„Steh auf.“
Die Stimme riss Nokori direkt aus dem Tiefschlaf. Etwas an Thanatos' Tonfall weckte uralte Instinkte in ihr. Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf.
Es war noch dunkel. Nokori brauchte eine Weile, um den dunklen Schatten von Thanatos auszumachen, der neben ihrem Schlafsack aufragte. Sie fuhr zurück, als etwas durch die Luft zischte und ein Windstoß ihr Gesicht traf.
„Gut“, sagte Thanatos.
Im schwachen Licht konnte Nokori seine Hand ausmachen, die wenige Zentimeter vor ihr schwebte. Er hatte sie beinahe geschlagen!
Noch vollkommen verwirrt ergriff sie die größere Hand und ließ sich von Thanatos auf die Füße ziehen. Er führte sie nach draußen und reichte ihr einen Speer.
Übermüdet rieb Nokori sich Schlaf aus den Augenwinkeln. Nach dem ersten Schrecken ließ das Adrenalin nach und sie spürte den fehlenden Schlaf deutlich.
„Was ist denn los?“, maulte sie.
„Du willst eine Kriegerin sein. Dann lern' kämpfen“, erklärte Thanatos knapp. Mit dem letzten Satz sprang er bereits auf sie zu und stach mit dem Speer nach ihrer Seite. Erschrocken machte Nokori einen Sprung und entging der Steinspitze.
„Weich nicht nach hinten auf“, brummte Thanatos: „Dann kann ich dich ganz leicht in eine Ecke drängen.“
Er stach zwei weitere Male zu, dann spürte Nokori die Hauswand im Rücken. Ohne Möglichkeit, weiter zurück zu weichen, starrte sie den Speer an, der auf sie zu schoss – und sich neben ihr in das Stroh bohrte.
„Hörst du mir nicht zu?“, fragte Thanatos grimmig.
„D-doch“, sagte Nokori, die einen leichten Schweißfilm auf der Haut spürte: „Aber es ist so früh!“
„Die Bestien da draußen werden nicht darauf warten, dass du wach geworden bist“, erklärte Thanatos, zerrte den Speer aus der Wand und trat zurück auf die kleine, freie Fläche vor der Hütte.
Nokori folgte ihm und atmete mehrmals tief durch. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie waren schon immer ihre primären Sinne gewesen, und sie war sich deutlich bewusst, wie stark sie sich auf das Sehen verließ. Mit kräftigen Fingern packte sie den Speer und trat Thanatos entgegen. Er war dabei, sie zur Kriegerin auszubilden! Er jetzt drang die Situation wirklich zu ihr durch. Er akzeptierte, dass sie kämpfen wollte.
„Los geht’s!“, knurrte sie und hob den Speer.
Thanatos grinste hämisch: „Jetzt greifst du mich an!“
Nokori packte den Speer nochmals neu und sprang auf Thanatos zu, der den Angriff lachend abwehrte: „Du hast mir ein Zeichen gegeben, bevor du angreifst. Du darfst nicht einatmen, oder den Speer neu fassen oder irgendwas tun! Sei still wie ein Stein und schlag dann zu wie eine Schlange.“
Nokori blieb still wie ein Stein und stieß zu. Wieder wehrte Thanatos ihren Angriff mit Leichtigkeit ab: „Was war das? Ein angreifendes Faultier?“
Nokori knurrte wütend und stieß weiter zu, ohne darauf zu warten, dass Thanatos seinen Spott beendete. Er rechnete damit und schlug ihren Speer zur Seite, während er Schritt für Schritt zurück wich. Dann machte er plötzlich einen weiten Ausfall zur Seite und wirbelte um Nokori herum. Irgendwie landete seine Speerspitze an ihrem Hals und trieb sie nach hinten, bis ihre Füße plötzlich abrutschten.
Entsetzt klammerte Nokori sich an den Speer und realisierte, dass sie am Abgrund stand und beinahe gefallen wäre.
„Du darfst dich auch nicht von Wut leiten lassen“, belehrte Thanatos sie. Inzwischen waren ein paar blasse Gesichter im Eingang der Hütte aufgetaucht, die ihren Kampf beobachteten. Der Lärm der aufeinanderprallenden Speer musste sie geweckt haben.
Nokori stieß Thanatos' Speer zur Seite und hob ihre Waffe: „Weiter!“
Als das Frühstück endlich vorbereitet wurde, war Nokori schweißüberströmt und dankbar für die Pause, die Thanatos ihr genehmigte. Während sie sich hungrig über ein Stück Fleisch her machte, hielt ihr der Dunkelhäutige einen Vortrag, dem sie nur mit halbem Ohr lauschte.
„Ich hätte dich unzählige Male verletzten können. Das muss dir klar sein. Normalerweise würde ich es tun, denn man lernt durch nichts schneller als durch Schmerzen, aber du wirst die Tage über deine Aufgabe erfüllen müssen. Also musst du doppelt aufmerksam sein, wenn ich dir sage, dass du getroffen worden wärst.“
„Hmm-hm“, machte Nokori, den Mund voller Fleisch. Ihre Aufgabe! Sie konnte gleich mit den Sammlern losziehen und diese überwachen und wäre Thanatos endlich los!
„Iss nicht so viel“, sagte Thanatos: „Du wirst gleich noch Krafttraining machen.“
„Was?“, entfuhr es Nokori entsetzt.
„Eine halbe Stunde lang können die Sammler auf ihre Wache verzichten. Du wirst die Zeit nutzen, um dich zu trainieren“, sagte Thanatos mit kalter Stimme: „Liegestütze, Sit-Ups, Kniebeugen und alles, was mir sonst noch einfällt. Mindestens 50 Stück, weil heute dein erster Tag ist.“
Die Welt schien sich um Nokori herum zu drehen.
„50 Liegestütze?“, wiederholte sie entgeistert.
Thanatos nickte: „Und du wirst jede einzelne gut machen.“
Nokori schluckte ihr Fleisch herunter, als Thanatos aufstand und zu Mikail ging, um die „Einkaufsliste“ für diesen Tag abzuholen. Sie knabberte unglücklich an ein paar Beeren, während Mikail massenhaft Holz bestellte und die Sammler lange Gesichter zogen, weil sie das ganze schleppen mussten. Lucy schnappte sich eine Holzschaufel, die Mikail ihr gemacht hatte, um das kleine Gehege von Oskar und Scaramouche/Diana zu säubern. Galileo folgte ihr ein wenig später, vermutlich, um sich auf die Steine zu setzen, die das Gehege inzwischen umgaben, und Lucy auszulachen.
Als auch die Sammler gegangen waren und Mikail mit Henry auf das Dach kletterte, das sie in den nächsten Tagen fertig stellen würden, trat Thanatos auf Nokori zu: „Also los, Hände und Füße auf den Boden, der Körper ist ein festes Brett. Und jetzt die Arme beugen – nein, der Hintern bleibt nicht oben, der geht mit – tiefer. Noch tiefer. Die Nase berührt den Boden – NUR die Nase! Noch mal von vorne!“
Nokori unterdrückte eine Auswahl erlesener Schimpfworte.