Seine Füße sackten tief in den allgegenwärtigen Schlick ein. Henry fluchte gedämpft, obwohl er natürlich wusste, dass das unklug war. Nach einigen weiteren herzhaften Verwünschungen sah er sich um, ob ihn etwas gehört hatte. Halb wünschte er es sich, um endlich den verfluchten Sumpf zu verlassen.
Als Thanatos ihn mit der Aufgabe betraut hatte, eines der großen Krokodile aufzuspüren, war er noch stolz gewesen – er wäre beinahe geplatzt. Statt langweiliger Handwerkerei durfte er in den Sumpf ziehen, sich mit den Monstern messen und die Beute für die beiden Zähmer finden. Thanatos plante, das Riesenkrokodil ihrer kleinen Sammlung an Tieren hinzuzufügen.
Doch die ruhmvolle Aufgabe beinhaltete Mücken, Schlamm und eine Wanderung durch die drückende Hitze. Das hatte Henry nicht bedacht, als er begeistert zugesagt hatte. Und dann gab es da noch die Sache mit der ständigen Lebensgefahr. Immerhin wollte er ein großes, gefährliches Raubtier finden – ganz alleine in einem Sumpf, in dem alles Hungrige Übergröße besaß. Er hatte bereits ein paar Riesenschlangen gesehen, und dann gab es natürlich noch die Kröten und die Mücken. Selbst die Pfützen schienen größer, als sie sein sollten und Henry versank bis zu den Knien in Wassergruben, die flach aussahen.
Er drehte den Speer in den schwitzigen Händen. Nächstes Mal würde er zuhause bleiben.
Jetzt war es leider zu spät zum Umkehren. Erst, wenn die Sonne sank, dürfte er mit leeren Händen zurückkehren. Und die helle Scheibe stand hoch am Himmel. Henry seufzte schicksalsergeben. Er musste nur diesen Tag überleben.
Er bog um den nächsten Baum und stand einer länglichen, vorne gerundeten Schnauze gegenüber, aus der zu beiden Seiten gelbe Zähne ragten. Zwei kleine Augen blinzelten ihn überrascht und böse an.
Henry gab ein erschrockenes Geräusch von sich, das in etwa wie „Ack!“ klang. Der Speer fiel aus seinen Händen und landete klappernd auf dem Boden.
Das Krokodil klappte sein Maul langsam auf. Fauliger Atem überspülte Henry, warm und moderig. Er stolperte einen Schritt zurück und entkam dem ersten, trägen Angriff, als das Tier versuchte, ihn mit der Schnauze bewusstlos zu schlagen.
Endlich besann er sich, drehte sich um und floh.
Das Krokodil war erschreckend schnell. Er rannte ihm durch den Urwald hinterher und schien dabei trotz seiner Größe weniger Probleme mit den tiefen Schlammpfützen zu haben. Henry stolperte, rutschte und schlitterte über die Erde.
Thanatos hatte natürlich einen Plan gehabt, nach dem sie das Vieh fangen sollten. Henry sollte das Krokodil finden, Ashley würde eigentlich den Köder spielen und das Tier in eine Falle führen – eine Schlammgrube, auf deren Seiten die Zähmer und die Krieger warten würden. Sehr viele Codeworte für alle Situationen waren ausgetauscht worden, um den anderen mit einem einzigen Schrei zu verstehen zu geben, was vor sich ging und wo sie hinrennen mussten.
Henry kreischte laut und gab damit allen zu verstehen, dass die Aktion nach hinten losgegangen war und sie schnell zu ihm kommen sollten. Obwohl der Code so nicht abgesprochen worden war, rannte er nur wenig später beinahe in Nokori hinein, die Speer voraus aus einem Gebüsch gestürmt kam. Einen Beinahe-Tod später – die Spitze des Speers verfehlte ihn sehr knapp – lag Henry auf dem Bauch im Matsch und sah Thanatos über sich hinweg springen.
Die Speerspitzen trieben den gewaltigen Saurier ein Stück zurück, und wenig später erschienen Lucy und Galileo mit Beuteln voller Narcobeeren. Die Geschosse wurden dem Krokodil in das aufgesperrte Maul geschleudert.
Henry starrte mit offenem Mund darauf, wie das Krokodil die Säcke zerfetzte und ihren schwarzen Inhalt wütend hinunter schlang.
Doch es wurde nicht müde. Mit zwei Schlägen der Schnauze fegte es Thanatos und Nokori zur Seite, dann sah es Henry an, sperrte das Maul auf, und kam näher.
Im letzten Moment verdrehte das Tier doch die Augen und brach zusammen, die breite Spitze knapp vor Henrys Füßen. Er zitterte so stark, dass er sich nicht rühren konnte.
„Fleisch, los!“, befahl Lucy, die sich offenbar nicht aus der Ruhe bringen ließ. Eine Hand zog Henry auf die Beine. Galileo schleppte einen Weidenkorb mit Fleisch an. Lucy sperrte das Maul des gefällten Krokodils mit einem Speer auf und schob das erste Stück Fleisch hinein.
„Wir werden mehr Fleisch brauchen“, sagte Galileo.
„Die Sammler werden sich darum kümmern“, brummte Thanatos. „Nokori, Henry – ihr helft ihnen.“
„K-klar“, stotterte Henry und wollte sich auf wackeligen Beinen zum Gehen wenden.
„Warum muss ich mit sammeln?“, fragte Nokori laut. „Ich bin eine Kriegerin!“
Thanatos schnaubte. „Weil wir Fleisch brauchen und ich dich den Sammlern zugeteilt habe.“
Nokori verzog das Gesicht. „Lass mich das Krokodil mit bewachen! Falls es aufwacht.“
Thanatos überlegte einen Moment, dann zuckte er mit den Schultern und scheute nur Henry mit einer Handbewegung fort. Grinsend blieb Nokori stehen.
Henry verspürte einen Stich. Ein Mädchen wurde anerkannte Kriegerin, und er durfte Beeren pflücken? Nicht, dass er Nokori das nicht gönnte, aber sich selbst würde er auch etwas mehr Anerkennung gönnen. Hatte er nicht das Krokodil hergelockt?
Lautlos erschien Ashley an seiner Seite und trottete mit gesenktem Kopf neben ihm her. Sie sagte kein Wort, schien aber gewillt, sich mit ihm den Sammlern anzuschließen. Henry war nicht nach Reden. Wütend trat er einen kleinen Stein weg. Dann hob er den Kopf und sah sich um. Wo konnten Kassia und Foxy nur stecken?
Er fand die beiden wenig später und brummte nur ein paar erklärende Worte, bevor sie sich gemeinsam mit Oskar und der Kröte – man hatte sie Umbridge getauft – auf die Jagd. Bald hatten sie eine Menge Fleisch zusammen, größtenteils dank der Hilfe ihrer Saurierfreunde. Henry konnte nicht umhin, sich zu wundern, wie viel Fleisch das Krokodil wohl brauchen würde. Und wie viel es jagen könnte. Wenn sie es zähmten, wäre es eine mächtige Waffe.
Das Zähmen dauerte jedoch den ganzen Tag und mehrmals musste das Krokodil eilig mit Narcobeeren ruhig gestellt werden, als es aufzuwachen drohte.
Als es Abend wurde, kehrten sie alle zerschlagen und zerstochen in das Lager zurück, und zwar auf dem Rücken des gewaltigen Reptils. Erst, als sie an der Hütte ankamen, fragte er sich plötzlich, was Mikail den ganzen Tag getan hatte, und warum er als einziger nicht an der Jagd beteiligt gewesen war.