Nokori kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Es war ihre Aufgabe gewesen, auf die Sammler aufzupassen. Jetzt fühlte es sich an, als wäre es ihre Schuld, dass Foxy verschwunden war.
Nokori hoffte nur, dass dem blonden Mädchen nichts zustieß.
Die alte Wunde in ihrem Bauch schmerzte nun wieder, während sie sich durch den Urwald kämpfte.
„Foxy!“, rief sie leise.
Nicht weit entfernt konnte sie Kassia rufen hören. Sie waren zusammen losgezogen, hatten sich dann aber aufgeteilt, damit sie eine bessere Chance hatten, Foxy zu finden. Nokori hatte Kassia eingeschärft, in regelmäßigen Abständen nach Foxy zu rufen – auch, damit sie einander nicht verloren.
Es war stockdunkel. Die Bäume um sie herum raschelten laut. Der Wind frischte auf, während die Nacht voranging. Nokori fror und zitterte. Sie war so müde, dass selbst die dunklen Blätter vor dem helleren Sternenhimmel vor ihren Augen verschwammen. Sie war seit Sonnenaufgang auf den Beinen, bald 24 Stunden lang. Der Schlafmangel forderte seinen Tribut.
„Foxy!“, rief sie und unterdrückte danach ein Gähnen. Alle Sorgen zusammen konnten sie trotzdem nicht mehr wach halten. Sie waren seit Stunden auf der Suche.
Es dauerte eine Weile, bis Nokori merkte, dass sie Kassia nicht gehört hatte. Sie blieb stehen und drehte lauschend den Kopf.
„Kassia?“, fragte sie halblaut.
Immer noch kam keine Antwort.
„Verdammt!“, zischte sie und rannte los, den Speer fest in der Hand.
„Kassia!“, brüllte Nokori jetzt aus vollen Lungen.
„Nokori? Noko, bist du das?“, kam eine schwache Stimme von vor ihr.
Nokori bremste sich aus. „Kassia! Warum sagst du nichts?“ Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Vermutlich hatte sie sich gerade zur Närrin gemacht.
„Ich bin in irgendwas gefallen“, kam Kassias Antwort. Diesmal hörte Nokori den unterdrückten Schmerz in Kassias Stimme und ihre Wut verflog auf der Stelle.
„Wo bist du?“
„Hier. Da ist so eine Grube oder so.“
„Bist du verletzt?“ Nokori spähte aufmerksam nach vorne. Tatsächlich konnte sie einen dunkleren Fleck am Boden ausmachen, wo die Grube sein musste. Von dort kam das Geräusch raschelnder Kleidung.
„Nein, alles gut – Aua!“, sagte Kassia.
„Was?“, fragte Nokori alarmiert. Sie tastete mit dem Speer den Boden vor sich ab, um nicht ebenfalls in das Loch zu fallen.
„Mein Knöchel“, sagte Kassia nach einer Weile. „Ich bin umgeknickt oder so.“
Nokori fand den Rand der Grube und ließ sich auf den Bauch nieder. „Kannst du gehen?“
„Humpeln“, sagte Kassia. Ihre Stimme klang zunehmend verzweifelt. Sie musste furchtbare Angst haben.
Nokori streckte aus dem Liegen den Speer aus und traf bald auf Widerstand. „Bist du das?“
„Ähm. Nein. Was machst du?“
„Dann habe ich den Boden gefunden. So tief ist die Grube überhaupt nicht!“, meinte Nokori zuversichtlich. In Wahrheit wäre es ziemlich schwer, ohne Hilfe heraus zu kommen. Der Rand der Grube musste mindestens auf Schulterhöhe sein, wenn sie stehen würde.
„Kannst du zu mir kommen?“, fragte Nokori.
Statt einer Antwort kamen nur die Geräusche von Bewegung und gepresster Atem von Kassia. Unvermittelt berührte etwas Nokoris herabhängenden Arm. Obwohl die Kriegerin damit gerechnet hatte, dass Kassia zu ihr kam, erschrak sie zu Tode.
„Komm, ich hab dich“, sagte sie nach einer Schrecksekunde und fasste Kassias Arm. Die Sammlerin grub ihre Finger in Nokoris Oberarm. Indem sie die Füße im Erdboden verankerte, konnte Nokori an Kassia ziehen, während diese aus der Grube kletterte. Immer wieder rutschten Kassias Füße auf dem weichen Erdwall ab.
Doch Nokori gab nicht auf, so sehr ihre Muskeln auch protestierten. Wenig später hatte sie Kassia neben sich gezogen und beide lagen eine Weile keuchend auf dem Rücken. Über ihnen zogen die Sterne dahin.
„Ich glaube, wir haben für heute lange genug gesucht“, sagte Nokori dann endlich und stand auf.
„Bist du sicher? Was ist mit Foxy?“, fragte Kassia, während Nokori ihr auf die Füße half.
„Vielleicht hat jemand anderes sie schon gefunden. Komm, ich bringe dich ins Lager zurück.“ Nokori schlang sich Kassias Arm um die Schulter. Tatsächlich konnte die Sammlerin nur humpeln. Nokori stützte sie den ganzen Weg zum Lager zurück, wo sie sich erschöpft neben die erkalteten Reste des Lagerfeuers fallen ließen.
„Bleib hier sitzen“, sagte Nokori. Sie wusste, wo die überflüssigen Stoffstreifen waren. Einen davon tauchte sie in das Wasser am Rand ihrer kleinen Insel und versuchte daraus einen behelfsmäßigen Verband für Kassias Knöchel zu formen.
„Brr, ist das kalt!“, sagte Kassia und zuckte zusammen.
Nokori lachte trocken. „Kälte soll ja auch gut sein! Warum ist eigentlich die Tür der Hütte offen?“
„Was?“, fragte Kassia überrumpelt. „Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Du bist eine schlechte Lügnerin“, meinte Nokori. „Ich bin eben an der Hütte vorbei gekommen. Und du musstest doch noch dringend deine Schuhe neu schnüren, als wir losgegangen sind. Du hast Mikail frei gelassen.“
Kassia schwieg eine Weile. „Erzählst du es Thanatos?“
„Natürlich“, sagte Nokori. „Er ist immer noch unser Anführer. Mikail war unsere einzige Möglichkeit, uns zu verteidigen!“
„Er wird nicht abhauen!“, erwiderte Kassia plötzlich heftig. „Rede nicht so, als würde er das tun!“
Nokori sah auf. Im schwachen Mondlicht konnte sie Kassias Gesicht kaum erkennen.
„Bist du dir da sicher? Dass er bleiben wird?“, fragte sie die Sammlerin. „Hier war er ein Gefangener. Warum sollte er nicht fliehen?“
Darauf erwiderte Kassia nichts mehr. Nokori zog ihren Verband zusammen, strammer, als es nötig gewesen wäre. Dann setzte sie sich neben Kassia.
Die Sonne ging auf, und mit ihrem Licht kamen die anderen zurück.