„Nokori, was tun wir hier noch?“, fragte Ashley leise.
Nokori lag flach auf dem Bauch neben ihr und beobachtete die gewaltige Mauer. Kein Wunder, dass Ashley Ehrfurcht vor diesen Menschen hatte – ihr Lager glich einer Festung! Hinter der hohen Mauer aus Beton röhrten verschiedene Saurier.
„Lass uns gehen, ja?“, fragte Ashley wieder. Ihre leise Stimme klang verzweifelt. „Lass uns gehen, Noko!“
Nokori schüttelte Ashleys Hand ab. Sie hatte einen Auftrag, von dem die Andere nichts wusste. Und Nokori würde Thanatos nicht enttäuschen.
„Geh du zurück. Ich komme nach. Ich finde dich schon irgendwie“, meinte Nokori.
„Was hast du vor?“, fragte Ashley, aber Nokori drückte sich ohne weitere Umschweife hoch und lief auf das Lager zu.
Drachenblut nannten sich diese Menschen. Früher am Abend hatten sie eine Gruppe von ihnen belauscht, die mit ihren gewaltigen Pflanzenfressern Holz zum Lager brachten. Drachenblut.
Nokori gefiel der Klang dieses Namens. Warum eigentlich besaß Thanatos' Gruppe keinen solchen Namen?
Sie erreichte die gewaltige Mauer, die sich aus der Nähe wie ein Berg in den Himmel streckte, und drückte sich in ihren Schatten. Erstaunt bemerkte sie, dass Ashley ihr gefolgt war.
„Was tust du? Die erwischen uns!“, flüsterte die Andere. Ihre Augen waren weit aufgerissen, aber sie tat auch nichts, um Nokori aufzuhalten. Grimmig bohrte diese ihre Finger in den Mörtel, der die Betonplatten zusammen hielt. Das bot ihr genug Halt, um zu klettern.
Ihre Muskeln spannten sich unter der Haut, während sie sich Stück für Stück nach oben zog. Bald schon ging ihr Atem keuchend, aber sie gab nicht auf. Ashley blieb hilflos auf dem Boden zurück und sah ihr hinterher.
Nokori arbeitete sich schnell nach oben. Halb war sie überrascht über die Kraft, die in ihrem Körper wohnte. Einmal strich ein Suchscheinwerfer über die Wand. Unter ihr schnappte Ashley nach Luft und Nokori presste sich eng an die Wand. Sie war nah bei einer Ecke, wo ein Wachturm etwas aus der Mauer herausstand. Das Licht strich über sie, aber man entdeckte sie nicht.
Wenig später zog sie sich auf die Mauer und fiel auf einen erstaunlich breiten Wehrgang. Zwischen den dicken Betonmauern musste genug Platz sein, um mehrere Dinosaurier zu verstecken. Der Holzraum war mit Holz verschlossen und auf der anderen Seite führte eine neue, dicke Mauer in die Tiefe. Nokori huschte unauffällig über das knirschende Holz. Unter ihren Füßen schnatterten irgendwelche Tier.
Sie sah, dass sich Lichter näherten. Abgesehen von den bemannten Wachtürmen gab es auch noch Patrouillen, die den Wehrgang abliefen. Eilig und ihre schmerzenden Muskeln ignorierend kletterte Nokori auf ein großes Holztor, das die Betonwand verschloss. Sie vermutete, dass im Inneren der Mauer Käfige waren. Daher musste das Schnattern stammen.
Ein wenig atemlos ließ sie den Blick über die flache Ebene streifen, die sich vor ihr erstreckte. Zäune und Holzbarrikaden bildeten die Gehege für die Dinosaurier, aber die meisten liefen tatsächlich frei herum, grasten und tranken aus dem Fluss. Die offene Ebene, völlig ohne Bäume, Steine oder Unebenheiten, ließ Schwindel in Nokori aufsteigen. Ganz am Ende der Ebene trieben Boote im Wasser eines Flusses. Dieser war ebenfalls mit Zäunen versehen. Offenbar gab es auch Wasserwesen, die man zähmen konnte.
