Mikail blinzelte müde in das graue Licht des anbrechenden Tages. Er streckte sich.
„Wach auf!“, sagte eine Stimme in einem Tonfall, der deutlich machte, dass Mikail bereits auf einige Anweisungen dieser Art nicht reagiert hatte. Er öffnete die Augen und starrte auf Thanatos, der vor ihm in die Höhe wuchs, ein dunkler Schatten vor dem grauen Himmel über dem Sumpf.
Mikail war so schnell auf den Beinen, dass ihm schwindelig wurde. Er hatte Angst davor, was Thanatos ihm möglicherweise antun könnte. Doch der Mann knurrte nur: „Komm mit.“
Mikail stolperte hinter Thanatos aus ihrem behelfsmäßigen Unterschlupf. Auf dem Platz vor ihrer Behausung warteten Ashley und Nokori. Von den anderen war noch niemand wach.
„Ihr seid also zurück?“, sagte Mikail und rieb sich die Augen. Nokori nickte grinsend, aber Ashley schwieg und zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Mikail bekam das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Tatsächlich streckte Thanatos die Hand aus und Nokori reichte ihm etwas.
„Nein!“, keuchte Mikail auf und starrte auf den länglichen Gegenstand, der nun den Besitzer wechselte. Es war ein Gewehr, pechschwarz und weit fortgeschritten. Obwohl er sich kaum noch an ein vorheriges Leben erinnern konnte, wusste Mikail, dass er die Waffe kaum als primitiv abgestempelt hätte – obwohl man das vielleicht glauben könnte.
Mit einem fiesen Lächeln hielt Thanatos ihm die Waffe hin.
„Nein!“, sagte Mikail und schüttelte den Kopf. „Ich werde keine Waffen bauen!“
Er machte einen Schritt zurück, aber Nokori trat mit verschränkten Armen hinter ihn: „Wir brauchen aber Waffen. Wenn wir wieder angegriffen werden, müssen wir kämpfen können. Oder willst du riskieren, dass wir alle sterben?“
„Du verstehst das nicht“, sagte Mikail, der sich plötzlich eingekesselt fühlte. „Waffen führen nur zu immer mehr Leid. Wenn wir uns friedlich verhalten, lassen die anderen uns vielleicht in Ruhe!“
Nokori lachte trocken. „Du kennst Drachenblut nicht. Das sind wahre Krieger, und sie wollen die ganze Welt. Sie werden uns zerquetschen wie Fliegen.“
„Vielleicht nicht“, beharrte Mikail.
„Wir können uns ja friedlich verhalten, aber ich will trotzdem Waffen in der Hinterhand haben“, sagte Nokori herausfordernd. „Wir müssen sie ja nicht benutzen.“
Mikail hätte beinahe laut gelacht. Das war doch der pure Wahnsinn! Sah sie das nicht? Waffen würden immer benutzt werden.
Thanatos' schwere Hand landete auf seiner Schulter. „Du wirst diese Waffe nachbauen, und du wirst uns so viele davon machen, wie ich verlange. Du hast diesen Tag Zeit, um dir zu überlegen, was du brauchen wirst.“
Mikail konnte dem anderen Mann nicht in die Augen sehen. Er fühlte sich plötzlich hilflos. Er wollte nichts erschaffen, was ein Leben zerstören könnte.
Mit zitternden Händen nahm er die Waffe entgegen. Sie war kalt und schwer. Sein Herz schlug sofort schneller, während er der Spiegelung des Lichts auf dem polierten Metall folgte. Die Kälte fraß sich in seine Hände, arbeitete sich die Arme hinauf und erreichte sein Herz.
„Gut“, sagte er mit rauer Stimme und trottete zu dem Lager zurück.
Als es Zeit für das Frühstück wurde, erschien Thanatos' dunkler Schatten im Eingang zu ihrem Unterschlupf. Mikail hockte im Schneidersitz auf dem Boden und wendete die Waffe in den Händen. Das Ding war furchtbar schwer. Bisher hatte er nur den Griff abgenommen.
„Du kannst essen kommen“, erlaubte Thanatos gnädig. „Aber kein Wort über die Waffe.“
Mikail schlich dem Anführer hinterher und ließ sich neben Kassia auf den Boden fallen. Sie reichte ihm seine Portion Beeren und Fleisch. Wie jeden Tag jammerte die Gruppe über die fehlende Abwechslung in ihren Mahlzeiten und probierte immer neue Möglichkeiten aus, ihre Speisen zu kombinieren.
Mikail schwieg. Thanatos überschattete die ganze Gesellschaft von seinem erhöhten Sitzplatz auf einem Stein aus. Es war ein verregneter Tag, weshalb Foxy, die sich heute als Köchin angeboten hatte, auch ständig um ihr kleines Feuer kämpfte. Dichter Rauch stieg über ihrem Lager auf, höchstwahrscheinlich sehr verräterisch für alle feindlichen Augen.
„Was ist los?“, fragte Kassia in gedämpftem Tonfall.
„Hmm?“, machte Mikail und sah von seinem Fleisch auf, dass er kaum angerührt hatte.
„Was ist los mit dir? Du bist so still.“
Mikail rollte eine Beere zwischen den Fingern. „Ich bin nur müde. Hab schlecht geschlafen.“
Kassia nickte. „Du solltest ein Netz gegen diese Mücken bauen!“
Er schenkte ihr ein Lächeln, um sie zu beruhigen und knabberte dann lustlos an seinem Essen weiter. Er hatte keinen Appetit mehr.
Nach dem Frühstück ging er zurück ins Haus. Thanatos hatte allen erzählt, dass er an etwas Größerem arbeiten würde und nicht gestört werden sollte. Also blieb Mikail mit der Waffe allein, die ihn wie ein lebendiges Wesen anzustarren schien.
Er wich dem Blick des düsteren Laufs aus und griff nach den Steinen und Hölzern, die er als Hilfsmittel nutzte, um die Waffe auseinander zu schrauben. Es gab einen Lichtblick: Sie hatten bisher kein Metall gefunden, und es wäre sicherlich schwierig, das zu bearbeiten. Noch während Mikail darüber nachdachte, dass das von Vorteil für ihn wäre, hörte er Thanatos' Anweisung an die Sammler, nach Metall zu suchen.
Seufzend beugte sich Mikail über seine Arbeit, die Augen eng zusammengekniffen, weil es in der Hütte dunkel geworden war.
Wie war er nur hier gelandet?, schoss es ihm durch den Kopf. Er wünschte, ihm wären mehr als unscharfe Bilder von der Zeit geblieben, bevor er an diesem Ort gelandet war.
Er war sich ziemlich sicher, dass er eine Menge Leute zurückgelassen hatte. Doch in seinem Kopf existierten nur noch verschwommene Farben und ein paar geisterhafte Stimmen, die seinen Namen riefen. Er konnte sich nicht an Gesichter oder Geschichten erinnern.
Aber er wusste, dass er seine Heimat vermisste, sein Zuhause und seine Familie. Denn die gab es, daran bestand kein Zweifel. Und vielleicht könnte er eines Tages zurückkehren.
Selbst, wenn er sie vergessen hatte, sie hatten ihn bestimmt nicht vergessen. Und während er sich über die Waffe beugte und tat, was ihn so anwiderte, wünschte er sich unbedingt zurück.
Wie war er überhaupt hierhin gekommen? Und was war dieser Ort? Mikail war sich sicher, dass er eine Antwort auf diese Fragen brauchte.
Obwohl sie ihm vielleicht nicht gefallen würde.