.“
„Zahm?“, fragte Kassia und beobachtete die Echse misstrauisch.
Lucy nickte und streichelte Oskar wie zum Beweis zwischen den Höckern auf dessen Schnauze.
„Es ist ein Raubtier“, ertönte Thanatos' dunkle Stimme hinter ihnen. Der Mann trat zu ihnen: „Wie willst du ihn füttern?“
Lucy hob stolz die Ledertasche, die Mikail ihnen gebastelt hatte: „Fleisch. Wir haben Dodos gejagt. Und Oskar ist eine prima Hilfe. Nicht wahr, mein Kleiner?“
Sie umarmte die Echse schon wieder. Kassia merkte, dass sie sich nicht entspannen konnte. Ihre Instinkte rieten ihr, vor der Echse zu fliehen. Und mehr noch wollte sie Lucy aus dessen Reichweite ziehen. Was, wenn die Echse das Mädchen im Schlaf überfiel? Kassia würde sich das nie verzeihen.
Thanatos nahm ihr den Speer ab und sagte zu Lucy: „Das Vieh kommt mir nicht ins Haus. Du wirst ihn hier unten lassen.“
Lucy verzog das Gesicht und streichelte Oskar weiter: „Dann bleibe ich auch hier.“
Thanatos zuckte mit den Schultern: „Wenn du gefressen werden willst.“
Er ging wieder nach oben, während Kassia ihm sprachlos hinterher starrte und Lucy trotzig die Arme vor der Brust verschränkte. Ashley schlich sich schweigend hinter Thanatos her und warf nur einen unsicheren, entschuldigenden Blick zu Lucy.
„Bleibe ich halt hier“, erklärte das Mädchen stur.
„Nein“, sagte Kassia: „Du kommst mit nach oben! Hier unten kann dir alles mögliche passieren!“
Lucy zeigte einen grimmigen Gesichtsausdruck: „Soll es doch!“
„Ich verbiete es dir“, sagte Kassia.
„Du bist nicht meine Mutter!“, fauchte Lucy zurück.
„Nein, aber ich will trotzdem nicht, dass dir was passiert“, Kassias Stimme wurde wieder sanfter. Sie wollte sich nicht streiten.
Das zeigte die erhoffte Wirkung. Lucys Schultern sackten nach unten, als sie nachgab: „Aber was wird aus Oskar?“
„Er kann alleine überleben“, tröstete Kassia das Mädchen: „Du wirst ihn ja immer noch jeden Tag sehen. Und füttern müssen!“
Bei dem Gedanken, dass sich das Mädchen einer hungrigen Bestie mit einem kleinen Stück Fleisch nähern musste, drehte sich Kassia der Magen um. Sie überlegte, ob sie sich von Mikail einige Stricke leihen sollte, um Lucy in der Hütte zu fesseln, damit sie sich nicht in Gefahr begab.
Als sie oben ankamen, hatte sich die Neuigkeit von Oskar bereits in der kleinen Gruppe herumgesprochen. Eine ziemlich verzweifelt aussehende Ashley wehrte die neugierigen Fragen der anderen Überlebenden ab. Als Lucy auftauchte, meinte das Mädchen: „Lucy hat ihn gezähmt!“ und verschwand schnell in der Hütte, als die neugierige Gruppe Lucy auszufragen begann. Kassia stand daneben und beobachtete mit wachsendem Missfallen, wie schnell Lucy in ihrer Rolle aufging und die Geschichte wieder und wieder erzählte – wie Oskar sie angefallen hatte und sie ihn heldenhaft Niedergeschlagen hatte, um ihm dann Narcobeeren und Fleisch zu geben.
„Du siehst nicht glücklich aus“, meinte eine Stimme.
Kassia sah auf und entdeckte den Neuankömmling, der sich Galileo Figaro genannt hatte. Er grinste ironisch.
„Nein“, sagte Kassia und beschloss, ehrlich zu sein: „Mir gefällt das nicht.“
„Du hast ja auch recht“, kam er ihr unerwartet zu Hilfe: „Dilophosaurier sind Fleischfresser, und noch dazu giftig. Und generell ist es vielleicht keine gute Idee, Dinosaurier zu zähmen.“
„Du kennst dich damit aus?“, fragte Kassia.
„Mit dem Zähmen?“, Galileo lachte: „Nein.“
„Mit Dinosauriern“, verbesserte Kassia: „Du weißt, wie sie heißen. Ansonsten hat nur Ashley eine Ahnung davon.“
„Ashley war die mit den Tattoos, oder?“, meinte Galileo und strich sich über die Haare. Sie waren lang für einen Mann, fielen ihm in einem Zopf bis auf den Rücken.
Kassia nickte.
„Ich glaube, ich kannte mich mal gut mit ihnen aus“, sagte Galileo mit konzentriertem Gesicht: „Aber ich kann mich kaum erinnern.“
„Das kann keiner von uns“, sagte Kassia. Langsam verstreute sich die Gruppe um Lucy. Sie waren damit beschäftigt, an dem Fundament für ihr Haus zu bauen. Die Arbeit hielt die Meisten auf Trab, obwohl eigentlich nur Henry und Mikail gebraucht wurden; Henry, weil er die Materialien schleppen konnte und Mikail, weil er wusste, wo alles hingehörte. Der Rest lief zwischen den beiden herum und schien Mikail in den Wahnsinn zu treiben.
„Ich erinnere mich, dass man mich Core genannt hat“, erklärte Galileo langsam und rieb sich die Stirn: „Ich glaube, mein Gedächtnis kommt langsam wieder.“
Kassia sah ihn überrascht an: „Echt? An was erinnerst du dich noch?“ Sie war neugierig. Bestand die Chance, dass sie ihre eigenen Erinnerungen zurückerhalten würde?
„Nichts“, meinte Galileo achselzuckend: „Und du?“
Kassia zögerte, bevor sie antwortete. Es waren noch ein paar verschwommene Bilder und Eindrücke geblieben. Sie war sich inzwischen sicher, dass sie früher ein anderes Leben geführt hatte. Aber alles war zu undeutlich, um genaueres zu sagen.
„Ich glaube, es gab viel Streit“, erklärte sie zögerlicher: „Und ich hasse Streit.“
Galileo nickte, dann seufzte er: „Ich werde mich mal erkundigen, wo ich helfen kann.“
Er ließ sie stehen und schlenderte zu Thanatos. Kassia beobachtete nachdenklich, dass er mit dem dunkelhäutigen Mann relativ schnell Freundschaft zu schließen schien.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe und dachte nach. Wie könnte sie sich an ihre Vergangenheit erinnern? Und wollte sie das überhaupt?