Nachdem die Patrouille vorbei war, kletterte Nokori an dem Tor herunter. Es waren keine großen Saurier in der Nähe. Sie hoffte, dass sie nicht über den Fluss fliehen müsste, obwohl es ihr auch vor einem neuerlichen Aufstieg graute. Leise schlich sie auf das große, verschachtelte Gebäude zu, das von Licht und Stimmengewirr summte. Gleich eine der ersten Türen schien zu einer großen Taverne zu führen, die gut besucht war. Gleich daneben fand Nokori eine Sattelkammer. Sie schlich durch die Dunkelheit, darauf bedacht, keine Geräusche zu machen. Sie achtete auch auf die Stimmen aus der Bar. Ob sie es hören würde, wenn jemand zur Tür ging?
Bald fand sie endlich eine Tür, hinter der ein dunkler Gang lag. Während die äußeren Wände aus Stein bestanden, folgte Innen Holz, das die bedrückende, militärische Atmosphäre etwas auflockerte. Nokori schlich weiter und spähte vorsichtig in die Seitentüren.
Als sie Stimmen hörte, versteckte sie sich schnell im nächsten Raum, der eine Art großer Speisesaal war. Auf dem Gang kamen Schritte näher.
„Da ist jetzt schon der dritte Tag, den ich die zweite Nachtschicht habe“, brummte ein Mann.
„Selbst schuld. Er zweifelt an deiner Treue“, meinte eine Frauenstimme.
„Kann ich was dafür, wenn wir sie einfach nicht sehen? Wer rechnet denn auch damit, dass es noch andere Menschen gibt?“
„Sei einfach froh, dass du nicht in den Keller gerufen wirst“, antwortete die Frau.
Die Stimmen entschwanden und Nokori wagte sich wieder auf den Flur.
Das Lager schlief zum größten Teil. Nokori fand eine Sporthalle und ein paar andere Räume, auch ein Chemielabor, bis sie endlich auf die Waffenkammer traf, nah beim scharf bewachten Eingang zum Gebäude.
Sie konnte hinein schleichen und fand bald, was zu suchen Thanatos ihr aufgetragen hatte. Ihre neue Errungenschaft auf dem Rücken huschte sie zurück, verstohlener, als es sonst ihre Art war. Sie durchquerte das große Gebäude, schlich an der Bar vorbei und über die freie Fläche mit den unzähligen Dinosauriern. In einem Käfig entdeckte sie mehrere große Spinnen und schlug einen großen Bogen. Die Drachenblut-Leute waren doch wahnsinnig!
Schließlich kletterte sie wieder am Tor hinauf. Keuchend zog sie sich nach oben, lauschte auf die Schritte auf dem Wehrgang – die Patrouillen waren sehr regelmäßig und folgten dicht aufeinander – dann huschte sie hinüber und kletterte auf der anderen Seite nach unten.
Sie schwitzte, als sie bei Ashley ankam. Die andere hatte ungeduldig gewartet und starrte sie jetzt mit großen Augen an. Es war nicht unbedingt Ehrfurcht, die Nokori nach ihrem gefährlichen Abenteuer eigentlich erwartet hätte. Vielmehr wirkte Ashley, als fürchte sie sich vor ihr.
„Deswegen hast du das getan?“
Sie hatte gesehen, was an einem dünnen Lederriemen über Nokoris Schulter hing. Sie nahm die Waffe in die Händen und wog das Gewehr dann prüfend. Sie grinste. „Ja. Thanatos will nicht, dass wir unbewaffnet sind.“
„Aber … warum dann nur eine Waffe?“, fragte Ashley verwirrt.
Nokori hängte sich das Gewehr wieder um. Gemeinsam kehrten sie der Mauer den Rücken und machten sich an den Weg zurück zu ihrer Gruppe.
„Weil ein einziges Gewehr ausreicht und sein Verlust nicht auffällt“, erklärte Nokori, während sie in einen langsamen Trab fiel. Sie sollten nicht länger als nötig in der Gegend bleiben.
Ashley sah aus, als hätte man ihr Vertrauen ausgenutzt.