Die Nacht war kalt und dunkel. So dunkel, dass Kassia die Sterne winzig und weit entfernt vorkamen.
Sie lauschte dem ruhigen Atem der anderen und den fernen, fremdartigen Geräuschen dieses Ortes.
Es war schon seltsam. Sie konnte sich an kein anderes Leben erinnern, aber trotzdem wusste sie, dass sie sich an diesen Ort nicht gewöhnen konnte. Niemals.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper und zitterte. Sie fror, dabei war es eigentlich sehr warm in der Hütte.
Wie aus dem Nichts hatte ein Gefühl von Einsamkeit sie überrollt. Eben noch war sie dabei, einzuschlafen, erschöpft von dem langen Tag, der hinter ihr lag, und zufrieden mit den Fortschritten, die die kleine Gruppe machte.
Und dann war dieses Gefühl plötzlich da und zog sie in eine kalte Tiefe.
Es war nicht das erste Mal. Immer und immer wieder hatte Kassia diese Anfälle, als würde sie sich an einen geliebten Verstorbenen erinnern. Nur, dass sie sich nicht erinnern konnte, was es umso schlimmer machte.
Sie würde nur zu gerne mit jemandem darüber reden, aber dann hatte sie auch nicht den Mut dazu, jemanden wegen eines unbestimmten Gefühls zu wecken. Sie kam sich albern vor, sie war eine alberne, dumme Gans. Und an wen sollte sie sich überhaupt wenden? Wer in dieser Gruppe wollte ihr zuhören? Es hatten bestimmt alle die gleichen Probleme, nur sie kam nicht damit zurecht.
Sie rollte sich zu einem festen, kleinen Ball zusammen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und langsam stiegen die Tränen auf. Sie war so schwach! So dumm.
Sie schniefte leise, als die ersten Tränen über ihre Wangen liefen. Sie spürte, dass sie einen Heulkrampf nicht mehr lange aufhalten konnte. So leise, wie es ihr noch möglich war, stand sie auf, kletterte über die schlafenden Gestalten hinweg und nach draußen, wo es wirklich kalt war.
Sie schloss die schmale Tür lautlos hinter sich.
Fast von selbst drang ein Wimmern aus ihrer Kehle. Wie viele Menschen hatte sie einfach vergessen? Was hatte sie über sich selbst vergessen? Wieso konnte sie sich nicht erinnern, obwohl sie ganz sicher wusste, dass dort etwas war, an das sie sich erinnern sollte. Und warum konnte sie nicht stark sein?
Sie kniff die Augen fest zusammen, und in diesem Moment tauchten zwei Gesichter in ihrem Kopf auf, ein Mann und eine Frau.
Die Frau war wunderschön, wenn man ihr auch das Alter ansah. Sie hatte den Mund zu einem stummen, flehenden Schrei aufgerissen und schien Kassia anzubetteln.
Der Mann schaute grimmig.
Beide Gesichter veränderten sich, weder die Haarfarbe noch die Züge konnte Kassia genau bestimmen. Nur ein allgemeiner Eindruck war ihr gegeben.
Mit diesen Gesichtern kam ein neues Gefühl, ein tiefes, schreckliches Entsetzen. Sie spürte plötzlich Schmerzen im Bauch, obwohl dort nichts war. Wimmernd sank sie auf die Knie. Die Tränen liefen ungehindert, ein Sturzbach, für den sie sich schämte.
„Mutter“, flüsterte sie.
Sie war sich sicher, ohne Zweifel, dass es die Gesichter ihrer Eltern waren. Die Angst die sie bei der flüchtigen Erinnerung empfand, entsetzte sie. Sollte sie ihre Eltern nicht lieben? Und warum nur erinnerte sie sich nicht an sie? War sie eine so schlechte Tochter gewesen?
Kassia hatte das Bedürfnis, laut zu schreien. Sie wollte etwas zerstören, verletzten, und die ganze Welt an ihrem Leid teilhaben lassen. Sie wollte sich selbst verletzten, denn herausschreien durfte sie ihre Angst, ihre Verzweiflung und Verwirrung nicht.
Vor ihren Augen verschwammen und verblassen die Sterne, als Tränen ihre Sicht nahmen. Kassia weinte wie ein Schlosshund, schämte sich und konnte doch nicht aufhören.
Bis sie ein Geräusch hörte. Sie wirbelte herum und vor Schreck versiegten ihre Tränen. Was war das? Ein Dinosaurier? Etwas Gefährlicheres?
„Ähh – Kassia?“, fragte eine leise Stimme: „Bist du das?“
Sie konnte ihrer Stimme nicht trauen. Kassia räusperte sich: „Ja.“
Sie hoffte, dass man ihr nichts anhörte. Jetzt erkannte sie auch die Stimme von Mikail.
„Was tust du hier draußen?“
„Ich … konnte nicht schlafen“, log sie lahm.
Der Mann trat aus dem Schatten der Hütte heraus. Er war ihr durch die Tür gefolgt, das Geräusch hatte sie gehört.
„Mir geht es genauso“, sagte Mikail: „Zu viele Sachen im Kopf. Ideen. Und … Gedanken.“
Er klang so, als würde er mit sich selbst reden. Deshalb – und durch die Dunkelheit – war Kassia sich sicher, dass er ihre Tränen nicht sehen würde.
Mikail stellte sich neben sie: „Ich mag Nächte. Nachts bin ich am kreativsten.“
„Echt?“, fragte Kassia mit schwacher Stimme.
Sie sah, das Mikail nickte, bevor er sich die Brille zurück auf die Nase schob: „Ich übertreibe wohl ein bisschen mit dem Haus.“
Kassia musste unwillkürlich lächeln: „Die Bank fand ich eine gute Idee.“
„Echt?“, fragte Mikail überrascht und sah sie an.
Kassia nickte. Als Mikail wegsah, wischte sie verstohlen ihre Tränen fort.
Sie schwiegen. Kassia wusste nicht, was sie noch sagen sollte, und Mikail schien ganz in der Betrachtung des Sternenhimmels versunken.
Sie machte einen Schritt zurück: „Ich denke … ich gehe dann mal schlafen.“
„Kassia?“
Sie blieb stehen und merkte, dass Mikail sich umgedreht hatte. Ehe sie reagieren konnte, zog er sie in eine kurze Umarmung: „Falls du mal jemanden zum Reden brauchst, ich bin für dich da.“
Kassia starrte Mikail nur sprachlos an, auch, nachdem er sie losgelassen hatte. Er wand sich unter ihrem Blick und wurde nervös: „Hab ich was falsches gesagt? Ich dachte, ich hätte dich weinen gehört, und -“
„Nein. Ähm. Danke“, sagte Kassia, die sich langsam von dem Schreck erholte. Sie zögerte unsicher, dann umarmte sie Mikail ihrerseits und wiederholte: „Danke!“
Die Nacht war ungewöhnlich warm.